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Text von: Romy Hausmann

„Ich bereue nichts. Reue ist sinnlos. Du hast es ja schon gemacht, Du hast dein Leben gelebt. Es nützt Dir nichts, zu wünschen, es wäre anders.“ – Lemmy Kilmister.

Es ist kurz nach Mitternacht, ich sitze auf meiner Couch, im Holzofen verglimmen die letzten Scheite. Ich lächle in die Stille hinein. Es ist mein Geburtstag. Wieder ein Lebensjahr vorbei, ein neues beginnt – und damit die zweite Hälfte der großen Drei.

Inzwischen kann ich Geschichten erzählen, die mit „Vor zehn Jahren“ beginnen oder manchmal auch mit „Als ich in Deinem Alter war“ (kommt übrigens besonders gut bei Freunden, die nur ein paar Monate jünger sind als ich) – und sie handeln erschreckenderweise trotzdem nicht von der Sandkasten-Liebe oder meinen Schulzeiten, sondern von meinem Erwachsenen-Leben samt eigener Steuernummer, Rentenversicherung und erster grauer Haare. Ich kann von Träumen erzählen, die ich einmal hatte. Träume, von denen sich einige erfüllten, und von anderen, die zerplatzten wie fette, klebrige Kaugummiblasen – plopp! – mitten in meinem Gesicht. Heute Nacht kommt einiges hoch, ist einiges da, um Inventur zu machen. Meine Lebens-Entscheidungen stehen vor mir wie aufgereiht in einem Regal. Manche rücke ich ganz nach vorne in die erste Reihe, weil sie dekorativ sind und was hermachen. Andere schiebe ich lieber ganz nach hinten, weil sie nicht so hübsch sind und niemand sie unbedingt gleich sehen soll. Die ich vielleicht sogar selbst nicht so gerne sehe.

Bestimmt kennst du diese Art der Rückschau, die Inventur, die wohl jeder von uns ab und zu mal macht, egal wie viele Kerzen auf dem Geburtstagskuchen brennen. Da ist das „Hätte ich doch mal…“, genau wie das „O Gott, wie konnte ich bloß…?“.

Da sind die falschen Männer (oder Frauen), die einem das Herz aus der Brust gerissen haben – was man doch eigentlich hätte von vornherein erahnen müssen. Die Herzen, die man selbst gebrochen hat. Da sind die falschen Abzweigungen, die falschen Worte zur falschen Zeit, die kurzen Momente der Unachtsamkeit, in denen man die Welt eines anderen in Schutt und Asche gelegt hat.

Da sind die Dinge, die sich im Kopf viel besser angefühlt haben wie als in der Realität.

Wie die große Karriere, die man sich schon als Kindergartenkind ausgemalt hat. Auf die man jahrelang hingeackert hat. Für die man auf so vieles verzichtet hat. Die das Konto und das Ego tatsächlich prall gemacht hat – allerdings auf Kosten der Gesundheit und des Privatlebens. Die fette Karriere, die sich einsam anfühlt, wenn man als Letzter im Büro sitzt oder alleine unterm Weihnachtsbaum.

Oder wie die Ehe, die wie im buntesten Hollywood-Märchen begann und ein paar Jahre später in einem wortkargen Schwarz/ Weiß-Kammerspiel endet (oder schlimmer noch: im Horrorfilm).

Annehmen und loslassen

Wir bedauern und bereuen viel „lieber“, als die Altlasten loszulassen, uns trocken zu schütteln wie ein Hund sein Fell, nachdem er in einen Regen gekommen ist, und weiterzumachen. Vielleicht sogar neu anzufangen. Denn Veränderungen machen uns erst einmal Angst, das liegt in unserer Natur. „Loslassen“, was doch eigentlich nach Leichtigkeit klingt, stellt sich als ein fast unmenschlicher Kraftakt heraus.

Dabei vergessen wir oft, dass es unsere Entscheidungen – die guten, vor allem aber auch die schlechten – waren, die uns überhaupt erst hierher gebracht haben, an diesen Ort, zu dieser Zeit. Sie haben den Menschen aus uns gemacht, der wir jetzt sind.

Was, wenn uns klar würde, dass alles genau so sein muss wie es ist?

Dass wir richtig sind, so wie wir sind?

Dass wir richtig sind, dort wo wir sind?

