Man muss nicht lange suchen:
Beziehungen, die zu Schlachtfeldern wurden, die Liebe so gut wie tot mit abgefetzten Gliedmaßen im Schützengraben, und trotzdem keine weiße Flagge, kein Ende, sondern „zusammen“ bleiben in verschiedenen Welten, noch Jahre.
Oder Eltern, die ihren Kinder die schlimmsten Dinge an den Kopf werfen oder die Fäuste oder Gürtel um die Ohren hauen, wo sie doch immer behaupten, „also meine Kinder sind das Allerwichtigste für mich!“
Oder Wildfremde, die einen beleidigen, auf offener Straße, wie Speere ins offene Herz, weil wir „fette Schweine“ sind oder „Krüppel“ oder „Scheißausländer“.
Als wäre das Leben nicht so schon schwer genug, machen wir es uns gegenseitig zur Hölle, manchmal, nein oft, zu oft.
Warum ist das so?
In einem Satz:
Verletzte Menschen verletzen Menschen.
Frühere Zurückweisungen. Enttäuschungen. Scham. Wunden, die nie geheilt sind. Gewalt von Tätern, die Opfer von Tätern sind, die Opfer von Tätern sind.
„Wie man Sorgen, Stress und Selbstzweifel loslässt“
Alle diese schmerzhaften Erfahrungen machen uns anfällig dafür, anderen zu schaden – und manchmal leider auch denen, die wir lieben.
Weil wir unseren Schmerz abladen, dem Ärger Luft machen wollen, statt uns der Wunde zuzuwenden. Uns endlich mal nicht als Opfer, sondern mächtig fühlen wollen. Nicht die einzigen sein wollen, die ungerecht behandelt wurden. Mauern bauen und lieber den anderen verletzen, bevor er uns weh tut. Überreagieren, beim kleinsten Anzeichen, falsch interpretieren, die Welt und die Leute verzerrt sehen. Oder im Schmerz nur noch um uns selbst kreisen und nicht mitbekommen, was wir den Mitmenschen antun.
Weil wir bisher keine bessere Strategie gefunden haben, mit unseren eigenen Verletzungen umzugehen.
Entschuldigt das alles? Nein.
Doch es kann helfen, uns das klar zu machen, wenn wir verletzt wurden. Denn es enthält zwei Lektionen:
- Es ist nichts Persönliches: Wenn uns jemand schlecht behandelt, hat das in den meisten Fällen nichts mit uns zu tun, sondern nur mit dem anderen. Vielleicht gelingt es uns, Mitgefühl für das Leid des anderen zu spüren. Das bedeutet nicht, dass wir ihm eine Lektion verpassen oder ihn ändern müssen. Vor allem bedeutet es jedoch nicht, dass wir sein Verhalten verdient haben.
- Was wir persönlich nehmen sollten, sind unsere Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen: Unsere Gefühle wollen gefühlt, Bedürfnisse gesehen und Grenzen eingehalten werden. Tun wir das im Falle einer Verletzung nicht, sammeln auch wir Wunden an, die „unheilsames Verhalten“ hervorbringen können, wie es die Buddhisten nennen. Wir dürfen gehen, wenn bleiben uns nicht gut tut.
Verletzte Menschen verletzen Menschen … aber das muss kein Teufelskreis sein.
Siehe auch Wie Deine „inneren Eltern“ Dich gefangen halten (und wie Du Dich befreien kannst) sowie Wie man aufhören kann, die Dinge zu persönlich zu nehmen.
Photo: Emily
… die Kette des Schmerzes durchbrechen…
Ich musste bei deiner Ausführung an Sara und Seth denken: Dort wir die „Kette des Schmerzes“ erklärt und dass es nicht wichtig ist, wer wann wie was begonnen hat aber dass WIR in jedem einzelnen Augenblick entscheiden können, ob wir uns zu einem Glied in der Kette des Schmerzes machen oder nicht.
