Und folgst Du myMONK schon bei Instagram?

„Was hat er denn, Doktor? Sagen Sie’s schon, bitte!“ – „Es tut mir sehr leid, aber ihr Sohn leidet an Progerie.“ – „Was?“ – „Progerie. Er altert überschnell. Fünf- bis zehnmal so schnell wie normale Menschen.“

Der Sohn, das ist Aaron Kushner. Der Vater Harold S. Kushner, ein Rabbi aus Massachusetts. 14 Lebensjahre kann man erwarten mit dieser Krankheit. Genauso kam es dann auch, 14 Jahre.

Wie sollte der Vater weiterleben können, während sein Sohn schon tot war, gestorben in einem lächerlichen Alter? Und wie weiterarbeiten als Rabbi, der das Vertrauen der Menschen in Gott stärken soll? Wo zur Hölle war er denn, der „liebe Gott“? Kushner stürzte in eine tiefe Krise.

Ich selbst bin kein religiöser Mensch (immerhin Agnostiker – ich bin mir nicht sicher, ob es nicht doch was Größeres gibt da draußen, etwas jenseits von reinem Zufall und Chaos). Aber sehr viele von uns sehnen sich gerade in harten Zeiten nach Erklärung, nach Halt, nach Trost und Hoffnung, die der Glaube liefern kann. So entstanden auch die Religionen. Vor Zehntausenden von Jahren begegneten die Menschen ihrer großen Angst, indem sie an Götter zu glauben begannen. Götter für den Sturm, Götter für den Donner, wohlwollende Götter für das Essen und die Gesundheit.

Doch diese Sehnsucht tritt – eben besonders nach Schicksalsschlägen – nur im Doppelpack auf mit einer quälenden Frage:

Wenn es einen Gott gibt, wie kann er nur zulassen, dass guten Menschen furchtbare Dinge widerfahren?

(In der Religionsforschung nennt man dies das Theodizee-Problem.)

Kinder mit Krebs. Entgleiste Züge. Explodierte Atomreaktoren. Einstürzende Brücken. Gestörte Mörder. Ruinierender Betrug. Krankheiten, die man sich nicht mal vorstellen kann. Kontinente voller Hunger. Millionen Vergaste.

Nun, die Religionen und andere spirituelle Ansätze behandeln die Frage zum Teil sehr unterschiedlich.

„Wie man Sorgen, Stress und Selbstzweifel loslässt“

Mehr Infos

1. Frag gar nicht erst, Menschlein, glaube!

Warum ich?

Was habe ich falsch gemacht?

Womit habe ich dieses Unglück verdient?

In Kirchen, Synagogen und Moscheen ist eine Antwort weit verbreitet: Wir kleinen Menschen können das nie beantworten, die Wege des Herrn und seine Pläne für uns sind unergründlich. Und Gott muss sich nicht erklären oder rechtfertigen. Also: Still sein und weiter glauben, noch mehr als vorher. Islam bedeutet übersetzt: „Unterwerfung“. Und zwar unter den Willen Allahs und somit auch unter alle leidvollen Erfahrungen, die uns zustoßen.

Vielleicht, heißt es, dient die Tragödie auch nur zur Prüfung und Stärkung unseres Glaubens. Direkt ausgetüftelt von Gott, um uns wachsen zu lassen. Oder von einem bösen Gegenspieler (Satan), der auf den Rücken der Menschen eine ewige Schlacht mit dem Guten austrägt.

2. Strafe

Daneben gibt es noch die Variante des Unglücks als ganz persönlich gemeinte Strafe Gotte für unser falsches Handeln oder falsches Sein oder den zu geringen Glauben, für die „Sünden“, derer wir uns (angeblich) schuldig gemacht haben.

Zwar vermag uns dieses Modell das Gefühl von Kontrolle geben – okay, Scheiße gelaufen, aber immerhin können wir uns in Zukunft noch mehr anstrengen und bleiben dann vor weiteren Strafen verschont. Ein echter Nachteil ist aber: Wir haben neben dem Verlust auch noch Schuldgefühle zu bewältigen, was uns in der Regel nicht gerade stärkt.

(Und sollte Gott da nicht drüber stehen, statt zornig zu werden auf die, die er geschaffen hat?)

