Teile diesen Beitrag "Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Der Rat eines Skandalautors"
1958 war Hunter S. Thompson gerade 22 Jahre alt, als sein Freund Hume Logan ihn um Rat bat. Seine Frage: Was zur Hölle sollte er nur mit seinem Leben fangen?
Thompson, zu dieser Zeit gerade bei der US Airforce und etliche Jahre entfernt von seinem späteren Weltruhm als einer der Autoren des 20. Jahrhunderts (Erfindung des Gonzo-Journalismus / Bücher wie Fear and Loathing in Las Vegas oder Hell’s Angels), antwortete mit einem Brief, der mich als Leser trifft wie zwei Pfeile – einer ins Herz, einer ins Hirn; ein Gigant von einem Brief.
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Sich dessen bewusst, dass ein solcher Rat so gut wie unmöglich ist, beginnt Thompson so:
Einem Menschen Rat zu geben, der fragt, was er mit seinem Leben anstellen soll, setzt etwas voraus, das der Egomanie sehr nahe kommt. Sich aufzumachen, einen Menschen auf das rechte und höchste Ziel zu verweisen – mit einem zitternden Finger in die PASSENDE Richtung zu zeigen, ist etwas, das allein ein Narr sich zumuten würde.
Trotzdem will er Hume, nachdem dieser ihn so aufrichtig gebeten hatte, seine persönliche Sicht auf die Dinge mitgeben und fährt fort mit der Frage aller Fragen:
Ja, das IST die Frage: sich mit der Strömung treiben lassen oder einem Ziel entgegenschwimmen. Eine Entscheidung, die wir alle einmal in unserem Leben treffen müssen, ob bewusst oder unbewusst. Wie wenige Menschen das begreifen! Denk an irgendeine Entscheidung, die Du getroffen hast und die für Deine Zukunft von Tragweite war: Ich mag mich irren, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich nicht um eine wie auch immer indirekte Entscheidung zwischen den Alternativen gehandelt hat, von denen ich sprach: dem Treiben oder dem Schwimmen.
Er gibt zu, dass es verlockend ist, sich treiben zu lassen auf dem Weg des geringsten Widerstandes, und schreibt dann:
Die Antwort – und in gewisser Weise die Tragödie unseres Lebens – besteht darin, dass wir danach streben, das Ziel zu verstehen und nicht den Menschen. Wir setzen uns ein Ziel, das bestimmte Anforderungen an uns stellt. Und wir erfüllen sie.
Wir stellen uns damit allerdings auf die Anforderungen des Konzepts ein, das gar nicht gültig sein KANN. Sagen wir, Du wolltest Feuerwehrmann werden, als Du jung warst. Ich bin ziemlich sicher, dass Du das jetzt nicht mehr willst. Und warum nicht? Nicht der Feuerwehrmann hat sich geändert, sondern Du. Dein Blickwinkel hat sich mit Deinen Erfahrungen geändert.
Es ist doch wohl töricht, unser Leben an den Anforderungen eines Ziels zu orientieren, das wir jeden Tag aus anderer Perspektive sehen. Oder? Wie können wir so hoffen, etwas anderes zustande zu bringen als galoppierenden Wahnsinn?
Die Antwort sollte sich daher überhaupt nicht mit Zielen befassen oder zumindest nicht mit konkreten Zielen. Berge von Papier wären nötig, um dieses Thema erschöpfend zu bearbeiten. Gott weiß, wie viele Bücher zum Thema „Sinn des Lebens“ und dergleichen geschrieben worden sind. Es hat wenig Sinn, wenn ich versuche, eine Antwort auf den sprichwörtlichen Punkt zu bringen, denn ich bin der Erste, der zugibt, dass ihm jede Qualifikation fehlt, den Sinn des Lebens auf einen oder zwei Absätze zu reduzieren.
Okay, in konkreten Zielen können wir ihm zufolge also keine Bestimmung finden, allein schon deshalb, weil wir uns so stark verändern und damit unser Blick und unsere Lust auf die Ziele. Aber wonach sonst können wir suchen?
Streben wir nicht danach, Feuerwehrleute zu werden, und streben wir auch nicht danach, Banker zu werden, Polizisten oder Ärzte. STREBEN WIR DANACH, WIR SELBST ZU WERDEN.