So ist es eine Frage der Bewusstheit, wie sehr sich die Kette der Verletzungen fortsetzt. Bin ich in etwa in dem Masse bewusst, wie der, der mich zu verletzen scheint, dann scheint es darum zu gehen, mich zu wehren, um nicht niedriger, bzw unwerter zu sein. Und es geht um die bei mir vorhandenen Muster, die ich bereits angenommen habe. Gleichartige Muster reagieren und verstärken sich. Und als Verlierer bin ich verletzter als zuvor. Und so verstärkte und gelernte Muster gebe ich weiter in der Kette, soweit ich Resonanz finde.
Mit höherer Bewusstheit gibt es die auslösbaren Muster vielleicht auch. Wenn nicht, bin ich sowieso wenig verletzbar und auch wenig interessant für Angriffe. Auf jeden Fall kann ich bei einem „Angriff“ den Fokus eher von mir weg halten, es an mir abtropfen lassen, darüber hinweg sehen und gelassen bleiben, statt beleidigt oder gekränkt zu sein. Der Tuning Knopf wird einfach gedreht und es wird weniger zu meinem Thema.
Natürlich hat alles Grenzen, denn auch die niedereren Schichten der Bewusstheit gibt es bei mir. Und je nach Situation tritt der Fall ein in dem ich dann einfach authentisch reagiere und meine Bewusstheit einschränke.
Danke, Richard,
genau das ist es, was ich seit einiger Zeit für mich bearbeite: Muster auflösen, die mich in Unbewusstheit haben reagieren lassen. Erste Erfolge habe ich bereits wahrgenommen, aber ich gebe zu, dass es ein harter Weg ist…
Liebe Grüße,
Knoxi
Kann das nur sehr gut nachvollziehen. Ich arbeite als Krankenschwester, wenn die Patienten eine schlechte Diagnose bekommen reagieren sie meist auch mit aggressivem beleidigenden verhalten. Ich nehme das schon lange nicht mehr persönlich. Wenn Man den Grund weiß wieso sich Menschen so verhalten ist es leichter sich in die Lage rein zu denken und so ist es dann oft verständlich.
Liebe Grüße
Hi Tim,
die Passage „Wir dürfen gehen, wenn bleiben uns nicht gut tut“ ist für mich die wichtigste Aussage. Ich dachte nämlich eine zeitlang, dass ich wegen meines „neuen Bewusstseins“ jetzt über alles ganz gelassen hinwegsehen und -weglächeln soll.
Dann habe ich festgestellt, dass diese Nummer für mich nicht funktioniert und erlaube mir jetzt ganz gezielt, den Kontakt zu Menschen abzubrechen, die Arschlöcher sind, sich selbst hassen und ihren Hass auf mich abzuladen versuchen. Erst am Sonntag wieder bei einem Facebook-Kommentar zu meinem aktuellen Artikel geschehen – bezeichnenderweise von einem Menschen, mit dem ich mal in einer WG gewohnt habe und der sich mein Freund nannte.
Ich darf feststellen, was an den verletzenden Worten mich trifft und wo ich da vielleicht noch näher hinschauen will, dann erlaube ich mir eine kurze Phase der Wut, um dann demjenigen ganz gezielt das „Arschloch-Schild“ umzuhängen und in die Kiste zu den anderen Aussortierten zu stellen, die ich in regelmäßigen Abständen auf dem Sondermüllplatz meines Lebens ablade und nicht mehr wiedersehe.
Ist das zu krass? Für mich funktioniert es nur so auf die starke Art. Und schafft mir viel mehr Kraft, dass ich mich über die „normalen“ Aufreger des Leben (Warteschlangen, Zugverspätungen, Staus, etc.) schon lange nicht mehr aufrege. Mein Modell von Welt 🙂
Liebe Grüße
Mischa
Hi Mischa. Ich meine, Bewusstheit geht normalerweise einher mit Freiheit, also dem Gegenteil von sollen. Freier von Emotionen zu sein kann natürlich auch zu einem leichteren Darüber Hinwegsehen führen und auch einem Lächeln. Auf jeden Fall zu einem Darüber Hinwegsehen, einmal sich nicht darum zu kümmern was erwartet wird und was du sollst, sondern auch die Emotionen zu leben, so sie da sind.
