Teile diesen Beitrag "„Wenn Du nicht mehr träumst, kannst Du zum Sterben gehen.“"
Text von: Romy Hausmann
Es gibt Begegnungen, die einen verändern. Manche von uns begegnen dem Tod oder einem anderen schweren Verlust, der uns daran erinnert, was „Leben“ bedeutet. Was für ein Geschenk es ist, jeden Morgen aufzuwachen. Gesund zu sein. Genügend zu essen, ein Dach über dem Kopf und Frieden um uns herum zu haben. Etwas, das uns daran erinnert, dass wir eigentlich kein schweres Schicksal ertragen, nur weil es Montagmorgen ist, die Arbeit ruft, wir Rechnungen zu bezahlen haben – auch wenn wir „gerne“ so tun, als ob es genauso wäre: Wir, die armen, gebeutelten Hamsterrad-Strampler, die Steine-Schlepper und Krumm-Buckligen. Wie wir uns gegenseitig allerorts mit unseren zahlreichen Verpflichtungen zu übertrumpfen zu versuchen. Wie wir das Wörtchen „Stress“ strapazieren, als wäre es ein verdammtes Gummiband, das uns – hoffentlich, weil absolut zu Recht – irgendwann voll Karacho und schmerzhaft ins Gesicht schnippt. Weil wir dann vielleicht endlich aufwachen. Uns besinnen. Anfangen, wertzuschätzen, was wir haben. Und etwas daraus machen, anstatt uns in aller Selbstverständlichkeit darauf auszuruhen.
Für uns selbst und all die, die es nicht können.
Ich hatte auch einmal eine dieser besonderen Begegnungen. Damals wurde ich mit einem Kamerateam losgeschickt, um ein Porträt über eine Familie zu drehen. Die Osmans. Eine achtköpfige afrikanische Großfamilie, die vor dem Bürgerkrieg in Somalia nach Österreich geflohen war. Jetzt lebten sie in Wien, Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, richtig beschissene Lage – und ich meine nicht die Münchner Definition von „richtig beschissene Lage“ mit einer mehrspurigen Schnellstraße, die vor dem Haus entlang und vom Geräuschpegel her gefühlt mitten durch’s Wohnzimmer führt. Ich rede von der mehrspurigen Straße plus Dreck und Ratten und spärliche Beleuchtung, in deren Halbdunkel Gestalten auf dem Bürgersteig hockten, die meine Mutter beleidigten, ohne sie zu kennen (aber das war sicherlich noch das Netteste).
Als wir sie besuchten, waren die Osmans seit knapp fünf Jahren in Wien. Sprachen gut Deutsch und versorgten sich komplett eigenständig. Die Kinder gingen zur Schule, die beiden ältesten machten eine Ausbildung. Die Mutter hatte mehrere Stellen als Putzfrau, der Vater arbeitete Frühschicht in einer Fabrik. Vom Staat zu leben, war sie für undenkbar. Dafür seien sie zu stolz, sagte der Vater, und außerdem seien sie doch gesund und kräftig. Früher, in Somalia, da besaß er eine kleine Bananenplantage und konnte seiner Familie ein gutes Leben bieten. Für eine ganze Weile lebten sie noch recht unbeeindruckt, doch irgendwann hatte der langjährige Krieg auch ihre Heimatregion erreicht und sie mussten fliehen. Auf der Flucht starb eines ihrer Kinder. Die Mutter zündete immer noch jeden Abend eine Kerze zum Gedenken an.
Und trotz allem konnten sie noch lachen. Singen. Tanzen. Sie luden uns zum Essen in ihre Mitte ein. Und brachten uns in dieser einen Woche, in der wir bei ihnen waren, etwas über das Leben bei. Es war ein Satz, den der Vater im Interview sagte und der mir zufällig heute Morgen wieder eingefallen ist:
„Wenn Du nicht mehr träumst, kannst Du zum Sterben gehen.“
Wann haben wir angefangen, vom Wochenende zu träumen?