Doch versteh mich richtig. Ich meine nicht, dass wir keine Feuerwehrleute, keine Banker oder Ärzte WERDEN können – aber wir müssen das Ziel auf das Individuum abstimmen. In jedem Menschen verbinden sich Erbgut und Umwelteinflüsse miteinander, um ein Geschöpf mit bestimmten Fähigkeiten und Bedürfnissen entstehen zu lassen – dazu gehört auch der tief verwurzelte Drang, so zu agieren, dass sich das Leben als SINNVOLL erweist. Ein Mensch muss etwas SEIN; er muss Bedeutung haben.
So wie ich es sehe, stellt sich das Schema ungefähr folgendermaßen dar: Der Mensch muss einen Weg wählen, auf dem seine FÄHIGKEITEN mit maximaler Effektivität auf die Befriedigung seiner BEDÜRFNISSE einwirken. Dadurch erfüllt er ein Verlangen (sich eine Identität zu schaffen, indem er innerhalb eines festgelegten Rahmens auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet), vermeidet es, sein Potenzial zu verschwenden (indem er einen Weg findet, der seiner Selbstverwirklichung keine Grenzen setzt) und erspart sich auch den Schrecken, mit ansehen zu müssen, wie sein Ziel verblasst oder seine Attraktivität verliert, wenn er sich ihm nähert (statt sich selbst gefügig zu machen und den Anforderungen dessen zu entsprechen, wonach er strebt, hat er sein Ziel gefügig gemacht, damit es sich seinen eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen anpasst).
Kurz gesagt: Er hat sein Leben nicht darauf ausgerichtet, ein vorbestimmtes Ziel zu erreichen, sondern sich WISSENTLICH für eine Lebensgestaltung entschieden, an der er seine Freude haben wird. Das Ziel ist absolut zweitrangig. Es ist das Hinwirken auf das Ziel. Und es muss wohl nicht darauf hingewiesen werden, dass ein Mensch dieses Hinwirken nach einem Muster seiner eigenen Wahl gestalten MUSS. Ließe er nämlich einen anderen Menschen seine ureigenen Ziele bestimmen, verzichtete er auf einen der bedeutsamsten Aspekte seines Lebens – den definitiven Willensakt, der den Menschen zum Individuum macht.
Dem Freund, der bis dahin „ein relativ eng begrenztes Leben geführt hat, eine eher vertikale als horizontale Existenz“ und sich eingeschränkt fühlt, rät Thompson:
Ein Mensch, der in seinen ENTSCHEIDUNGEN zaudert, wird unweigerlich erleben, dass diese von den Umständen getroffen werden.
Wenn Du Dich jetzt also unter die Ernüchterten einreihst, bleibt Dir keine Wahl, als die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind … oder Du begibst Dich ernsthaft auf die Suche nach etwas anderem. Aber hüte Dich davor, nach Zielen zu suchen. Halte Ausschau nach einer Lebensgestaltung. Entscheide Dich, wie Du leben möchtest und finde dann heraus, was Du INNERHALB dieser Lebensgestaltung tun kannst, um Deinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Aber Du sagst: „Ich weiß nicht, wohin ich schauen soll, ich weiß nicht, wonach ich suchen soll.“ Das ist die Crux. Lohnt es sich, das aufzugeben, was ich habe, um nach etwas anderem Ausschau zu halten? Ich weiß nicht – lohnt es sich? Wer außer Dir selbst kann diese Entscheidung treffen? Aber die ENTSCHEIDUNG, AUSSCHAU ZU HALTEN, bringt Dich bereits einen großen Schritt näher an die Bereitschaft, eine Wahl zu treffen.
Zum Schluss erinnert der Autor an das, was er am Anfang geschrieben hat: dass der Rat eines anderen zwangsläufig subjektiv ist, „jeder von uns muss sich sein eigenes Credo schaffen“. Eins jedoch steht für ihn fest:
Nehmen wir einmal an, Du glaubst, die Wahl zu haben, auf einem von acht Pfaden zu wandern. Und nehmen wir darüber hinaus auch an, Du hältst keinen der acht Pfade für wirklich sinnvoll. DANN – und jetzt kommen wir zum Kern all dessen, was ich gesagt habe – MUSST DU EINEN NEUNTEN PFAD FINDEN.
