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Text von: Christina Fischer

Tanze so, als würde niemand zuschauen. Singe so, als würde niemand zuhören. Liebe so, als wärest Du noch nie verletzt worden und lebe so, als sei es der Himmel auf Erden. – Mark Twain

Ich frage mich, ob das Mark Twain selbst gelungen ist: Tanzen als würde niemand zuschauen und singen als würde niemand zuhören. Die Zeiten, in denen ich so getanzt und gesungen habe, sind auf jeden Fall schon lange her. Dass es sie gab, weiß ich nur, weil es alte Fotos von mir gibt, auf denen mein etwa zweijähriges Ich die pralle Windel schwingend in eine Haarbürste singt, als wäre sie ein Mikrophon.

Ich singe, feiere und tanze zwar noch immer gern, aber selten kann ich so tun, als sähe mir niemand dabei zu (dazu ist in der Regel ein Mindestmaß an Wein nötig). Dabei liegt uns das Tanzen und Singen eigentlich in den Genen, sagen Wissenschaftler. Forscher der Berliner Charité fanden beispielsweise heraus, dass wir schon mit etwa zehn Monaten spontan anfangen, zu Musik zu tanzen, manchmal noch bevor wir sprechen oder auch nur brabbelnd singen können.

Diesen angeborenen Groove können wir auch im weiteren Verlauf unseres Lebens kaum abschütteln, selbst, wenn wir es wollten. Wahrscheinlich schafft es nicht einmal der härteste Shaolin-Mönch, nicht mindestens mit dem Fuß den Takt mit zu klopfen, wenn er „Mambo Number 5“ hört. Trotzdem ist vielen von uns die Unbeschwertheit, mit der wir als Kinder noch die Windeln geshaked, die Blechtrommeln und Blockflöten gerockt und in den schiefsten Tönen „Hänschen klein“ geschmettert haben, irgendwo zwischen dem kleinen Einmaleins und der ersten Haftpflichtversicherung abhandengekommen.

Plötzlich sitzt einem da beim Feiern immer dieses unangenehme Gefühl von Beklommenheit im Nacken, das selbst vor einer altgedienten Partybiene wie mir nicht Halt macht. Es ist die Angst davor, sich zu blamieren, die Kontrolle zu verlieren, nicht cool genug zu sein. Es ist die altbekannte Plage namens Scham.

Immer schön cool bleiben (?)

Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie mein Gesicht vor eben dieser Scham glühte, als einmal eine Gruppe kichernder Teenager meinen Roboter-Move nachäffte. Obwohl ich das durchaus witzig gemeint hatte, wollte ich am liebsten im Boden versinken. Für den Rest des Abends hielt ich mich an einem Getränk fest, um mich selbst von weiteren unkontrollierten Armbewegungen abzuhalten. Warum fällt uns die Scham, die alte Bestie, eigentlich gerade dann so oft an, wenn wir eigentlich ausgelassen sein, feiern, tanzen und uns freuen wollen?

Auch die US-Erfolgsautorin und Scham-Forscherin Brené Brown kennt diesen Mechanismus. „Keine andere Form des Selbstausdrucks macht Menschen verletzlicher als das Tanzen. Es ist praktisch eine ganz-körperliche Verletzlichkeit“, schreibt sie in ihrem Buch „Die Gaben der Unvollkommenheit“ und vergleicht dort Tanzen sogar mit Nackt-Sein.

Wer also feiert und tanzt, macht sich auch nackig. Zumindest im übertragenen Sinne. Aber das war nicht immer so. „Bis wir Kindern beibringen, darauf zu achten, wie sie aussehen und was andere Menschen über sie denken könnten, tanzen sie“, schreibt Brown weiter. Plötzlich sieht uns also gefühlt die ganze Gesellschaft zu und wir lernen, dass unser Wert eng an das Urteil geknüpft ist, das sie über uns fällt. Ab diesem Zeitpunkt gilt es dann, unter allen Umständen die Kontrolle zu bewahren und so cool wie möglich zu sein, um die neu „gewonnene“ Verletzlichkeit zu schützen. „Jetzt reiß´ Dich mal zusammen“ hören wir dann vielleicht öfter. Erst von unseren Eltern und später dann sogar von uns selbst.

„Wir ringen um unseren Selbstwert, indem wir uns in Bezug auf unsere Gefühle und unser Verhalten in eine coole Zwangsjacke stecken und eine Pose einnehmen, um auf tragische und begrenzte Weise als hip und besser als zu gelten“, sagt Bréne Brown. Tragisch ist das Ganze durchaus. Denn tief in uns, in unseren Genen sogar, steckt ja trotz allem nach wie vor die große Sehnsucht nach ausgelassener Freude und selbstvergessenem Feiern – egal, wie erfolgreich wir uns einreden, wir seien zu cool dafür.

Tanz‘ mal drüber nach!

