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Es ist 10:03 Uhr und ich sitze mit den Kollegen im Meeting,

oder es ist 19:00 Uhr beim Abendessen mit der Familie,

oder es ist 22:39 mit Freunden in der Bar.

Mein großer Auftritt (alle haben drauf gewartet).

Egal wann und wo: jemand sagt etwas, ich übertrumpfe es. Ich bin der Actionheld, der Andere nur der Statist, ich bin der Entertainer, er dagegen nur der Clown vom Kindergeburtstag, über den niemand lacht. Ich werfe ihn aus der Arena mit meinen lauten Worten und großen Gesten, stehe im Mittelpunkt, alle Blicke auf mich gerichtet, alle Augen, die strahlen, alle Zungen, die über die Lippen fahren, meinen mich.

Manchmal lasse ich den Anderen noch aussprechen, warte ungeduldig auf meinen Einsatz, ich bin ja nicht nur megainteressant, sondern auch noch höflich. Manchmal halte ich sein langweiliges Gelaber aber echt nicht mehr aus, dann grätsche ich ihm auch schon mal mitten in den Satz, um uns alle zu erlösen und ENDLICH etwas wirklich Fasziniiiierendes! auf den Tisch zu bringen, das die Münder öffnet wie ein Schrei beim Orgasmus.

Über Gesprächsleichen gehen.

Ist echt so, ist ein Teil von mir. Kennst Du das auch … von Dir selbst, meine ich? Dass Du über Gesprächsleichen gehst, um selbst im Mittelpunkt zu stehen? Statt zuzuhören, dem Anderen den Platz zu lassen, vielleicht mitzudenken, mitzufühlen, nachzufragen, das Thema sofort wieder auf Dich zu lenken mit „Das ist ja noch gar nichts, da hab ich erst was erlebt / erreicht!“.

Klar, wir wollen gemocht, gesehen, geachtet, respektiert, geliebt, angehimmelt werden. Und klar ist das total in Ordnung, nur: wir zahlen auch einen Preis dafür, und vielleicht ist der’s ja gar nicht wert, all die Kämpfe, das Posen, das Auftrumpfen.

Wir nehmen den Mitmenschen die Freude daran, sich mitzuteilen, die Chance, sich gemocht, gesehen, geachtet, respektiert, geliebt zu fühlen.

Nicht unser Problem? Kann sein, aber die Liste von Nachteilen ist noch nicht am Höher-höher-Höhepunkt angelangt.

Tiefere Beziehungen erleben wir doch, wenn wir uns auch mal zurücknehmen.

Und noch mehr: wir können uns auch selbst mehr wahrnehmen, wenn wir im Schatten stehen statt uns immerzu die Augen blenden und das Hirn unterm Scheinwerfer schmelzen zu lassen. Wer besäuft sich denn vor lauter Leere nach einem Konzert, wer schluckt, schnieft und spritzt sich voll, der Sänger im Hotelzimmer oder die Leute aus dem Publikum?

Lass uns dem Drang im nächsten Gespräch mit Kollegen, dem Partner oder Freunden widerstehen, immer selbst am Drücker sein zu wollen. Vielleicht passiert ja etwas Magisches in uns und zwischen uns, das schöner ist als jeder (erhoffte) Applaus von außen. Vielleicht sind wir dann wirklich da, wirklich wir … und viel entspannter, als wenn wir stets um Anerkennung kämpfen. Und vielleicht entstehen dadurch ein Frieden und ein Selbstbewusstsein in uns, wie wir es so noch nicht kannten.

Jetzt Du. Nein, warte. Nur noch einen Moment.

Hiermit geb’ ich das Mikrophon ab für heute, danke fürs Zuhören.

Ich wäre sehr gespannt, von euren Erfahrungen zu lesen: was haltet ihr von Menschen, die immer im Mittelpunkt stehen müssen? Gehört ihr vielleicht sogar selbst dazu?

P.S.: Kann mich doch noch nicht vom Mikro trennen, möchte noch was ergänzen: das alles gilt auch fürs Rechthaben und Rechthabenlassen … vielleicht können wir das eine oder andere Mal ja auch etwas stehen lassen, obwohl wir anderer Meinung sind oder es besser wissen.

P.P.S.: Ich hätte da noch was gaaanz Wichtiges zu sagen … nee, mal im Ernst: eine tolle kleine Übung, die euch dabei helfen kann, diese Sache durchzuziehen und dabei noch mehr innere Ruhe zu verspüren und noch tiefere Gespräche und Beziehungen zu erleben, ist die folgende: bevor ihr antwortet (nachdem der Andere ausgeredet hat) einmal langsam durchatmen. Diese vermeintlich kleine Pause schafft großen Raum … aber probiert’s am besten selbst bei der nächsten Gelegenheit.

 

Photo: Maëlle Caborderie