Text von: Romy Hausmann
Wenn die Welt plötzlich außer Kontrolle gerät.
Wenn sie sich mit einem Mal quälend langsam dreht, während Du an einem Krankenbett sitzt und eine schwache, blasse Hand hältst, und die Fifty/ Fifty-Prognose der Ärzte zwischen Hoffen und Bangen auch Deinen inneren Zustand wiederspiegelt.
Wenn sich die Welt für einen Moment schneller dreht, als wäre das Adrenalin aus Deinem Körper komplett auf sie übergeschwappt, weil es gerade richtig, richtig knapp war zwischen Deinem Auto und dem massiven Baumstamm, der vom Unwetter auf die Straße geschleudert wurde.
Wenn die Welt auf einmal vollkommen stillsteht, weil jemand, der doch eben noch da war, nun für immer seine Augen geschlossen hat.
Das sind Situationen, in denen uns das Leben Fragen aufzwingt. Fragen, die wir sonst gerne verdrängen, weil sie uns runterziehen und uns mit unserer eigenen Endlichkeit konfrontieren. Ja, Sterben ist erblich, und irgendwann, eines Tages…
Die Frage, die ich mir vor kurzem gestellt habe, war: Was werde ich eines Tages eigentlich hinterlassen? Abgesehen von meinem riesigen (imaginären) Vermögen, der fetten (ebenfalls imaginären) Zwölf-Zimmer-Villa und meiner (Du ahnst es schon, natürlich imaginären) Mehr-Karat-Schmuck-Sammlung? Denn das sind doch die Dinge, die wir für gewöhnlich meinen, wenn wir von einem „Erbe“ oder einer „Hinterlassenschaft“ sprechen: das Materielle.
Wir reißen uns die Ärsche auf (oder sitzen sie uns in lahmen, aber gut bezahlten Schreibtisch-Jobs platt), um Häuser zu bauen und Versicherungen abzuschließen, die unsere Familien im Fall des Falles absichern sollen. Wir ziehen Firmen hoch, die der Nachwuchs später einmal übernehmen soll. Wir polieren in regelmäßigen Abständen das wertvolle Vorkriegs-Tafelsilber, das wir selbst in einer langen Reihe von Erb-Weitergaben übernommen haben und das die Kinder ja eines Tages beim Antiquariat wortwörtlich versilbern können, wenn’s finanziell mal eng werden sollte. Oder wir stopfen einmal im Monat ein bisschen Übriggebliebenes in den Sparstrumpf. Manchmal tun wir auch gar nichts dergleichen – weil wir es einfach nicht können. Es gibt nichts zu sparen, weil das Gehalt schon für den alltäglichen Gebrauch kaum ausreicht, geschweige denn, um eine Vorsorge für die irgendwann mal Hinterbleibenden zu treffen. Und oft haben wir deswegen ein schlechtes Gewissen.
So wie ich kürzlich, als ich mir eingestehen musste, dass die meisten meiner Besitztümer nichts als zusammengesponnene Luft sind und die, die es wirklich gibt, eigentlich kaum Wert haben. Was sollte mein Sohn auch mit meinen Klamotten und ein paar abgewohnten Möbeln? Worüber sollte er eines Tages sagen: „Das habe ich von meiner Mutter?“ Worüber sollte er vielleicht sogar zu seinen eigenen Kindern sagen können: „Das habe ich noch von der Oma?“ Einen Augenblick lang fühlte ich mich richtig schlecht, wie eine Versagerin. Bis ich mich gefragt habe, was das eigentlich alles sein kann, ein „Erbe“.
Etwas, das bleibt
Laut Duden-Definition bedeutet „Erbe“ nicht nur materielles Vermögen, sondern auch – und vielleicht sogar vor allem:
„… etwas auf die Gegenwart Überkommenes; nicht materielles [geistiges, kulturelles] Vermächtnis.“
„Vermächtnis“ – das klingt gut, aber irgendwie auch ganz schön hochtrabend, oder? Vielleicht ist das, was mein Sohn eines Tages von mir hinterlassen bekommt, eher wie die kleinen, bunten Teile aus der „Mitgebsel-Tüte“ von einem Kindergeburtstag. Dinge, die einem im ersten Moment unwichtig vorkommen, vielleicht sogar überflüssig oder im Gegenteil ganz selbstverständlich. Die in Summe aber doch irgendwie zählen. Vielleicht hat er einen moralischen Kompass von mir bekommen. Einen Sinn für Gerechtigkeit. Den Glauben an das Leben und seine Möglichkeiten. Den Mut, seinen Träumen zu folgen. Die Sturheit, nicht aufzugeben. Und die überlebensnotwendige Fähigkeit, seine Socken ordentlich zu falten (ich bin mir sicher, dass seine zukünftige Frau ihm bzw. mir dafür dankbar sein wird). Vielleicht führt er bei seinen Kindern das ein oder andere Ritual weiter, wie das gemeinsame Essen im Familienkreis oder das Vorlesen beim Zubettgehen. Und, ja, vielleicht ist all das letzten Endes für ihn sogar wertvoller als ein Konto mit ein paar schwarzen Nullen. Weil es sich nicht erschöpft. Weil er es nicht versteuern muss. Weil es immer in ihm sein wird und niemand es ihm wegnehmen kann.