Warum ich Dir heute diesen Text zumute? Weil ich in letzter Zeit oft sauer bin. Manchmal auch nur betrübt, aber so richtig viel besser fühlt sich das auch nicht an. Egal, wo ich bin, egal, mit wem ich rede, höre ich überall nur: „Stress, Stress, Stress. Alles scheiße.“ Ich höre es den Kassierer seiner Kollegin zuraunen, wenn ich im Supermarkt in der Kassenschlange stehe. Ich höre es von den Müttern und Vätern vor dem Klassenzimmer, wenn ich meinen Sohn von der Schule abhole. Ich höre es von Kollegen und Freunden – und verdammt noch mal, ich sage es selbst oft genug.
Und es stimmt ja auch: Unsere Tage sind vollgepackt. Acht Stunden Arbeit oder mehr. Die Kinder, die zu Freunden und zum Sport gefahren werden müssen. Essen kochen. Einkaufen. Haushalt. Zehennägel schneiden. Aus irgendwelchen merkwürdigen, gar wundersamen Gründen scheinen wir dann aber doch noch Zeit zu finden, ein bisschen bei „Game of Thrones“ zu entspannen. (Fun Fact: Weltweit wurden 2017 314 Milliarden Dollar für Video-Dienste ausgegeben. Allein Netflix hat gerade die Marke von 100 Millionen Abonnenten geknackt.)
Ja, wir haben es wirklich schwer…
Gleichzeitig höre ich in ähnlich hoher Dosierung: „Man müsste mal…“, wahrscheinlich als reine Konsequenz dieses angeblich beschissenen, stressigen Lebens, das wir kollektiv so führen. Ich höre von Plänen fürs eigene kleine Café, fürs eigene Buch, das man endlich schreiben oder die 20 Kilo Bauchspeck, die man bis zum Sommer loswerden wolle. Ich höre Beschwerden über Chefs und unzumutbare Arbeitsbedingungen, von Vorhaben, zu kündigen, sich was Neues zu suchen, was anzupacken. Ich höre von Leuten, die verkünden, endlich „ihr Ding machen“ zu wollen und ertappe mich dabei, wie ich immer wieder auf die Bestimmtheit in ihrem Ton hereinfalle und sie ernstnehme. Bis zum nächsten Treffen oder Telefonat, wenn ich mich danach erkundige und feststelle, dass „das Ding“, der Plan, die Idee, der große Traum schon wieder verpufft ist wie ein trockener Furz. „Ich würde ja gerne, aber…“
Es ist die Zeit, die uns fehlt (immerhin soll sich das Abo beim Streaming-Dienst ja auch lohnen). Es ist das Geld, das knapp ist, genau wie die Energie. Es sind die Kinder, die einen ständig von irgendetwas abhalten. Und es ist – alles zusammengenommen – schlichtweg die Einsicht, dass Träume und Pläne sowieso nicht mehr in unseren eng gespurten, eingefahrenen Alltag passen. Wir sind zu alt, um uns noch mal neu zu orientieren und etwas zu ändern. Statt von Selbstverwirklichung träumen wir höchstens noch vom nächsten Wochenende.
Und jedes Mal, wenn ich so etwas höre, frage ich mich, was zum Teufel eigentlich mit uns los ist. Wann habe ich, wann haben wir die Relationen verloren? Und wann haben wir angefangen, unsere Träume auf ein handliches Format zu schrumpfen, sodass sie wie unsere IPhones 3000 in unsere Hosentaschen passen? Was ist mit uns passiert? Liegt es wirklich an der Zeit? Am Geld? An der Energie oder an den Kindern?
Gerade mit Kind(ern) kommt Verantwortung, natürlich. Hat man weniger Zeit, dafür mehr Verpflichtungen. Andererseits: Müsste uns das nicht erst recht Auftrieb geben? Erzählen wir unseren Kindern nicht ständig, sie sollen ihr Bestes geben, sich nicht unterkriegen lassen, an ihre Träume glauben und dafür kämpfen? Was zählen unsere Worte, wenn wir sie ihnen nicht vorleben? Wofür sollen sie kämpfen? Für zusammengefaltete Träume und Couchabende mit „Game of Thrones“?
