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Das Leben verlangt uns einiges ab. Vieles, das wir uns wünschen, tritt nie ein. Anderes, das wir uns nicht wünschen, tritt ein, schlägt auf uns ein, verändert uns. So sehr sich unsere Geschichten unterscheiden, gibt es dennoch Muster. Bestimmte Herausforderungen, mit denen wir alle in den einzelnen Lebensabschnitten konfrontiert werden.

Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson nennt acht solcher Phasen und Herausforderungen in seinem „Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung“ (anders als bei Freud haben sie nicht alle mit Penisen und Vaginas zu tun). Wir durchlaufen sie in einem Wald aus eigenen Bedürfnissen, unseren Genen und der sozialen Umwelt.

Die Phasen bauen aufeinander auf. Jede von ihnen enthält eine Krise (=Chance). Bewältigen wir sie gut, entwickeln wir uns gesund weiter, sind gestärkt und frei für die nächste Stufe. Gelingt uns das nicht, bleiben je nach Phase Defizite zurück, die wir auf dem weiteren Weg wie eine übervolle, schwere Windel hinter uns herziehen: ein Mangel an Vertrauen in die Welt oder die Menschen oder uns selbst. Starke Schuldgefühle. Verlustängste. Schlimmstenfalls schleppen wir sie mit bis ins Grab.

Das Modell lässt uns die eigene Geschichte besser verstehen und die Schwierigkeiten, die uns manches vielleicht bereitet. Kann uns helfen, uns besser zu akzeptieren und kann uns akzeptieren lassen, wenn wir uns helfen lassen sollten.

1. Ur-Vertrauen oder Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)

„Ich bin, was man mir gibt.“

Wir brauchen viel, wenn wir auf die Welt kommen, und wir brauchen es dringend. Mutters Brust. Körperliche Nähe. Sicherheit. Geborgenheit.

Wer das bekommt, lernt: ich darf vertrauen, es kommt jemand, wenn ich bedürftig bin. Ich bin okay und die Welt ist ein guter Ort für mich.

Wem das verweigert wird oder nicht gegeben werden kann, lernt: ich bin hilflos, ausgeliefert, kann meine Umwelt nicht beeinflussen. Das Gefühl, nach Nahrung oder Liebe hungern zu müssen, bleibt uns dann in den Knochen stecken. Später neigen wir so zu innerer Leere und Einsamkeit, Depression, Bedrohtfühlen, dem Drang nach immer neuen Reizen, einem Misstrauen gegenüber allem und jedem, oder dem starken Wunsch abhängig zu sein oder abhängig zu machen.

2. Autonomie oder Scham und Zweifel (2. bis 3. Lebensjahr)

„Ich bin, was ich will.“

Wir werden größer, können die Welt immer eigenständiger erkunden.

Unterstützen und vertrauen die Eltern uns dabei, lernen wir: ich darf mich ausprobieren, meinem Willen folgen und Dinge tun, ohne die Liebe und Geborgenheit aufs Spiel zu setzen. Stolz sind wir, weil wir die Abhängigkeit verringern und die Bezugspersonen entlasten können. Und äußern unser Selbstbewusstsein auch mal mit Trotz.

Viele von uns werden dabei jedoch eingeschränkt, dafür kritisiert und mit Liebesentzug bestraft, wenn die Eltern „ihr“ Kind klein und handzahm und funktionierend haben wollen, nicht als Individuum. Dann glauben wir, unsere Bedürfnisse seien falsch und schmutzig, mit uns würde etwas ganz und gar nicht stimmen. Wir schämen uns für normale Gedanken und Gefühle und Wünsche, als hätten wir einen Hund angezündet oder eine Leiche im Tiefkühlfach liegen. Später neigen wir zu zwanghaften Eigenschaften, werden übertrieben kleinlich, ordentlich, pünktlich, fleißig. Wienern die Wohnung wie verrückt, bis in die letzten Winkel, oder waschen uns die Hände achtzig Mal am Tag. Kritisieren uns hart, zweifeln an uns, und streben nach Perfektion, um bloß nichts falsch zu machen. Das kann ebenfalls passieren, wenn wir von den Eltern überfordert werden.

