Teile diesen Beitrag "Wie man Tragödien, Herzschmerz und Ängste leichter überwinden kann"
Manchmal dauert’s nur Sekunden und das ganze Leben fällt zusammen. Nichts mehr da als Staub, der sich auf die Augen und die Lungen legt und uns die Sicht und die Luft zum Atmen nimmt, und es fühlt sich an, als müssten wir ersticken und die Trauer und der Schmerz spielen dazu ein Orchester, schwer und langsam und scheinbar ohne Ende, ohne Ende, ohne Ende.
Geliebte Menschen, die uns übergehen oder hintergehen; Menschen, die gehen wollen oder gehen müssen, uns entrissen werden; geliebte Tiere, vertrauter als jeder Mensch und auf einmal nicht mehr da; geliebte Jobs, geliebte Heimat, geliebte Sicherheit, die wieder nur eine Illusion war.
Wohin nur mit all dem Leid?
Alles muss raus (Alles darf raus)
Studien zufolge, so der Journalist Eric Barker, müssen Traumatisierte, die ihren Schmerz nicht ausdrücken, zu 40 Prozent häufiger wegen körperlicher Erkrankungen einen Arzt aufsuchen als jene, die offen über ihre Erfahrung sprechen. Menschen, deren Ehepartner sich umbrachten oder in einem Autounfall tödlich verunglückten, waren im Jahr nach dem tragischen Ereignis gesünder, wenn sie sich mitteilten. Ähnliche Zusammenhänge fand man bei Menschen, die zum Beispiel an AIDS oder Krebs erkrankt waren, unter einer Trennung oder einem Jobverlust litten oder mit Angststörungen zu kämpfen hatten.
Zwar können Gespräche also sehr heilsam sein, nur haben leider nicht alle von uns richtig gute Freunde oder Familienmitglieder, die uns wirklich nah sind, und selbst wenn wir sie haben, wollen wir unsere Verletzbarkeit vielleicht nicht vor uns ausbreiten, sondern sie lieber tief in der Tasche verbergen, aus Scham oder aus Angst, jemand könnte auf dieser Verletzbarkeit herumtreten und uns damit endgültig vernichten. Nicht zuletzt deshalb, weil genau das schon mal oder schon oft passiert ist, weil wir auf Ablehnung stießen, wo wir offene Arme und offene Herzen so sehr gebraucht hätten.
Wohin also mit all dem Leid, wenn wir niemanden haben, dem wir uns anvertrauen können oder wollen?
Am besten auf ein Blatt Papier.
– Es von der Seele schreiben.
Warum uns Schreiben befreien kann (Mein Freund, das Papier)
James Pennebaker, US-amerikanischer Psychologie-Professor und Autor des Buchs Expressive Writing: Words That Heal dazu in selbigem:
Hunderte von Studien der letzten 30 Jahre haben gezeigt, dass sich Menschen mit schwierigen Erlebnissen glücklicher und weniger negativ fühlten, nachdem sie darüber schrieben, was gerade in ihnen vorgeht. Depressive Symptome, das ewige Wiederkauen der Erlebnisse sowie das grundsätzliche Angst- und Stressniveau verringerten sich in den Wochen und Monaten nach dem Schreiben darüber. Andere Studien belegten, dass das generelle Wohlgefühl dadurch gesteigert wurde und das Gehirn besser funktionierte.
Und es hat auch im Außen sichtbare Effekte, wie Studien mit Leuten belegten, die ihren Job verloren. Acht Monate, nachdem sie darüber schrieben, hatten 52 Prozent von ihnen einen neuen Job – aus der Gruppe derer, die nicht darüber schrieben, fanden dagegen nur 20 Prozent eine neue Anstellung. Und das, obwohl beide Gruppen an derselben Anzahl von Bewerbungsgesprächen teilnahmen.
Das Schöne am Schreiben ist: Wir können ohne Risiko vollkommen ehrlich sein. Müssen uns nicht darum sorgen, wie das Gegenüber damit umgehen wird. Es wirkt zum einen so gut, weil wir uns öffnen. Zum anderen, weil es unseren Erfahrungen Struktur verleiht, sie einordnet, ihnen Sinn verleiht und sie damit erträglicher macht.
Ich selbst fing damit an in einer Zeit, als es mir schlecht ging und ich mit niemandem darüber sprechen wollte. Kurzgeschichten waren’s bei mir . Sehr kurze sogar, und Geschichten kann man sie auch nicht nennen, es passierte nichts darin. Aber sie halfen mir, obwohl ich am Anfang Wein trinken musste, denn nüchtern vertraute ich nicht mal einem Blatt Papier genug. Auch heute noch ist das hier, myMONK, manchmal Therapie für mich. Wer weiß, vielleicht ist es ein Hauptgrund, warum ich hier bin und Du mein Zeug liest.
Wie uns Schreiben am besten helfen kann (Tipps aus der Wissenschaft)
Du kannst einfach ein Blatt Papier nehmen und drauf los schreiben, oder Dich an den Computer setzen. Alles, was Dir in den Sinn und in den Unsinn kommt, in den Kopf fährt oder durch die Glieder, alles ist gut und darf sein.