3. Alles Karma, Mann!

Ohne eine Bestrafung von einem Graubärtigem da oben, der unser Schicksal lenkt und dessen Missgunst wir auf uns gezogen haben, kommt das Prinzip des Karmas daher. Verantwortlich seien wir ganz allein. Wir haben in der Regel in diesem oder in einem vorangegangen Leben die Ursachen dafür gesetzt, dass jetzt bestimmte Dinge eingetreten sind. Sagen die Hinduisten und Buddhisten. Es gäbe aber auch Ausnahmen. Unschuldigen Menschen, die etwa Opfer eines Gewaltverbrechens wurden, wird den Hinduisten nach ein glücklicheres nächstes Leben zum Ausgleich geschenkt.

Außerdem müsse man individuelles Leid auch immer auf einer größeren, kosmischen Ebene von Geburt, Leben, Krankheit, Tod und Wiedergeburt sehen. Das ist auch der Kern der Antwort der Buddhisten: Leben heißt Leiden. So oder so. Kannste nichts machen. Weil wir „anhaften“ und Dinge anders erwarten und erhoffen, als sie sind, leiden wir zwangsläufig. Denn alles wandelt sich, alles vergeht, nichts bleibt. Unser Auftrag: weniger anhaften, die Ignoranz, die Gier, den Hass, den Egoismus in uns bekämpfen, um nach tausenden von Leben irgendwann aussteigen zu können aus diesem Kreislauf des Leids.

Der Hauptwert vom Prinzip Karma liegt dabei weniger darin, uns das Warum genau zu begründen. Vielmehr geht es darum, nach vorn zu schauen und achtsam zu handeln.

4. Angezogen von Gedanken

Nichts Religiöses, sondern das Material, aus dem die New-Age-(Alb)träume sind: „das Gesetz der Anziehung“ (law of attraction). Gleiches zieht ihm zufolge Gleiches an. Auch ganz ohne Gott oder ein sonstiges Wesen oder Prinzip. Die Gedanken in unserem Inneren erschaffen die Geschehnisse im Außen. Ganz einfach. Warum? Wegen den „hermetischen Gesetzen“ natürlich! Schwingungen, die mit der Quantenmechanik zusammenhängen sollen. Aha. Echte Quantenmechaniker bestreiten das übrigens vehement.

Erinnert zum Teil ein bisschen an Karma (zumal auch Buddha von der Macht der Gedanken überzeugt war), doch reduziert komplexe sprituelle Traditionen auf einen simplesten Punkt. Vielleicht, damit die Gurus mehr von ihrem Wünsch-Dir-Was-Kursen verkaufen können.

Von allen Erklärungsversuchen, warum schlimme Dinge passieren, finde ich diesen am hässlichsten. Denn er lädt geradezu ein zu Unverständnis und mangelndes Mitgefühl. „Ach, Du hast Krebs? Na hättest Du mal nicht so negativ gedacht, war ja nur eine Frage der Zeit, das sich das rächt!“ Oder: „Was willste denn, mit Deiner großen Angst hast Du dieses Unglück doch erst beim Universum bestellt!“

(Siehe: „Dein Unglücklich-Sein kotzt mich an!“)

Machen wir lieber schnell woanders weiter.

5. Gott als Schöpfer, aber nicht als Lenker

Zurück zu Harold S. Kushner. Dem Rabbi, der mit ansehen musste, wie sein Sohn schon als Zehnjähriger vergreiste. Und der in seiner Gemeinde viele weitere schlimme Dinge miterlebte. Kushner suchte die Antwort auf die Frage, die ihn quälte – Warum tut Gott so etwas? – in der Logik. Er stellte verschiedene Hypothesen auf, spielte sie gegeneinander aus und kam zum einzigen Schluss, der für ihn noch übrig blieb. Er hat ein sehr berühmtes Buch darüber geschrieben, When Bad Things Happen to Good People, wie er seinen Glauben wiedererlangte.

Die Kernaussage des Buchs:

Gott kann Unglück nicht verhindern.

Er hat das Universum geschaffen, aber er lenkt es nicht. Ist nicht so, dass er wegschaut oder einfach aufgestanden und gegangen ist, als wär’s ein Kinofilm, der ihn nicht mehr interessiert. Nein, der Grund für die schlimmen Ereignisse auf der Welt sei ein anderer: Gott ist nicht allmächtig. Damit gibt es auch kein gottgewolltes Schicksal, das man halt nicht verstehen könne, aber akzeptieren müsse, statt es anzuzweifeln.