Dass die Entscheidungen, die wir heute in die Kategorie „Wie konnte ich bloß?“ einordnen, oft gar nicht gänzlich falsch sein können, wenn sie sich damals richtig angefühlt haben (sonst hätten wir sie wahrscheinlich nicht getroffen)?

Dass Reue überhaupt erst durch gelebtes Leben entstehen kann? (Schon klar, wer sich nicht vom Fleck bewegt, tritt auch nicht daneben. Kommt aber letzten Endes auch nicht voran.)

Die richtige Dosis „Ach, hätt‘ ich nur…“

Der amerikanische Psychologe und Autor Neal Roese regt in seinem Buch „If Only: How to Turn Regret Into Opportunity“ zu einer neuen, positiveren Betrachtungsweise an.

Denn: „Zweifel und Bedauern spielen eine wesentliche Rolle beim Lernen, für den Erkenntnisgewinn und die persönliche Weiterentwicklung.“ Zwar sei die Beschäftigung mit verpassten Chancen und falschen Entscheidungen im ersten Moment schmerzhaft – langfristig verhelfe sie uns aber zu mehr Zufriedenheit, weil sie unser Bewusstsein für zukünftige Situationen schärfe.

Roese nennt das „kontrafaktisches Denken“, das heißt: Denken entgegen der Faktenlage. Dabei unterscheidet er zwei Arten von „Was wäre gewesen, wenn…?“

Bei der ersten, dem sogenannten „aufwärts gerichteten Vergleich“, stellen wir uns den günstigeren Ausgang einer erlebten Situation vor. Zum Beispiel: Wäre ich bloß mutiger gewesen und an diesem Tag in den Flieger nach New York gestiegen statt in den Zug nach Gelsenkirchen, dann säße ich heute in einem fetten Penthouse an der Upper East Side und nicht an Muttis Kaffeetisch. Diese Betrachtungsweise ist oft mit Selbstvorwürfen verbunden und verschlechtert unser Wohlbefinden erst mal massiv. Langfristig ist das aber genau die Art von Vergleichen, die für einen Lerneffekt sorgt und uns anspornt. Wir denken: „Das nächste Mal handele ich anders“ – und setzen dies im besten Fall auch um.

Die zweite Art nennt Roese „abwärts gerichteten Vergleich“, bei dem wir uns vorstellen, dass es uns noch weitaus schlechter hätte treffen können. Immerhin ist es nur Muttis Kaffeetisch – und nicht der von Tante Erna, deren Geschichten unerträglich sind (und wahrscheinlich auch alle mit „Als ich in Deinem Alter war…“ beginnen). Diese Betrachtungsweise spendet uns unmittelbar Trost und gibt uns ein gutes Gefühl für den akuten Moment.

Zusammengefasst kommt Roese zu dem recht tröstlichen Ergebnis, dass wir falsche Entscheidungen letzten Endes leichter verarbeiten als das Gefühl, etwas verpasst zu haben: „Es gibt einen großen Unterschied im Bedauern von Handlungen und Nicht-Handlungen. In Untersuchungen stellt sich immer wieder heraus, dass wir leichter mit einer Situation fertig werden, in der wir eine Entscheidung getroffen haben, auch wenn sie falsch war. Man wird den Fehler erfassen, Erklärungen dafür finden und ihn irgendwann vergessen. Im Gegensatz dazu hält das Gefühl wesentlich länger an, irgendwann etwas versäumt zu haben, zu zögerlich gewesen zu sein. Die meisten Menschen bereuen im Lebensrückblick die unterlassenen Handlungen.“

Also rücke ich meine Gläser im Regal zurecht, erlaube auch den hässlicheren ein Plätzchen weiter vorne. All die Dummheiten und Unachtsamkeiten, die Kurzschlüsse, über die ich heute nur den Kopf schütteln kann. Indem ich sie sehe, erinnere ich mich daran, wer ich sein will – und wer nicht. Und das ist eigentlich gar kein so furchtbares Gefühl, wie ich noch zu Anfang dieser Nacht dachte. Ich gehe hinüber zum Plattenspieler und lege mir mein Geburtstagsständchen auf. Non, je ne regret (fast) rien…

Mehr unter Wie man eine positive Einstellung gewinnt und im myMONK-Buch Wie man Sorgen, Stress und Selbstzweifel loslassen kann.

Photo: Alone / Shutterstock