Es ist nicht notwendig, die Wahlmöglichkeiten zu akzeptieren, die Dir von dem Leben angeboten werden, das Du kennst. Und das ist bei weitem nicht alles – niemand MUSS sein Leben lang etwas tun, das er nicht tun will.
Amen.
Dazu passen auch Laotses „Sei wie der hässliche alte Baum“ und Senecas „Ein bedeutsames Leben braucht keine Karriere“. Und wenn Du wissen willst, ob Du all diese Ratschläge überhaupt wichtig sind für Dich, dann siehe: 5 Anzeichen, dass Du nicht DEIN Leben lebst.
Photo (oben): Thomas Leuthard
wow, das ist schon krass… 1958 schreibt er, dass es schon zu viele Bücher über den Sinn des Lebens gibt, was würde er wohl heute, 2016, sagen? Wurden nicht in den, sagen wir, letzten 20 Jahren, noch massig Bücher dazu geschrieben? Gefühlt seit es „The secret“ gibt, oder?
Ansonsten sehr sehr coole Ansätze und Gedanken, die man gerne noch in sich gären lassen darf, danke, dass du es mit uns teilst….
Hey Ildiko,
die große Self-Help-Welle ging, glaube ich, mit Napoleon Hills Think And Grow Rich los (1937 erschienen) – aber gerade das Thema SINN war eines der liebsten vieler alter Philosophen. Die Esoterik, aus der sich auch The Secret speist, bzw. „der Supermarkt der Esoterik“ wurde vielleicht so in den 70ern massentauglich – und ich seh’s wie Du, seit einigen Jahren auf ein neues kommerzielles Level gehoben.
Liebe Grüße Tim
Hahaha… du hast echt immer die besten Leute auf Lager. Köstlich. Fear and Loathing in Las Vegas…. haaaaaammer Film.
Ja, Ratschläge zur passenden Lebensrichtung, davon lebt eine ganze Branche. Und das nicht mit schlechten Umsätzen. Und wer jetzt denkt, ich meine die Branche der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung? Neeee! Klar, da gibt es auch die ein oder anderen Ratschläge. Vielleicht auch sehr viele Ratschläge in Bezug auf Lebensweise. Aber ich meine die Branche der Kirchen. Deren Lebensregeln und Ansichten sind ja schon teilweise ziemlich hart, anmaßend.
Ich glaube, die Frage nach „Treiben lassen“ oder „dem Ziel entgegen schwimmen“ bist du hier auch schon mal auf den Grund gegangen, in einem deiner Artikel. Find ich immer wieder ein sehr interessantes Thema und natürlich auch eine große Frage des Lebens. Vielleicht jedoch auch einfach nur eine Frage der individuellen Sichtweise auf eine einzelne Herausforderung. Who knows?
Sehr schön auch, wie Hunter auf die Entwicklung der Persönlichkeit eingeht… dass sich nicht „der Feuerwehrmann“ geändernt hat, sondern der Blickwinkel mit seinen Erfahrungen.
Schon auch seine Aussage, dass „Berge von Papieren“ nötig wären, um dieses Thema erschöpfend zu erfahren. Viel zu leicht klingt es dem Mund manch eines Coachs oder Seminaranbieter.
Und ja, STREBEN WIR DANACH, WIR SELBST ZU WERDEN! WORD!!!
Hammer Beitrag.
Hey Michel,
danke, danke!
Das Treibenlassen vs Schwimmen könnte auch eine Frage der Lebensphase sein. Manchmal wachsen neue Ideen einfach still in einem, ohne dass man sich dessen bewusst ist, und erst wenn diese Ideen reif genug sind, gewinnen wir eine klare Vorstellung von einem möglichen Ziel.
Liebe Grüße
Tim
Wow, ich habe Thompson bisher nicht gelesen, werde das nach diesen Worten aber gleich nachholen.
„Ein Mensch, der in seinen ENTSCHEIDUNGEN zaudert, wird unweigerlich erleben, dass diese von den Umständen getroffen werden.“ … wie wahr, wie wahr.
Merci für diesen nachdenklich machenden und gleichzeitig inspirierenden Beitrag.
Hey Jana,
ich kann Dir zum Einstieg empfehlen: Rum Diary sowie Der Fluch des Lono.