„Ein Erbe bedeutet nicht, etwas für jemanden zu hinterlassen. Es bedeutet, etwas in jemandem zu hinterlassen“, sagt auch der amerikanische Life- und Business-Coach Peter Strople – und hat damit ein Zitat geschaffen, das mich gleichzeitig tröstet und ermutigt. Und zwar in dem Sinne ermutigt, dass ich eines begreife: Ich kann jeden Tag etwas tun für mein „Vermächtnis“. Denn indem ich mich frage, was für ein Leben ich meinem Sohn später wünsche, bin ich gezwungen, mein eigenes Leben zu reflektieren. Bin ich ihm ein gutes Beispiel? Lebe ich das, was ich ihm an Eigenschaften und Fähigkeiten wünsche, überhaupt selbst? Oder ist da die ein oder andere Baustelle offen, etwas, das ich gerne leben würde, in der Realität aber noch gar nicht umsetze?
Dein „Vermächtnis“ als tägliche Erinnerung
Eines Tages wird die Welt wegen Dir außer Kontrolle geraten, das ist eine Tatsache, die es weder zu beschönigen noch verdrängen gelingt. Doch bis dahin hast Du Zeit. Zeit, in der Du die „Mitgebsel-Tüte“ anfüllen kannst, indem Du den Menschen in Deinem Umfeld ein gutes Leben vorlebst, mit all den Werten, an die Du glaubst.
Und mit diesen Menschen meine ich nicht nur Deine Kinder. Vielleicht hast Du ja gar keine eigenen. Dennoch wirst Du der Welt etwas hinterlassen. Deinem Partner oder Deiner Partnerin. Deinen Geschwistern. Deinen Freunden. Der Nachbarin, der Du, als es ihr schlecht ging, die Einkaufstüten in die Wohnung getragen hast. Deinem Patenkind, mit dem Du zur Weihnachtszeit immer Plätzchen gebacken hast. Dem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft, der ohne Deine Nachhilfe durchgeflogen wäre. Deinen Kunden oder Kollegen, für die Du immer ein offenes Ohr hattest und die jederzeit spürten, dass Du Deinen Job mit Herzblut machst. Jetzt hast Du noch Zeit. Zeit für gemeinsame Erfahrungen, aus denen irgendwann unbezahlbare Erinnerungen werden. Zeit, in der Du weitergeben kannst, was Dir im Leben wirklich wichtig ist. Denn genau das wird eines Tages Dein Vermächtnis sein.
Mehr unter: Darum ist Sinn wichtiger als Glück.
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Vielen Dank für deinen Text. Hat mich genau zum richtigen Zeitpunkt getroffen. Ich danke dir.
Das freut mich sehr, Thomas, danke. Eine besinnliche Weihnachtszeit und viele Grüße,
Romy
Vielen Dank für diesen tollen Beitrag!!! Liebe Grüße Tete
Schön, wenn er Dir gefallen hat, liebe Tete!
Was wir hinterlassen sind unsere Taten und unsere Familie. Irgendjemand wird sich immer an unsere Taten erinnern, egal ob als kleiner oder großer Held, die Liebe zwischen den Menschen bleibt auch über das Leben bestehen.
Hallo Romy,
ein sehr schöner Text. „Etwas in einem hinterlassen“, das ist ein wunderbarer Gedanken. Sind doch so viele Streitigkeiten mit der lieben „Erbschaft“ verbunden. Und wenn es so etwas wie Reinkarnation wirklich gibt, dann dürfen wir ja eventuell im nächsten Leben dort weitermachen, wo wir im alten aufgehört haben.
LG,
Christian
Sehr schöner Text. Es ist wirklich so das man das ganze Leben wühlt und am Ende kommt das große nix.
LG Danilo
Aber irgendwie wird es am Ende doch seinen Sinn haben, jeder rennt mit dem großen Fragezeichen herum, was nach dem Leben kommen mag.
Ich bin gerade auf diesen Artikel gestossen, er bringt mich richtig zum Nachdenken. Was hinterlassen wir eigentlich?