„Wie man Sorgen, Stress und Selbstzweifel loslässt“

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3. Initiative oder Schuldgefühl (4. bis 6. Lebensjahr)

„Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann.“

Noch mehr Autonomie und Eigeninitiative. Kindergarten. Ablösung von der Mutter. Ein Gefühl für soziale Rollen entsteht. Unser Gewissen bildet sich aus. Wir können unser Verhalten selbst besser einschätzen, müssen dafür nicht erst erwischt werden.

Werden wir darin bestärkt, ist alles gut. Dann wachsen wir. Andernfalls wächst ein Schuldgefühl in uns: böse, böse Wünsche, schlechtes, schlechtes Ich, ganz grundsätzlich. Wir spalten Bedürfnisse und Triebe in uns ab und schränken uns oft ein Leben lang ein, gestalten unsere Zeit nicht nach dem, was uns wichtig ist und gut tut. Fühlen uns minderwertig oder kompensieren über, indem wir ständig initiativ sein wollen, uns für Leistungen bis zum Herztod abrackern.

4. Kompetenz oder Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)

„Ich bin, was ich lerne.“

Wie funktionieren die Dinge?, fragen wir uns und beobachten, nehmen teil, machen mit. Wir wollen, dass man uns vieles erklärt und zeigt, und wollen auch mit anderen zusammenarbeiten, etwas Nützliches tun, Teil der Erwachsenenwelt werden.

Läuft alles gut, blüht gesunder Eifer in uns.

Werden wir überfordert oder überschätzt, oder überschätzen wir uns selbst, scheitern wir und empfinden uns als dumm. Werden wir unterschätzt, sind wir gelangweilt und entwickeln wenig Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Werden wir in unserem Drang gehindert, nehmen wir uns als störend und überflüssig wahr. Als unzulängliche große Babys, die nichts auf die Reihe bekommen. Die Folgen: Minderwertigkeitsgefühle, Angst vor Arbeit und Versagen, oder aber übermäßiger Leistungswille zur Kompensation bis hin zur Versessenheit darauf, unsere „Pflichten zu erfüllen“ und immer wieder beweisen zu wollen, dass wir ein Recht aufs Dasein haben, wertvoll sind.

5. Identitätsfindung oder Identitätsverwirrung und Ablehnung (12. bis 18. Lebensjahr / Jugend)

„Ich bin, was ich bin.“

Vorbei die Kindheit. Verunsichert durch die Veränderungen des Körpers. Angekommen bei der Frage, wer wir sind und wie wir in die Gesellschaft passen. Auf der Suche nach unserer Identität probieren wir neue Rollen aus, auch sexuelle, schließen uns Gruppen an und trennen uns wieder, und orientieren uns stark daran, wie uns die Außenwelt wahrnimmt.

Dabei finden wir entweder eine Antwort – eine Identitität, von der wir glauben, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung ungefähr zusammenpassen, und festigen uns. Lernen zudem, treu sein zu können, uns und anderen Menschen gegenüber.

Andernfalls erleben wir uns als lose Bruchstücke. Bleiben verwirrt. Wechseln unsere Rollen ständig oder nehmen dauerhaft eine rebellische Rolle an, gegen die Eltern, gegen die Gesellschaft. Zum Beispiel als drogensüchtige Punks oder als Hippies, die ohne jegliche Struktur in den Tag hinein leben, ihre Haare rauchen und ihre Fußnägel essen. Ewige Pubertät droht, wieder und wieder vorschnelle Begeisterung und Unruhe, die uns umtreibt wie der Teufel.

Auch nicht gut: wenn wir die Rolle zu fest surren. Das kann uns starr an den eigenen Vorstellungen über uns selbst kleben oder zu Nazis werden lassen, die jeden hassen, der eine andere Hautfarbe hat, oder der seinen Rasen nicht so schön akkurat mit der Nagelschere schneidet oder der die Spritze nach Benutzung nicht fein sauber macht.