Hallo Mischa,
ich finde „Vielleicht gelingt es uns, Mitgefühl für das Leid des anderen zu spüren.“ etwa genauso wichtig wie „Wir dürfen gehen, wenn bleiben uns nicht gut tut“. Letzteres allein kann für meinen Geschmack zu schnell zu einem Freifahrtschein werden im Sinne „Wenn es unbequem wird, kann ich ja einfach gehen.“. Für mich gehört in einem gewissen Maße in einer zwischenmenschlichen Beziehung auch dazu, den anderen mal auszuhalten, so wie er ist, mit seinen Verletzungen, die er hat und austeilt. Es geht mir nicht darum, alles mit mir machen zu lassen. Aber wie Tim so schön schrieb, geht es bei dem, was andere manchmal so von sich geben und mir an den Kopf brettern, erst in zweiter Linie um mich und in erster um etwas des anderen. Sich gegenseitig in solchem Momenten aushalten zu können, kann langfristig auch das Verhältnis mit dieser Person stärken. Also ja, mir kommt das Aussortieren schon ein bisschen krass vor.
Viele Grüße,
Juli
Also, ich könnte jetzt den Beitrag von Mischa hier nochmal hinschreiben. Ich mach das nämlich inzwischen so ähnlich.
Nur eine einzige fortwährende Verletzung, die sich über die Jahre/Jahrzehnte zu einer Bedrohung meiner Existenz entwickelt hat, die schreit noch nach „Revenge“ – und die wird sie auf die eine oder andere Art bekommen. Allerdings werde ich auch mein Möglichstes tun, um Kollateralschäden zu vermeiden, was dabei die größte (und auch wichtigste) Herausforderung ist.
Nur auf diese Art kann ich zum Endglied dieser epigenetischen Kette werden.
Sehr guter tread, bin fan von deiner seite tim
Sehr guter Artikel Tim, gefällt mir gut.
Danke für diese Erinnerung. Du hast hier sehr schön das Spiegelgesetzt erklärt. Ich schreibe gerade ein Buch, zu dem dein Artikel wirklich hervorragend passen würde. Darin wird deutlich zu erkennen sein, wie schnell man auch in glücklichen Zeiten in dieser Spirale landen kann…
[…] Siehe auch: Wie man aufhören kann, Dinge zu persönlich zu nehmen (in 30 Sekunden) und Verletzte Menschen verletzen Menschen. […]
Wie wahr und wichtig für jeden, der schon mal verletzt wurde.
Also wahrscheinlich für (fast) alle Menschen.
Ein besonderer Satz zu diesem Thema, den ich vor vielen Jahren überdenken (und letztendlich für gut befinden) durfte, ist:
„Arbeit mit Tätern ist (auch) Opferschutz“.
Irgendwann muss die Spirale durchbrochen werden, damit die Opfer von gestern nicht die Täter von morgen sind…
Wie du schreibst: beide Seiten sollten betrachtet werden, wenn möglich!
Das kann man so pauschal nicht sagen…………..
Ich war auch mal ein fettes Schwein, habe aber diese Verletzungen nie weitergegeben. Wenn man nämlich weiß, wie sich das anfühlt, versucht man andere eher vor diesen Schmerzen zu bewahren.
Selbst als sich im Laufe der Jahre ähnliche Situationen ergaben, habe ich das immer mit mir ausgemacht, anstatt es an anderen auszulassen.
Allerdings gestaltete sich dies anders, als man mich eben aus dem Wissen heraus, welche Erfahrungen ich als Kind machte, auf mir rumdrückte. Und da reagierte ich nicht auf das in der Kindheit, sondern unmittelbar auf dieses Tun an sich.
„Was wir persönlich nehmen sollten, sind unsere Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen: Unsere Gefühle wollen gefühlt, Bedürfnisse gesehen und Grenzen eingehalten werden. Tun wir das im Falle einer Verletzung nicht, sammeln auch wir Wunden an, die „unheilsames Verhalten“ hervorbringen können, wie es die Buddhisten nennen. Wir dürfen gehen, wenn bleiben uns nicht gut tut.“
Perfekt ausgedrückt Tim.
Genau so ist es.
Etwas, das ich seit Kindheit an immer gemacht habe und mir immer geholfen hat.
