Teile diesen Beitrag "Warum das Leben immer komplizierter zu werden scheint"
Text von: Christina Fischer
Vor einiger Zeit, da machte ich meine Steuererklärung. Oder vielmehr: Die Steuererklärung machte mich – fertig. Ich durchwühlte Schubladen, Ablagefächer und Schränke, rechnete, grübelte. Irgendwann saß ich auf einem Haufen Papier, wischte mir den Schweiß von der Stirn und dachte: „Wann zur Hölle ist das alles eigentlich so kompliziert geworden?“
Und es ist ja längst nicht nur die Steuerklärung. Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen ich nur an der Haustür meiner Freunde zu klingeln brauchte, wenn ich den Nachmittag mit ihnen verbringen wollte. Heute wohnen die meisten weit weg. Es muss umständlich ein Termin ausdiskutiert, die An- und Abreise geplant und gebucht, gegebenenfalls müssen Babysitter gefunden oder Urlaub genommen werden.
Im Berufsleben ist es noch schwieriger. Wir müssen nicht nur unseren Job gut machen, sondern uns nebenbei auch ordentlich vernetzen, vor dem Chef glänzen, innovativ und motiviert sein. Am besten immer auf der Überholspur bleiben, aber ohne dabei unseren Kollegen über die Füße zu fahren.
In einer Gesellschaft, in der man „Multitaskingfähigkeit“ durchaus in seinen Lebenslauf schreiben kann, ist es völlig normal, mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. Das ist verdammt anstrengend und kompliziert. Und das ist nur das Standard-Programm. Gemäß „Murphys Gesetz“ , wonach alles, was schief gehen kann, auch schief gehen wird, wird der alltägliche Wahnsinn zusätzlich mit allerlei Widrigkeiten garniert: Der verschüttete Kaffee auf der weißen Bluse, der Wohnungsschlüssel, der drinnen ist und wir draußen und die bunte Vielfalt aller möglichen Fettnäpfchen.
Muss das eigentlich so kompliziert sein?
Fragt man die Physik, dann ist die Antwort leider: Ja. Wir alle kennen Glückssträhnen. Diese goldenen Momente, Tage, Wochen, in denen alles nach (unserem) Plan läuft. Wir alle wissen jedoch auch, dass Glückssträhnen nicht die Regel und in der Regel nicht von Dauer sind. Oft läuft das Leben nicht einfach so, wie wir es gerne hätten.
Und dahinter steckt sogar ein physikalisches Gesetz: die sogenannte Entropie. https://de.wikipedia.org/wiki/Entropie Entropie bezeichnet das Maß der Unordnung und den natürlichen Prozess, in dem die Dinge ihre Ordnung verlieren. Und wo Entropie herrscht, da wird etwas nicht mehr von sich aus „besser“, da kehrt etwas nicht mehr einfach so in seinen Urzustand zurück. Ist Entropie am Werk, dann ist es also total unwahrscheinlich, dass etwas automatisch absolut glatt läuft.
Du kannst dir beispielsweise eine Sandburg vorstellen. Im selben Moment, in dem sie errichtet worden ist, beginnt sie bereits wieder zu zerfallen und mit Pech macht ein übermütiges Kind das Werk schon mit einem einzigen Tritt dem Erdboden gleich. Dass die Sandburg ganz von allein ihre Form behält, jedes Sandkörnchen genau an der Stelle bleibt, an die Du es gesetzt hast, das ist höchst unwahrscheinlich. Die Sandburg hat eine ideale Form – unter tausenden Formen ihrer selbst, die nicht ideal sind. Und ist der Zerfall einmal in vollem Gange, wird sich die Sandburg auch nicht mehr von alleine aufbauen.
Der Irrglaube vom Recht auf Glück
Wenn es um unser Leben geht, glauben wir jedoch seltsamerweise oft, dass es eigentlich genau nach Plan laufen müsste. Unsere Erwartungen an uns selbst und unser Umfeld sind oft eng an einen absoluten Idealzustand gekoppelt. Nur, wenn alles wie geschmiert läuft, ist es „richtig“. Und tut es das nicht, muss eben kräftig optimiert und nachjustiert werden (oder wenigstens gejammert).