Es gibt keine Regeln. Aber ein paar Tipps, wenn Du möchtest.
Pennebaker empfiehlt:
- Nimm Dir vier Tage hintereinander je 20 Minuten vor. Studien zufolge kannst Du damit die größte Wirkung erzielen. Du kannst auch länger als 20 Minuten schreiben, und länger als vier Tage, aber viermal 20 Minuten ohne einen Tag Unterbrechung sind die Unterkante der Empfehlung aus der Forschung (obwohl das Schreiben auch schon einmalig angewendet den Schmerz lindern kann).
- Am besten eignen sich die Abende, wenn die Aufgaben des Tages hinter Dir liegen und eventuelle Mitbewohner im Bett. Wichtig ist jedoch vor allem, dass Du Ruhe dafür hast, nicht gestört wirst und hinterher noch ein bisschen über das Geschriebene reflektieren kannst.
- Schreib, schreib, schreib. Grammatik? Egal. Rechtschreibung? Egal. Aufbau und Logik? Egal. Es geht ums Ausdrücken, nicht ums Beeindrucken. Von Bedeutung nur: dass Du einfach schreibst, was Dich bedrückt und was Du denkst, ganz für Dich allein. Über ein bestimmtes Ereignis oder verschiedene. Über Deine tiefsten Ängste, Deine Wut, Trauer oder Deine Zweifel. Halte nichts zurück, denk nicht zu viel bewusst drüber, lass es einfach raus. Je mehr Du Deine Gefühle dabei aufs Blatt bringt, je ehrlicher Du dabei bist, umso mehr belohnt Dich diese Übung.
- Schreib darüber, wie sich das Ereignis auf andere Lebensbereiche ausgewirkt hat. Was der Jobverlust beispielsweise für Deine Beziehungen bedeutet, oder wie Dir ein Ereignis aus Deiner Vergangenheit noch heute in verschiedenen Situationen Probleme bereitet.
- Schreib einen Brief, wenn Dich das Verhalten eines Anderen verletzt hat. Du musst ihn nicht abschicken, entscheidend ist nur, dass Du ihn schreibst. An den Ex etwa, der Dich sitzen lassen hat, im Brautkleid, oder an Deinen Vater, für den Du nie gut genug warst (siehe „Wie Deine inneren Eltern Dich gefangen halten“). Du kannst Dich auch in den Anderen hineinversetzen und ihn in einem zweiten Brief „antworten“ lassen.
- Schreib aus der Sicht eines Anderen. Manchmal platzen dabei Knoten – neuere Studien zeigen zum Beispiel, dass Trauma-Patienten am meisten profitieren, wenn sie das Ereignis auch aus der Sicht eines Mitmenschen beschreiben (am besten auch hier auf persönliche Weise, nicht aus der kalten Perspektive eines gelangweilten, distanzierten lokalen Zeitungsreporters, der noch eine halbe Seite zwischen Artikeln über Hundeausstellungen und Kreuzworträtseln füllen muss).
- Verbrenn es, lösch es, iss das Papier am Ende auf, wenn Du Dich damit wohler fühlst. Ich hätte nie im Leben ein klassisches Tagebuch führen können, das von vornherein niemand lesen soll, zu groß wäre meine Angst gewesen, dass es in falsche Hände kommen könnte; schlimmer, als plötzlich nackt auf dem Marktplatz aufzuwachen.
Wenn besonders heftige Gefühle dabei aufkommen, helfen Dir vielleicht die Texte „Wie man schmerzhafte Gefühle überlebt“ und „Wie man schwierige Gefühle überlebt“.
P.S.: Je nach Schwere lässt sich natürlich nicht immer die ganze Tragödie, die ganze Angst, der ganze Schmerz überwinden in 4 x 20 Minuten. Aber ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass in dieser kurzen Zeit sehr viel Gutes passieren kann, ein ordentliches Stück Heilung.
P.P.S.: Wenn Du mehr über die Wirkung des Schreibens lesen möchtest, findest Du hier eine weitere Übung: Wie man seine geheimsten Ängste, Fantasien und Muster aufdeckt (ohne Therapie)
Photo: Hernán Piñera
Hi Tim,
schöner Beitrag. Manchmal kommt mir selbst mein Reiseblog wie eine Therapie vor 😉
Ich kenne bisher nur die Tipps Morgens zu Schreiben, dass es das für Abends in dem Zusammenhang gibt, finde ich spannend.
Bei Punkt 5 schreibst du, „du musst ihn nicht abschicken“. Vielleicht würde ich hier sogar soweit gehen und sagen, überlege dir mindestens eine Woche, ob du ihn wirklich abschicken willst. Du schreibst ihn für dich. Nicht für denjenigen, der das Gefühl mit“verschuldet“ hat. 🙂
Liebe Grüße
Tanja
Richtig.. wie eine Therapie.
Übersehen wird jedoch, dass der Leser die Krankheit nicht nur erkennt sondern auch ertragen muss.