Warum sollte ein Gott erst etwas erschaffen, und es dann sich selbst überlassen sollte? Ein Grund könnte sein, dass Gott den Menschen Freiheit schenken wollte – auch die Freiheit, sich falsch zu entscheiden und Unglück zu verursachen. Ein anderer Grund, dass die Menschen nur dadurch die ganze Fülle des Daseins erleben können, weil es beides gibt, Glück und Leid, Euphorie und Depression, Liebe und Hass. Nur so könne die menschliche Seele alle Erfahrungen sammeln.

Sinn finden, egal wo

Am schwersten, oder nahezu unmöglich leben können wir mit dem Gefühl, alles sei sinnlos. Ein reiner, oft mieser Zufall, dem wir vollständig ausgeliefert sind. Ein Universum, dem alles am Arsch vorbeigeht.

Zu dieser Erkenntnis kam auch Viktor Frankl. Frankl, ein jüdischer, hochbegabter Arzt. Lange blieb er in Wien, obwohl die Nazis schon an der Macht und auf der Jagd nach Juden waren. Zu lange. Denn eines Nachts kamen sie und holten Frankl zusammen mit seiner ganzen Familie ab. Ein Jahr vorher hatte er Tilly, seine Frau kennengelernt, eine 23-jährige Krankenschwester. Sie waren noch eines der letzten Paare, die im jüdischen Standesamt Wiens getraut wurden, bevor es geschlossen wurde. Tilly war schwanger. Die Nazis befahlen Juden jedoch, bei jeder Schwangerschaft abzutreiben. So verloren die beiden ihr erstes, ungeborenes Kind.

Drei Jahre lang war Frankl’s Familie getrennt voneinander in verschiedenen Konzentrationslagern untergebracht. Lilly starb kurz vor der Befreiuung an Unterernährung. Frankl selbst überlebte, bis die US-Truppen kamen.

Ausgemergelt und mit tausendfach gebrochenem Herzen, aber entschlossen, seine Erfahrungen zu verarbeiten und zu nutzen, gab er seiner scheinbar sinnlos gewordenen Existenz einen neuen Sinn. Er schrieb Bücher und arbeitete in der Neurologischen Poliklinik in Wien mit psychisch erkrankten Menschen. Immer wieder stieß er dabei auf etwas, das sich schon während seiner Inhaftierung im KZ zeigte: Wer den Geschehnissen einen Sinn gibt, überlebt sie am ehesten.

Dieser Sinn, so Frankl, kann nicht von außen auferlegt werden, man muss ihn im eigenen Inneren entdecken. Er entwickelte eine Fragetechnik, angelehnt an die von Sokrates, mit der er seine Patienten zu ihrem persönlich Sinn führte. „Logotherapie“ oder „Existenzanalyse“ nannte er das. Inzwischen bestätigt die Forschung längst, wie wichtig und wertvoll das für die Heilung ist.

Bei dieser Sinnfindung können Religionen natürlich helfen. Es geht aber auch ohne. Denn Sinn muss eigentlich gar nicht gesucht werden, so, als würde er sich irgendwo verstecken. Wir können ihn stattdessen erschaffen. Vor allem mit einer Frage:

Wie kann ich das, was mir zugestoßen ist, für etwas Gutes nutzen?

Der Burnout, der nach abgehetzten Jahren in Tretmühlen dazu führt, dass wir uns endlich mehr uns selbst zuwidmen. Die gescheiterte Ehe, die uns die Chance gibt, mit neuem Wissen über uns mit einer neuen Liebe von vorn anzufangen und es besser zu machen. Der Verlust eines geliebten Menschen, der uns zeigt, wie kostbar die paar leuchtenden Jahre sind, die wir (hoffentlich) haben oder wenigstens hatten. Oder der uns um andere kümmern lässt, die Ähnliches erleben müssen.

Siehe auch 5 Wege, dem Leben mehr Sinn zu geben und Mental stärker in 10 Minuten – Die vielleicht wirkungsvollste Übung der Welt.

Photo: