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Wir leben in einer Zeit, in der tausend Versprechen gemacht und tausendundein Versprechen gebrochen werden. Politiker lügen uns vor den Wahlen an, und hinterher genauso. Die Werbung will uns glauben lassen, dass es endlich ein Produkt gäbe, das unsere Probleme löst und uns glücklich und zufrieden sein lässt. Und enttäuscht uns immer wieder. Chefs und Kollegen tischen uns falsche Verlockungen auf. Die Kunden, für die wir uns den Arsch aufgerissen haben, zahlen am Ende nicht. Und im Privatleben, naja … jede zweite Ehe wird geschieden, auf die wenigsten Freunde kann man sich heute noch verlassen, und die Kinder besuchen einen kaum noch, obwohl sie zugesichert haben, sie würden uns jeden Sonntagnachmittag besuchen (selbst wenn sie ans andere Ende der Welt gezogen sind).

Gleichzeitig trichtern uns sämtliche Institutionen, Mitmenschen und Ratgeber ein: wer was verspricht, muss es halten! Immer! Um jeden Preis! Authentisch sein! Und man will ja selbst auch zu seinem Wort stehen und niemanden hängen lassen. Also zieht man entweder, notfalls auf dem Zahfleisch kriechend, alles durch, wozu man sich verpflichtet hat, oder fühlt sich hundsmies, wie der letzte Unmensch. Es sei denn, man ist auf den Eso-Ego-Trip aufgesprungen, der einen denken lässt (bitte wahlweise mit verbittertem, zickigem oder salbungsvollem Ton lesen): „ich mach nur noch, was sich für mich hier und jetzt gut anfühlt, ich bin ja soooo spirituell!“.

Die heutige Preisfrage lautet daher:

Wann sollte man ein Versprechen brechen?

Klar sollten wir alle Versprechen, die wir gegeben haben, auch so gut wie möglich halten. Nur weil man zu faul ist, die zugesagte Hilfe beim Umzug durchzuziehen, sollte man den Anderen deswegen noch lange nicht im Regen stehen lassen. Und klar sollte man seine Partnerin, der man ewige Treue versprochen hat, nicht betrügen mit ihrer Bauch-Beine-Popo-Trainerin, ihrer besten Freundin, ihrer Schwester, ihrem Bruder und ihrer Mutter (oder allen auf einmal).

Aber es gibt einige Situationen, in denen es besser ist, sein Wort nicht zu halten:

  • 1. Du würdest Dich damit selbst schädigen. Ein deutsches Sprichwort lautet: „In ein paar Minuten kann man mehr versprechen, als das ganze Jahr halten“. Wir wollen ja gut sein, helfen, mitmachen, trösten, anpacken, retten … aber manchmal laden wir uns dabei einfach viel zu viel auf. Wenn Deine Gesundheit ernsthaft darunter leiden würde, das Versprechen einzulösen, dann ist der Preis einfach zu hoch und die Notbremse zu ziehen dringend nötig.
  • 2. Du hast etwas versprochen, das nicht in Deiner Macht steht. Manchmal verpflichten wir uns auch zu Dingen, die wir selbst nicht oder nur teilweise beeinflussen können. Bestes Beispiel: „Ich werde Dich immer lieben!“. Aber die Liebe kann gehen, und nicht immer ist es möglich, sie aufzuhalten und zurückzuholen. Und auf Dauer macht Treue keinen Sinn ohne Liebe. Dann ist ein sauberer, wenn auch schwarzer Schlusstrich besser als ein dauergraues Zusammenbleiben aus Verpflichtung.
  • 3. Du hast neue Informationen erhalten oder ein neues Bewusstsein erlangt. In den bescheuerten Schein-Nachrichtenjournalen im Fernsehen gibt es immer wieder einen bestimmten Test. Passanten werden von einem Mann gebeten, ihnen beim Einladen schwerer Gegenstände in seinen Transporter zu helfen. Was vielen von ihnen nicht klar ist: der Mann ist ein Einbrecher. Sobald sie darauf von selbst kommen oder darüber informiert werden, sind sie aus meiner Sicht von ihrem Hilfeschwur entbunden. Neue Information – neue Entscheidung nötig. Oder aber man hat ein höheres Bewusstseinslevel erreicht: denken wir an den Sohn, der seinem Vater zusichert, später mal das Schlachthaus weiterzuführen, dann aber überzeugter Vegetarier wird und Schlachten nicht mehr so ganz zu seinen Leidenschaften passen will.
  • 4. Du kannst auf andere Weise viel mehr Wert schaffen. Wenn Du spürst, dass Du die Welt auf einem neuen Weg viel mehr bereichern kannst als bisher, dann ist das ebenfalls ein guter Grund, Dich von einer alten Bindung zu lösen. Vielleicht bloggst Du seit drei Jahren über die neuesten Affären von Promis und hast etliche treue Leser, stellst aber fest, dass Du viel mehr Menschen viel tiefgründiger helfen könntest, wenn Du statt über die Promis über etwas schreiben würdest, das Dir schon lange am Herzen liegt: etwa wie an gesunde und liebevolle Beziehungen aufbauen kann. Deinen alten Lesern wirst Du damit vermutlich vor den Kopf stoßen … aber die Welt im Ganzen wird’s Dir danken. Der alte Blog passt dann auch einfach nicht mehr in Dein Leben, nicht mehr zu Deinen wichtigsten Zielen. Vielleicht könntest Du Deinen Blog ja auch abgeben an einen, der mehr als Du inzwischen dafür brennt, dass Heidi Klum jetzt auch noch mit ihrem Gärtner und ihrem persönlichen Fußnägelschneiderpersonal vögelt.
  • 5. Du könntest das Versprechen nur halbherzig erfüllen und damit eher Schaden anrichten. Manchmal ist dem Anderen mehr gedient, wenn wir nein sagen, statt ja zu sagen und nein zu meinen. Statt mit halben Herzen, nur einem Auge und dem kleinen Finger etwas einzulösen, das uns nichts bedeutet und auf das wir uns kein bisschen konzentrieren können. So ist zum Beispiel niemandem geholfen mit einem Hirnchirurg, der für seinen Kollegen einspringt, und dann nur lustlos im Schädel des Patienten rumstochert wie ein Kind auf einem Teller Porree.

P.S.: Die meisten Versprechen kann man wohl halten, wenn man authentisch ist. Siehe Die 3 Dinge, die Dein Leben authentisch machen … oder zu einer Lüge

 

 Photo:  Hartwig HKD