6. Intimität und Gemeinschaft oder Isolierung (18. bis 30. Lebensjahr / frühes Erwachsenenalter)

„Ich bin, was ich liebe. / Wir sind, was wir lieben.“

Die anderen werden immer wichtiger. Die Sexualität und die Liebe gewinnen an Bedeutung, doch auch die Freundschaft.

Der Weg führt in dieser Phase vom Ich zum Wir.

Wer dort ankommt, ohne sich selbst aufzugeben, reift sexuell, gefühlsmäßig und moralisch. Kann sein Leben gemeinsam mit anderen verbringen, trotz aller Unterschiede und Konflikte.

Wessen Kontaktversuche ins Nichts laufen, der zieht sich in die Isolation zurück. Leugnet womöglich, dass er gern in den Arm genommen werden würde, dass er Nähe braucht und verliert sich später entweder in Einzelgängertum, kalten Karrieren und Hotelzimmer-Einsamkeit, oder aber er verliert sich selbst in seinem Wunsch, mit einem Partner zu verschmelzen und sich dafür notfalls selbst aufzuopfern.

7. Schaffenskraft oder Stagnation und Selbstbezogenheit (30. Bis 50. Lebensjahr / mittleres Erwachsenenalter)

„Ich bin, was ich zu geben bereit bin.“

In dieser Phase rückt das Geben in den Mittelpunkt. Eine Familie gründen. Eigene Kinder zeugen und großziehen. Der Gesellschaft echten Nutzen stiften. Die Zukunft gestalten.

Gelingt uns das, lernen wir zu geben, ohne dabei auszubluten.

Schaffen wir das nicht, weil unsere Anstrengungen zu nichts als Enttäuschungen führen, unsere Fürsorge ohne jegliches Echo verhallt, dann neigen wir zum Rückzug auf uns selbst, auf unsere Wünsche, unseren Genuss, unseren materiellen Besitz. Die Zukunftaussicht bleibt trüb, die Weile lang, tiefergehender Sinn Fehlanzeige. Ebenso möglich: dass wir zu viel geben, uns selbst aus den Augen verlieren, oder die eigenen Kinder überbemuttern /-vatern.

8. Integrität vs. Verzweiflung (50. bis 122. Lebensjahr, reifes Erwachsenenalter)

„Ich bin, was ich mir angeeignet habe.“

Nach dem Aufstieg … der Abstieg. Die Schwerkraft gewinnt an Macht, an den Organen nagt die Zeit, ohne Job bröckeln Anerkennung und Struktur, die Musik wird leiser, die Zeit vergeht sowohl immer schneller als auch gar nicht mehr, der Tod lauert irgendwo, und das Irgendwo rückt näher und näher.

Lief und läuft es gut, sind wir ausgerüstet mit dem Glauben: bis hierhin hab ich alles geschafft, den Rest schaffe ich auch noch. Ein Gefühl von Ganzheit, eine grundsätzliche Zufriedenheit erfüllt uns. Wir können das Altern annehmen.

Sonst reißen uns Verzweiflung und Angst in den Abgrund. Kann auch sein, dass wir uns verachten, wenn wir mit Reue auf einen großen Zeitklumpen ungelebten oder unerfüllend gelebten Lebens zurückschauen müssen.

(Zum Zeitpunkt dieses Textes ist der älteste lebende Mensch eine 122jährige Vietnamesin. Ihr Lieblingsessen ist Pudding. Ihr Sohn ist zwar recht alt geworden, aber dennoch seit Jahrzehnten tot. Jedenfalls: 122 Jahre, da könnte ich mir noch eine ganze Menge Fußnägel zum Knabbern fürs Alter zurücklegen. Fuck the System … und bis zum nächsten Mal.)

 

P.S.: Siehe auch Warum Du so leidest, Wie man schwierige Gefühle überlebt und Wie man seelische Wunden heilen kann

 

Photo: Giuseppe Milo