Wie viele Möglichkeiten haben die meisten von uns, besonders weil wir eben ein recht gutes, eben doch vergleichsweise entspanntes Leben führen? Und wäre dieses gute Leben nicht eigentlich die beste Ausgangsbasis, noch ein bisschen weiterzugehen? Einen Traum – egal wie groß oder klein – anzupacken? Einfach, weil wir es können… und andere nicht.
Vater Osmans Traum…
Vater Osman träumte von Somalia. Vom Ende des Krieges. Er träumte davon, wie er in sein Land zurückgehen und wieder vorn anfangen würde. Er würde Bananen pflanzen, eine große Plantage anlegen. Ein schönes Haus für seine Familie bauen, in dem jedes Kind sein eigenes Zimmer hätte. Es war ihm völlig schnurz, dass er vielleicht aussichtslos träumte. Immerhin war er bei unserem Besuch bereits Mitte 50, und der Krieg in Somalia tobt bis heute. Hauptsache, fand er, er träume überhaupt noch. Und das war für ihn kein Small-Talk à la „Man müsste eigentlich mal…“ Es war der Grund, warum er jeden Morgen aufstand.
Mehr unter 7 seltsame Fragen, die Dich zu Deiner Berufung führen.
Photo: Mature business man von Halfpoint / Shutterstock
Ich mag Deinen Schreibstil Romy. Den Inhalt des Textes selbst, sehe ich gespalten. Ich verstehe nicht, warum ich von etwas träumen sollte, dass ich nicht umsetzen kann (wie im Beispiel mit dem Traum, zurück nach Somalia zu gehen). Vor einigen Wochen habe ich mich von meiner Traumliste sogar verabschiedet. Die Aussage: «Lebe Deinen Traum!» sehe ich für mein Leben als hilfreicher an, anstatt zu Träumen. Natürlich fängt alles mit einem Traum an, wenn ich dann aber nicht ins Handel komme, wofür dann träumen? Meinst Du, dass gibt den Leuten dann einen Grund am Morgen aufzustehen? Weiss nicht, ob das wirklich eine gute Art der Motivation ist. Danke für Deine Gedanken und dass ich mir meine Gedanken dazu machen durfte. 🙂
Schöner lebendiger Text, Romy. Er hat für mich so gar nichts von einer Zumutung. Sogar dein Sauer und Betrübt Sein hat was. Und wieder ein Beispiel, wie „belastende“ Flüchtlinge uns auch helfen könnten bei unserem Sauer und Betrübt Sein.
Wir ahnen es bereits. Sehr viel zu haben im Vergleich zu anderen bedeutet auch nicht unbedingt mehr Zufriedenheit, Dankbarkeit oder gar Zeit für uns selber. Wir haben das oft sogar verlernt. Ganz deutlich macht das für mich unser Sprachgebrauch bei dem Wort „Traum“.
Hochs und Tiefs gibt es anscheinend auf allen Ebenen des Viel- oder Weniger Habens. Wie kommt es denn zu unserem „Stress, Stress, Stress. Alles scheiße“? Ich denke es entstammt unserem Denken wie es sein sollte, ob das dann ein Luxusdenken ist oder mit Entbehrungen begründbar. Wir nennen das auch Erwartungen, aus denen dann Unmut und (aggressiver) Widerstand gegen das was ist entstehen kann. Teils heftige Emotionen gegen das was wir momentan vorfinden und teils heftige Zielsetzungen, um da raus zu kommen. Ein jeder in seinem eigenen Denkraum. Erst genügsamere Menschen können uns wieder gewisse Relationen bewusst machen.
Doch könnte man ja fragen, was da schief läuft, wenn eine höhere Haben-Ebene auch nicht unbedingt da raus hilft. Die Idee, einen Traum – egal wie groß oder klein – anzupacken? Also ein anderes Ziel, das uns dann einen angenehmeren inneren Zustand verspricht? Ich meine, gar nicht zu regieren ist doch schlechter als gelegentlich falsch zu regieren. Aber auch mit solcher Einsicht bin ich noch nicht so weit wie Vater Osman. So meine Einschätzung.