Dieses Streben nach „Perfektion“ hat längst Schule gemacht, überall wird danach getrachtet, die „beste Version von sich selbst“ zu werden. Aber wie soll die eigentlich aussehen? Ist das dann eine Christina, die jeden Morgen gut gelaunt aus den Federn hüpft, ständig an allem Spaß hat, immer supergute Texte in Rekordzeit schreibt, vor Kreativität sprudelt, jeden gern hat und von jedem gemocht wird, total fit und sportlich ist und nebenbei Krebs heilt und die Welt rettet? Woher soll ich denn wissen, wann ich die beste Version meiner selbst bin? Gibt es da ein Limit so von wegen „bis hierher und nicht weiter“, Kreativität ja, aber Welt retten dann doch eher nicht?
Die Entropie, die Spielverderberin unter den physikalischen Gesetzen, hat darauf eine ernüchternde Antwort: Ich werde wahrscheinlich niemals für immer die allerbeste Version meiner selbst sein. Denn das ist ungefähr genau so wahrscheinlich wie eine Sandburg, die für alle Zeiten Meer, Wind und Kinderfüßen trotzen kann. Auf eine ideale Christina-Version kommen Abermillionen Christina-Versionen, die nicht ideal sind.
Die gute Nachricht
„Dann kann ich es ja gleich bleiben lassen, an mir zu arbeiten“, höre ich mich (und Dich auch?) sagen. Doch das wäre genau der falsche Schluss aus der Entropie-Sache. Denn glücklicherweise stehen wir der Entropie nicht völlig machtlos gegenüber.
Die Sandburg mag zwar von alleine ihre Form nicht halten können. Wenn wir aber möchten, dass sie zumindest im Großen und Ganzen immer wieder gut wird, könnten wir jeden Tag zum Strand gehen und wieder an der Burg bauen. Das wäre mühsam, zugegeben, aber es wäre machbar.
Wenn wir der Entropie, also der fortschreitenden Unordnung der Dinge, ihrem Auseinanderdriften, ein Schnippchen schlagen wollen, dann müssen wir Energie investieren, immer. Freundschaften müssen gepflegt, neue Fähigkeiten müssen erlernt und auch an einer Partnerschaft muss immer wieder gearbeitet werden. Wenn wir darauf warten, dass alle Umstände ideal für uns sind und bleiben, warten wir wohl ewig.
Wir können uns außerdem ein bisschen entspannen: das alles perfekt ist, ist höchst selten und unwahrscheinlich. Ungefähr so wahrscheinlich wie dass wir einen Haufen Puzzleteile auf den Tisch schütten und diese sich noch im Fallen genau in die richtige Form zusammensetzten, wie der Blogger James Clear schreibt.
Aber „perfekt“ ist ohnehin nur ein Konzept. Eine Idee in unseren Köpfen. Eine Geschichte von Märchenonkeln und Marketingtanten, von der ich mich viel zu oft stressen und verrückt machen lasse.
Das echte, normale Leben ist eben Chaos. Alles ist in Bewegung, verändert sich, pendelt und wechselt sich ab. Und ist das nicht eigentlich auch viel interessanter als die glatte, polierte Barbie-Puppen- oder Instagram-Version, in der alles perfekt inszeniert ist und wie eingefroren feststeht?
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Photo: Stressed / Shutterstock
Ja, scheint so zu sein. Wir halten oft so einige Bälle in der Luft. Und der Kopf arbeitet ständig daran, Kontrolle zu halten im Chaos. Programme und Vorgehensweisen bereit zu halten. Dinge zu regeln. Bis ins Detail scheinbar Gerechtigkeit hoch zu halten. Preussische Bürokratie. Typisch deutsch. Der Staatsapparat denkt zu komplex und zu perfekt. Wo ist hier noch der „Diener“ in den Staatsdiensten? Mir scheint gar oft, wir dienen diesen Dienern.
Früher auf dem Land war das scheinbar einfacher. Viel mehr war ein für alle mal geregelt. Kaum einer ging weit weg oder wollte noch einen Ball und noch einen. Die Velockungen solcher Bälle waren auch begrenzter. Also einfach leben mit Grundschulabschluss, Mechaniker und ein paar Viecher nebenbei versorgen. Das Haus mit Helfern seber noch bauen. Dem Pfarrer zuhören und alles so lassen. Wissenschaftler nennen solche Bewusstheit „BLAU“.
Da waren dann aber doch ganz andere Leidenschaften in mir. Heraus aus diesen Zwängen. Bildung als Ziel als erstes, statt Haus und Schulden. Ich war da Individualist, mit jugendlichem Optimismus, hinterfragender Realist und abstrakter Denker. Diese Erfahrung musste sein. Auch „gut“ wollte ich sein. Hatte auch lange Phasen der Anspannung. Doch fehlte Spiritualität und Geborgenheit. Der Kopf regierte und drängte das innere Gewahrsein ab. Kontrollwahn und keine Schwächen! Doch ist es einfach kompliziert, mit so vielen Fakten und Anforderungen aus dem Kopf heraus zu handieren. Einzelheiten im Chaos planen zu wollen. Wissenschaftler nennen das „ORANGE“.