Man könnte sich nun fragen: Warum lassen wir die Feierei denn nicht einfach bleiben, wenn sie uns so unangenehm ist? Könnten wir natürlich. Tun wir auch, zumindest manche. Zu Hause in den eigenen vier Wänden sind wir vor Blicken geschützt, da ist Tanzen, als ob niemand zusieht, und Singen, als ob niemand zuhört, kein Problem, klar, weil dort niemand ist außer uns.

Viele Selbsthilfe- und Selbstliebe Ratgeber raten ja auch dazu: Bei schlechter Laune einfach mal die Musik aufdrehen und tanzen. Studien haben auch längst bewiesen, dass Tanzen die Laune heben kann. Das Hirn setzt Dopamin und Serotonin frei und das wiederum bringt unsere Glücksgefühle zum Schunkeln. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen diesem Alleine-vor-sich-Hintanzen oder -Singen und dem gemeinsamen Feiern mit anderen.

Die Sozialkritikerin und Bestsellerautorin Barbara Ehrenreich bezeichnet diesen Unterschied in ihrem Buch „Dancing in the Streets: A History of Collective Joy“ als „Kollektive Freude“. Wir seien als „von Natur aus soziale Wesen fast instinktiv gezwungen, unsere Freude mit anderen zu teilen“, schreibt Barbara Ehrenreich und „geteiltes Leid ist halbes Leid“ oder „geteilte Freude ist doppelte Freude“ sagt ja auch der Volksmund.

Es schlagen also zwei Herzen in unserer Brust: Einerseits die Sehnsucht danach, uns mit anderen Menschen gemeinsam ausgelassen zu feiern – andererseits die Angst davor verletzt zu werden, wenn wir unsere Rüstung aus Coolness und Kontrolle fallen lassen (auch wenn wir dann vielleicht trotzdem wie ein Roboter tanzen).

Was das Ganze mit Selbstwertgefühl zu tun hat

Das Paradoxe an der Sache ist ja: Wenn eigentlich alle gerne mal ausgelassen wären, aber gleichzeitig aus Angst vor den anderen die Kontrolle um jeden Preis bewahren wollen, dann kann niemand ausgelassen sein. Wenn wir uns also so verzweifelt an unserer vermeintlichen Coolness festhalten wie ein Ertrinkender an einer Flamingo-Luftmatratze, dann versuchen wir damit ein Ideal aufrecht zu erhalten, das offenbar niemand wirklich haben will.

Brené Brown sagt sogar:„Wenn wir es höher bewerten, cool zu sein und alles unter Kontrolle zu haben, als uns die Freiheit zu erlauben, all den albernen, tief empfundenen und gefühlvollen Impulsen unseres Selbst Ausdruck zu verleihen, dann verraten wir uns“, schreibt sie. Und schlimmer: „Wenn wir uns selbst ständig verraten, können wir davon ausgehen, dass wir dasselbe mit denen tun, die wir lieben.“ Dann sagen wir vielleicht irgendwann auch zu unseren Freunden, Partnern und Kindern, sie sollen sich doch verdammt nochmal zusammenreißen. Und nehmen ihnen dadurch ein weiteres kleines Stück Lebensfreude und ein weiteres Stück Selbstwert.

Die coolsten Partys sind die, auf denen Du uncool bist

Ich weiß nicht, wie es Dir geht. Aber meine lustigsten Partys sind die, auf denen ich mich so richtig zum Affen mache und jemand da ist, der mitmacht. Es reicht schon eine Person, die bereit ist, mit Dir gemeinsam die Coolness-Maske abzulegen und die Kontrolle für eine Weile an den Nagel zu hängen und niemand kann euch etwas anhaben. Vielleicht musst auch Du diese Person sein. Jemand, der nicht lacht, wenn einer einen missglückten Roboter-Move auf der Tanzfläche vollführt, zu laut lacht oder vor lauter Überschwang vor sich hinsingt. Sondern mitmacht. Diese kleinen Momente, in denen wir die Kontrolle kurz an der Garderobe zurücklassen, sind so kostbar, weil sie so echt sind und uns erlauben, ganz wir selbst zu sein, so, wie wir in diesem Moment eben sind.

Wenn wir uns so zeigen, sind wir immer verletzlicher als hinter unserer Fassade der Coolness. Aber es liegt auch an uns, ob wir in diesen Momenten der vermeintlichen Schwäche angreifen oder uns für echte Verbundenheit und „kollektive Freude“ entscheiden.

„Die einzige echte Währung in dieser bankrotten Welt ist das, was Du mit jemand anderem teilst, wenn Du uncool bist“, heißt es im Film „Almost Famous“.

Vielleicht gibt es etwas besseres als „Tanzen, als würde niemand zuschauen“. Nämlich: „Tanzen, als würden alle zuschauen – und es wäre uns recht“. Denn „Lachen, Singen und Tanzen […] erinnern uns an die eine Sache, die wirklich zählt, wenn wir Trost, Inspiration oder Heilung suchen oder etwas feiern wollen“, schreibt Brené Brown. Nämlich: Wir sind nicht allein.

Dazu passend: die Folge „Ich schäme mich so: Von Scham befreien“ vom myMONK-Podcast:

Photo: Cool von Look Studio / Shutterstock