Denn Vater Osmans Traum ist nicht in der Zukunft. Und nicht im Haben Wollen, das für uns gelegentlich so selbstverständlich ist, dass wir den Begriff „Traum“ auch noch verbinden mit einem möglichen Haben oder Sein in der Zukunft. Und wenn es nicht vorrangig dabei um Materielles geht, dann vielleicht um die Möglichkeit, sich wertgeschätzt oder gar beneidet zu fühlen, oder es geht einfach um das sich Entledigen von der vermeintlichen Schuld, aus seinem Leben zu wenig gemacht zu haben.
Vater Osman meint das Träumen an sich jetzt. Er erlebt lebendig nach, wie es war, ob es nun wieder einmal so werden kann oder nicht. Dieser Zustand ist angehoben, vermittelt Zufriedenheit und Geborgenheit. Ganz unabhängig vom Außen und den bewertenden, vergleichenden Gedanken. Diesen Zustand lohnt es sich zu leben und das Sterben Gehen kann warten. Und ist nicht doch so manches „man müsste mal …“ auch so ein Tagträumen. Ein Träumen des Träumens willen, unabhängig von Verwirklichung, Momente in einem schöneren Zustand? Ich meine, dass wir schon mit etwas Mut solchen Signalen folgen sollten. Fließen im Sein. Nur das negative Bewerten, wie auch im Artikel, wenn wir das dann nicht festnageln, sogar morgen wieder anderen lebendigen Signalen folgen? Ich finde, damit tun wir uns wenig Gutes, mit solch schnellem Übergang in das Haben Wollen (Müssen).
Ich finde den Beitrag unheimlich stark aber auch zwiespältig. Die Frage ist doch: warum wir in dieser doch so guten Gesellschaft trotzallem unter „Stress“ leiden und diese Menschen, die wirkich viel viel weniger besitzen als wir, eben nicht? Sind es in der Tat die Träume oder eine ganz andere Art von Auffassung des Lebens!? Ich denke sehr oft daran, überall Kriege und hier wird trotzdem gejammert und geklagt. Aber ich glaube der Vergleich bringt unsere gestresste Gesellschaft nicht weiter. Eine allgemeingültige Lösung scheint es nicht zu geben. Aber wir könnnen bei uns anfangen….vielleicht nicht um etwas zu erreichen (Ziele, Träume), sondern um dankbar zu sein, für das was man hat. Demut fällt mir dazu noch ein.
Liebe Grüße Tete
Hi Tete,
ich glaube du bist dem recht nahe, um was es geht. Jedenfalls sehe ich Nähe zu Meister Eckhert, Buddha und Jesus.
LG Richard
sehr schön.
Träumen, um einen Grund zu haben, weiter zu machen..
So hab ich auch mal gedacht.
Ich finde heute, dass es immer einen „Grund“ gibt, weiter zu machen, eben weil man da ist.
Einfach mal SEIN statt zu wollen…
Wenn man ständig im „ach herrje, was ist mir schreckliches passiert“ oder im „ach, wäre es doch schön, wenn“ ist, verpasst man, dass man einfach nur HIER ist. Da, wo man eben jetzt gerade ist. So, wie man jetzt gerade ist.
Ist für mich viel entspannter.
Schöner Beitrag – Danke
Liebe Romy, ich liebe deine Texte. Dieser hier ist wieder ganz besonders & berührt mich sehr! Auch ich denke viel über Stress nach. Auf der einen Seite bin ich innerlich leider zu oft gestresst. Auf der anderen Seite ärgere mich über Leute, die Stress als IN-Wort nutzen, und mit einem Lächeln von ihrem wichtigen & „stressigen“ Leben berichten.
Es ist herzergreifend, dass die Familie von ihrer Heimat träumt & hofft zurückziehen zu können. Genau diese langfristigen & fast unmöglichen Träume fehlen uns in der übersättigten Gesellschaft. Lange Zeit habe auch ich keine Träume gehabt & nur von einem One-Klick-Shopping Erlebnis zum nächsten gelebt. Dabei bin ich in der DDR groß geworden & weiß, dass das Unmögliche möglich ist. Wie sehr hab ich mir gewünscht nicht erst Rentner zu werden bis ich die Reiseerlaubnis in den Westen bekomme…