Es gab einen Einbruch. Streben und Selber Kontrollieren Wollen liess dann nach. Es war zu anstrengend. Empatischere Haltung und empatischere Menschen kamen in mein Leben. Ist alles sinnlos, dieses Streben und Bauen mit Sand. Wir gehören alle zusammen und sollten warmherzig sein. Mein NEIN und mein ICH wurden dann schwächer und ich dachte viel an andere. Doch irgendwie war ich wieder eingesperrt, konnte meinen Impulsen weniger folgen. Es fehlte was, das ich auch mal „Befriedigung“ und „Erfolg“ nannte. Wissenschaftler nennen das „GRÜN“.
Ich schätze, ich bin heute eher „GELB“. Ich sehe in allen dreien einen Platz. Dem geregelten BLAU, dem authentischen ORANGE, wie auch dem warmherzigen GRÜN. Der Welt im Chaos können wir auch aus den Impulsen aus dem Moment heraus begegnen. Mit etwas Pflege der von Individualisten weggeschobenen Spiritualität kommt auch wieder mehr Urvertrauen zurück. Bleiben wir flexibel und im Vertrauen. Und fürchten wir nicht die Veränderung. Was kümmern mich viel meine Ansichten und Ideale von gestern.
LG Richard
Warum es immer komplizierter wird? Ich glaube, weil wir es uns kompliziert machen, durch mehr Wollen , vieles persoenlich
bzw. zu tragisch nehmen, sich zu wenig Auszeit nehmen etc. Man koennte die Sandburg auch langsam bauen und sich
daher lange daran freuen und wenn sie mal Sand abbaut oder gar zusammenbricht, dann sollten wir auf die schoene
Bauzeit rueckblicken koennen. Aber wie vieles, leichter gesagt als getan.
Hallo Christina,
„Die Entropie, die Spielverderberin unter den physikalischen Gesetzen…“, schöne Formulierung, muss ich mir merken 😉 und guter Blogartikel :-)!
Witzig, daß mir die Entropie, die mich anderswo im Web beschäftigt jetzt auch hier bei dir, bei einem ganz anderen Blogthema wieder begegnet.
Zum Thema wachsende Komplexität des Lebens:
Unser Wirtschaftssystem erfordert stetiges Wachstum.
Dies wird durch immer höheren Energieeinsatz und die Steigerung der Effizienz erzielt.
Höhere Effizienz aber wird nur durch steigende Komplexität erreicht.
Es ist also kein Zufall, daß dein und unser aller Leben immer komplizierter wird, sondern notwendig.
Du kannst dein Leben zwar vielleicht wieder vereinfachen, unser Wirtschaftssystem als ganzes aber nicht.
Steigende Komplexität (und Energieabhängigkeit) führt aber unvermeidlich auch zu einer Verringerung der Stabilität
des Systems.
Einfach gesagt: je mehr Zahnrädchen ineinander greifen müssen, damit ein System funktioniert, desto wahrscheinlicher, daß eines ausfällt und damit das ganze System.
Aber daß unser Wirtschaftsystem nicht Planetenkompatibel ist haben ja schon viele klügere Leute als ich geschrieben, also will ich hier nicht weiter die Cassandra machen ;-)…
Vielen Dank für diese interessante Perspektive. Das Bild der Sandburg hilft mir gerade mit in einer für mich schwierigen Situation das Abstrakte (die Zukunft) ein wenig überschaubarer zu fassen. Damit komme ich viel besser klar und es wirkt auf mich weniger beängstigend.
[…] unserer Erde üblicherweise folgen. Sie bezeichnet, so die Autorin Christina Fischer von “Mymonk“, das Maß der “Unordnung” oder auch “Unberechenbarkeit”, in der sich […]
Hallo! ja die gute Entropie. Gerade ist bei mir auch alles kollabiert. Ich denke, es war ein MUSS. Aber ich habe trotzdem eine Anmerkung: es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben in etwa einen sinnerfüllten Pfad laufen. Z.B. ist eine meiner ehemaligen Professorinnen so ein Mensch . Sie hat ihre akademischen Grade erhalten und hat bis zu ihrer Rente ihren Traumjob. Das finde ich beachtlich lange ! Danke!