Teile diesen Beitrag "Wie wir die Macht des Zufalls für unser Leben nutzen können"
Text von: Lena Schulte
Mein Lateinlehrer war der personifizierte Nervenkrieg. Ich werde nie vergessen, wie er zu Beginn der Stunde vor der Klasse stand und seine Finger mit lauernden Bewegungen über die Kursliste strich. Und während er das Opfer für den nächsten mündlichen Test suchte, murmelte er mit heiterem Grinsen auch gerne mal: „Casus et natura in nobis dominantur.“ Zufall und Natur herrschen über uns.
Inzwischen muss ich nicht mehr befürchten, vor meinen Mitschülern in meine intellektuellen Einzelteile zerlegt zu werden – aber Situationen, die nicht planbar sind, denen ich ausgeliefert bin und in denen der Zufall reagiert, bereiten mir doch noch ein bisschen Argwohn.
Der Irrtum der Kontrolle
Es heißt, Erfolg fällt nicht vom Himmel. Harte Arbeit, Leidenswille und viel Durchsetzungsvermögen – die Liste, die es für Schampus und Moneten abzuarbeiten gilt, ist lang. Dass Erfolg auch etwas mit Zufall und Glück zutun haben könnte…? Damit lassen sich weder Herzen bei den „Wo sehen Sie sich in zehn Jahren“-Gesprächen gewinnen, noch Erfolgsliteratur verkaufen. Kein Wunder also, dass wir bei unseren Lebens- und Karriereplanungen lieber weniger dem Zufall überlassen wollen. Besser noch klarere Strategien erarbeiten, jeden Schritt sorgsam planen und Woche für Woche durchorganisieren. Wir neigen dazu, die Planbarkeit und Kontrollierbarkeit der Welt zu überschätzen, wie Forscher der Universität Cambridge und Warwick herausgefunden haben. Besonders Manager sind anfällig für diesen Trugschluss.
Die Kehrseite unserer Planungsfreude liegt auf der Hand: Wir werden unflexibel und steif in unserem Denken. Läuft alles nach unseren Plan, sind wir zufrieden und fühlen uns sicher. Macht uns das Leben jedoch unerwartet einen Strich durch die Rechnung, erstarren wir oft zur Salzsäule, fühlen uns hilflos und sind der neuen Situation völlig ausgeliefert.
Damit das nicht (mehr) passiert, können wir den Zufall üben. Genauer gesagt können wir üben, uns an seine Überraschungskraft zu gewöhnen.
Prüfe Deine Grundhaltung zu Veränderungen
Es gibt ein bekanntes Zitat von Joachim Ringelnatz: Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht. Dass es keine finale Sicherheit gibt und sich das Leben schlagartig in eine unvorhergesehe Richtung entwickelt, war für mich lange Zeit sehr schwer zu ertragen. Ungeplante Veränderungen bedeuteten für mich nur Negatives. Allein daran zu denken, ließ gleich die schlimmsten Katastrophenfilme in meinem Kopf anspringen. Dementsprechend katastrophal empfand ich im ersten Moment auch jede unvorhergesehene Planänderung – selbst, wenn sie im Nachhinein auch Gutes bedeutete.
Es wurde einfacher, als ich anfing, mich mit der Idee anzufreunden, dass Planung im Leben nur die halbe Miete ist. Inzwischen glaube ich, dass Erfolg nicht nur viel Einsatz und Planung verlangt, sondern auch etwas mit der Fähigkeit zutun hat, geschickt auf Zufälle reagieren zu können – und das Beste aus ihnen zu machen. Das gelingt einfacher mit einer positiven Grundhaltung zum Zufall. Das gibt uns Kraft und Zuversicht, Ungeplantes gut meistern zu können. Wie oft haben wir schließlich schon das Beste aus einer Situationen gemacht, die im ersten Moment nicht überstehbar erschienen? Erinnere Dich an diese Kraft, die in die steckt.
Plane so gut und ausführlich, wie du kannst. Aber behalte im Hinterkopf, dass Du die Erfüllung Deiner Pläne kein Grundrecht des Lebens sind. Und das ist okay. Du bist stark genug, um allen ungeplanten Hürden entgegentreten zu können.
Bereite Dich mental auf den Zufall vor
Bedeutet: Den Zufall nicht nur als eine möglich eintretende Eventualität in Betracht ziehen, sondern auch aktiv Szenarien im Kopf durchspielen, auf die wir souverän reagieren wollen. Nehmen wir zum Beispiel schlagfertige Menschen: Ihre Lockerheit und ihr Improvisationstalent erscheinen wie von Gott gegeben. Aber Herr der Lage zu bleiben ist eine Fähigkeit, die geübt werden kann. Wenn uns der Zufall ängstigt, dann können wir überlegen: Was wäre das Schlimmste, was mir unvorhergesehen passieren kann? Wie kann ich darauf am besten reagieren? Welche Möglichkeiten stehen mir zur Verfügung? Was kann ich jetzt schon tun, um später bestmöglich zu handeln?