Liebe Grüße
Tim
Ja, über den Sinn des Lebens wurde eigentlich immer schon geschrieben und nachgedacht. Der „King of Sinn“ ist für mich Viktor Frankl. Mit seinen Gedanken kann ich bis heute – trotz boomendem Lebensratgebermarkt – am meisten anfangen. Sein Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ wurde 1946 geschrieben. Absolute Leseempfehlung für Sinnsuchende.
Hi Veronika,
Frankl finde ich auch sehr empfehlenswert. Dabei geht es auch darum, dass wir Sinn in unserem Leben MACHEN sollten, ihn nicht nur „suchen“, sondern bewusst gestalten.
Liebe Grüße
Tim
Das sind erfrischende Gedanken, finde ich. Interessant finde ich auch, wie der Autor das Thema einkreist, sich einem Ziel annähert, den Leser quasi mit auf den Weg SEINER Gedanken zum Sinn des Lebens nimmt. Das Ziel kann natürlich nicht erreicht werden. Denn dann wäre der SINN des Lebens erklärt, was uns nicht möglich ist. Man könnte vielleicht sagen, Sinn und Ziel sind der Weg.
Am Einkreisen erkennen wir aber, wie ich meine, eine Richtung. Sie führt weg von einer Art Plan für das Leben. Das Leben selbst kennt vielleicht einen Plan, den wir aber nicht wirklich erfassen. Und sie führt hin zum Leben IN uns. Entscheidungen sind wichtig, denn sie erlauben Schritte. Doch gelten sie immer nur für begrenzte Zeit.
Und siehe da. Auf dem Weg könnte mir klar werden: mein Leben hat Sinn. Ich weiss es einfach. Aber ich kann es nicht beschreiben mit Worten. Ich kann nur Eindrücke des Augenblickes vermitteln und das einkreisen, was ich in mir spüre.
Hi Richard,
da hast Du mal wieder genau die (für mich) richtigen Worte gefunden, Danke für Deinen Kommentar!
Von diesem Einkreisen schreibt auch David Deida sehr schön (weißt Du wahrscheinlich), in „Way of the superior man“.
Liebe Grüße! Tim
Das ist ein wirklich interessanter Ansatz, vor allem weil sich mein Leben nach der Trennung von meinem Partner nach über 9 Jahren Beziehung gerade neu sortiert.
Und ich versuche in alle Richtungen offen zu sein.
Auch mein Arbeitsplatz wird sich jetzt verändern.
Kleiner Tippfehler im Text:
Sich ANZUMACHEN, einen Menschen auf das rechte und höchste Ziel zu verweisen
Merci Tanya, den Fehler hab ich gleich mal ausgebessert.
Meinst Du, Dein Leben sortiert sich neu oder Du sortierst es eher neu, nutzt den Umbruch im Privaten bewusst für eine Veränderung im beruflichen?
Liebe Grüße Tim
„Halte Ausschau nach einer Lebensgestaltung. Entscheide Dich, wie Du leben möchtest und finde dann heraus, was Du INNERHALB dieser Lebensgestaltung tun kannst, um Deinen Lebensunterhalt zu verdienen.“
bäm. schlag ins Gesicht.
ich muss mir mal kurz ein paar Gedanken notieren.
Danke Tim für diesen Beitrag – ich bin heute auf deine Site gestoßen und fühle mich hier pudelwohl. Mach so weiter!
Lieben Gruß
Hanna
Hallo Tim,
toller Beitrag!!!
Ich verfolge Deine Seite schon etwas länger und Du bringst mich immer wieder zum Nachdenken, Umdenken und Umsetzen (letzteres versuche ich jedenfalls…) 😉
Deine Beiträge sind nicht zu lang und ich mag Deinen Humor, der ausdrückt, das Leben und sich nicht immer allzu ernst zu nehmen.
Alles Liebe,
Antonia
Super Beitrag- weiter so Timm…
[…] der Hand, Zeit mit unseren Kindern, Zeit für Stille, Zeit für unsere Gefühle und für die Frage, was wir mit unserem Leben noch anfangen wollen, Zeit für unsere […]
[…] „Streben wir nicht danach, Feuerwehrleute zu werden, und streben wir auch nicht danach, Banker zu werden, Polizisten oder Ärzte. Streben wir danach, wir selbst zu werden. Der Mensch muss einen Weg wählen, auf dem seine Fähigkeiten mit maximaler Effektivität auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse einwirken“, rät der Skandalautor Hunter S. Thompson. […]