Wieder ein sehr guter Artikel und die Erkenntnis, dass es nichts mit mir persönlich zu tun halt, halte ich für am Wichtigsten.
Was nicht heißt, dass ich es stoisch über mich ergehen lasse, sondern meine Grenzen aufzeige.
Am Ende des Tages ist es meine Entscheidung, ob ich die Verletzungen zulasse oder einfach ein bisschen Mitgefühl für denjenigen empfinde und gehe.
Was nicht heißt, dass es einfach ist, aber es ist machbar.
Liebe Grüße
Melanie
Hallo Tim,
verfolge deine Beiträge erst seit einer Weile, bin jedoch wieder mal begeistert und sehr interessiert! Ich bin dein Fan … Danke
Probieren wir es doch einmal anders herum:
1. Es ist was Persönliches.
Was ich als verletzend empfinde, erinnert mich an etwas in mir, das darauf anspringt. Ich war auch einmal verletzend. Ein Radio, das diese Frequenz nicht empfangen kann, gibt diese Töne ja nicht von sich. Ist es nicht natürlicher, einfach einen Schritt zur Seite zu tun, wenn unangenehme Energie heranbraust?
2. Was wir persönlich nehmen sollten, sind die Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen des „Verletzers“. Denn seine Emotionen und sein Mangelempfinden sind ja offenbar da. Während ich doch mehr in der Energie der Liebe zu sein scheine. So ist es doch die Gelegenheit, mit etwas Liebe das zu transformieren, was ich einmal als Verletzer geschaffen habe. Wer weiss, vielleicht ist er unbewusst auf genau das angesprungen.
Klar sind wir uns selbst als erstes wichtig und dürfen uns alsbald abwenden.
So ist das Spiegelgesetz auch nur eine sehr abgekürzte Sichtweise. Natürlicht ist trotzdem was dran. Genauso wie beim „Nicht meine Sache“ Mantra. Solche abgekürtzten Dinger gefallen uns natürlich, wenn es uns zu viel wird. Wir fokussieren dann ganz natürlich unsere Bewusstheit und blenden alles aus, was gerade stört um nur momentan hier raus zu kommen.
Typische Mentalansätze eben. Leider auf längere Sicht kaum hilfreich. Denn auch der nächste Energiebedarf für die „Seine Sache“ Verdrängung wartet schon. Energie, die uns dann fehlt, um etwas geben zu können, damit wir auch für unsere eigenen Dinger etwas Gelassenheit, Akzeptanz und Unterstützung erhalten könnten.
Spirituell angekommen sind Menschen mit viel Abgrenzungsmantras wohl kaum. Auch wenn sie sich vielleicht so wahrnehmen aus der einen oder anderen zeitweiligen Erfahrung heraus.
Oh ja … und wir wurden alle schon verletzt und gaben es genauso weiter 🙁
Sehr guter Beitrag! Danke 🙏🏻
Jeder kann aussteigen aus diesem Drama-Dreieck (Opfer – Täter – Retter) und einfach aufhören! Sobald du bereit bist Verantwortung zu übernehmen!
Ein bisschen mehr Selbstreflexion kann da sehr helfen. Meist ist es ja so, dass jemand uns nicht so absichtlich verletzen will, er löst einfach nur alte, unverarbeitete Verletzungen in uns aus. Was uns selbst auch passiert, weil wir nicht wissen können, wo wir gerade als Kamel das Gras über den Wunden anderer abfressen.
Andererseits, will mich jemand absichtlich verletzen, dann sagt er mir sehr viel mehr über sich selbst als über mich. Meine Reaktion sagt etwas über mich. Und tatsächlich – mit Mitgefühl für das Leid der anderen ist die Verletzungsgefahr für mich selbst sehr gering. Ich muss niemandem etwas antun, der um sich schlägt aus eigener Angst und eigenem Schmerz. Ich muss mir nur bewusst machen, was da bei mir abläuft und kann durchaus auch sehen, was da beim Anderen abläuft. Mich verletzt zu fühlen, ist immer meine Entscheidung. Aber es erfordert den Willen und den Mut, sich mit eigenen Anteilen auseinander zu setzen.
Ich mag Deine Seite sehr, Tim. Danke dafür.