Die mentale Vorbereitung hat Vorteile: Wir haben keinen situativen Zeitdruck im Nacken sitzen, der unser Denken einengt, sondern wir können uns in Ruhe verschiedene Varianten durchspielen. Mich beruhigt diese Übung. Das Wissen, Handlungsalternativen parat zu haben, gibt mir das Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Praktiziere den Zufall selbst regelmäßig
Wenn der Zufall in unserem Leben eine präsente Rolle spielt, ist der Gewöhnungseffekt auf unserer Seite. Warum den Zufall also nicht selbst auf positive Weise in unser Leben holen? Der Kabarettist Vince Ebert schlägt dafür vor, das Leben mit unorthodoxen Ideen aufzufrischen und gewohnte Dinge mal anders zu machen als gewöhnlich.
Ich mag die Idee, vergesse sie aber oft wieder, oder habe zu viel Angst, wenn sich eine Gelegenheit ergibt. Deswegen übe ich langsam: Pro Monat gibt es für mich immer nur eine „große“ (aber nicht zu große) ungewöhnliche Aktivität, die ich an irgendeinem zufälligen Tag mache. Meine aktuelle Monatsaufgabe ist, eine Unterhaltung mit einem Fremden zu beginnen – ohne mir vorher Mut anzutrinken. Die Monate davor habe ich einfach verschiedene Wege zur Arbeit oder zum Sport genommen, oder ich habe eine Person angerufen, an die ich spontan denken musste.
Das wichtigste dabei ist, dass wir uns wohl genug fühlen, um das, was danach auch immer kommen mag, gelassen hinnehmen zu können. Im besten Fall lernen wir, Freude dabei zu empfinden, wenn wir uns mit dem Zufallsprinzip selbst herausfordern. Je mehr wir unseren Blick für das Ungewohnte schärfen, desto höher sind die Chancen, das Gewohnte aufzufrischen.
Mehr unter Du kannst das Leben nicht kontrollieren und unter Warum Du zulassen statt loslassen solltest.
Photo: Zufall von kaprik / Shutterstock
Ist das nicht ein düsteres Bild? Selbst „Zufall praktizieren“ mussen wir planmässig üben. Mit Ängsten sassen wir in der Schule, der Scham ausgeliefert. Lehrer, die uns Traumata mit auf den Weg gaben. Alles durchdrungen vom Maskulinen, Strategischen, totem Wissen, das uns über die nächste Stunde retten soll. Selbst Frauen schaffen sich solche Schalen an. Und fast alle leiden dann. Das Heilsame, Lebendige, Interesse Weckende von innen wird unterdrückt und vergessen. Bald sind wir dem Burnout nahe und wollen unsere Rettung in Büchern finden.
Natürlich sind das dann zunächst Strategiebücher und Rezepte. Für anderes sind wir zu rational denkend und Vertrauen in das was kommt wie es kommt haben wir lange verlernt. Oft finden wir es auch nicht wieder bei bestem Vorsatz. Zu hart die Schale. Zu schmerzhaft das darunter. Zu fest verankert die Glaubenssätze. Zu unplausibel ein mögliches Heilen, wenn nur immer noch mehr schmerzhaftes erscheint auf dem Weg nach innen.
So glauben wir dem Kopf und füttern ihn. Planen nun eben, dem Zufall die Angst zu nehmen. Die versprochene erlernbare Lösung beruhigt. Es fühlt sich beim Lesen gar wie Heilen an. Zumindest glauben wir wieder eine Weile an eine Besserung. Und irgendwie bekommen die Blocken tief innen doch etwas Energie mit. Vielleicht wird auch immer soviel abgebaut dabei wie täglich neues aufgestaut wird. Nur, wie weit ist es denn noch bis zum gesunden Fluss? Der Kopf meint ja beim Lesen, wir seien gleich da.
Klappt vielleicht, wenn man sich selbst „Ungewohntes“ aussucht, aber ich kann mir schlecht vorstellen, dass man dann „flexibler“ reagiert, wenn das Leben einem größere Katastrophen wie zb. Im Rollstuhl sitzen nach einem Unfall gibt.
Wäre es „nur“ der Arbeitsplatz, dann könnte man ja einen neuen suchen.
Aber bei größeren, wichtigeren Dingen hilft meiner Meinung das selbstausgesuchte Mutig-Sein-Ausprobieren nicht viel.
Ja, es ist, wie es ist.
Aber bei einigen Dingen ist das nicht leicht zu ertragen.