Ein Schreiber schreibt das was er selbst lesen will. Das Motiv ist die Hoffnung, wie immer diese auch aussehen mag. Dennoch muss derjenige, der schreibt, nicht unbedingt identisch mit demjenigen sein, der sein Gesicht zeigt.
Hey Tanja,
ja, das Konzept der „Morgenseiten“ scheint mir etwas mehr verbreitet zu sein. Wenn es aber um etwas Schmerzhaftes geht, ist das für viele aber etwas anderes. Wenn man zum Beispiel weiß, man muss in ner Stunde los, in die Arbeit, möchte man dann wirklich riskieren, so aufgewühlt und weinend rauszugehen?
Grundsätzlich gibt’s da aber natürlich kein Richtig oder Falsch, whatever works! 🙂
Liebe Grüße
Tim
@Tim: Da fängt dann ein Arbeitstag schon richtig gut an 😉
Wobei ich auch jene bewundere, die sich 4 Tage mit schmerzhaftem Beschäftigen. Falls ich gerade nicht dran denke, wöllte ich es nicht heraufbeschwören …
@Stephan: Wahrscheinlich gilt der Satz „über die mindestens eine Woche, ob du ihn wirklich abschicken willst“ auch für Therapie-Blogbeiträge 😉
Liebe Grüße
Tanja
Hallo Tim!!
Ich lese fast alles von dir und manchmal denk ich mir einfach „was für ein Genie“!!!
Danke für diesen Artikel …. sehr, sehr gut!!!
LG Sonja
Hey Sonja,
Dankeschön, dass Du myMONK Deine Zeit schenkst und natürlich auch für Dein Kompliment! 🙂
Liebe Grüße
Tim
Schreiben hilft mir besonders, meine Gedanken zu sortieren und nochmal auf Richtigkeit zu prüfen.
Das ist auch eine gute Sache, Aljoscha – auch jenseits von Schmerz.
Ein wunderbares Werkzeug, das Schreiben, mit dem wir den Speicher der Emotionen erreichen und bewusst dabei immer wieder verweilen. Und das ist es wohl, was es braucht, um den Speicher abzutragen, wenn die Energie durch den Körper fließen darf und die Mauern durchlässiger werden.
Ob es die Überschrift in dieser Art gebraucht hätte? Wie müssen ja nicht unbedingt einem wertvollen Text diesen Anstrich geben.
Hey Richard,
ein klares >Nein< auf Deine Frage. Auch wenn ich grundsätzlich auf solche Zeitangaben stehe, kommt sie mir bei diesem Thema heut Morgen selbst ziemlich unpassend vor ... also raus damit. Danke für Dein Feedback dazu. LG Tim
Gerne, tut auch gut.
Hallo Tim,
Schreiben ist ein Wundermittel, das habe ich schon immer gedacht. Wenn man den ganzen Tag vor sich hingrübelt und einfach nichts effektives bei raus kommt, dann eröffnet das Aufschreiben mir meist eine völlig andere Perspektive. Ich komme dann auf Lösungen & Sichtweisen, an die ich vorher nie gedacht hätte. Fast so, als würde Schreiben tief aus dem Unterbewusstsein kommen – also aus dem Herz und weniger aus dem Verstand.
LG und danke für den Anstoß
Anja
Hey Anja,
Danke für Deinen Kommentar.
Wie gehst Du’s denn an – nimmst Du Dir ein Thema vor oder lässt Du’s einfach fließen? Und ergeben sich die neuen Perspektiven dabei von selbst für Dich oder tust Du dafür etwas Bestimmtes?
Liebe Grüße
Tim
Hey Tim,
tatsächlich lasse ich es einfach fließen ohne darüber nachzudenken. Da kommt ganz automatisch was Brauchbares raus. Ich weiß auch nicht genau wie das funktioniert, aber die nützlichsten Texte schreibe ich (für mich oder auch andere), wenn ich ohne Plan einfach den Stift in die Hand nehme und anfange. Mein Unterbewusstsein weiß scheinbar genau, was mich beschäftigt und wozu ich eine Lösung parat habe.
LG!
Das Schreiben hab ich für mich auch schon als Therapie entdeckt. Es hilft wirklich ungemein! Danke für deine tollen Tipps 🙂
Hugs,
Linda
Dankeschön Linda!
Die meisten Leute die regelmäßig schreiben – sei es nun professionell oder nicht – kennen die befreiende Wirkung davon. Für einige soll es überhaupt erst der Anlass zur Schreiberkarriere gewesen sein.
Ich schaffe es darum nicht zu schreiben, weil es mir so nah ist. Als könnte das Papier mich nackt und beschämt zurücklassen. Ach ja, das Leben ist schon seltsam. Liebe Grüße
Das macht nichts, Ellie, aus meiner Sicht. Dann bist du noch nicht bereit für diese Nähe und es braucht eine sanftere Annäherung, so wie wir das auch mit EFT sanft angehen. Hauptsache du nimmst gefühlsmässig Kontakt auf zu dem was zu nah erscheint. Beschreibe einfach eine Metapher, ohne dem Ding einen Namen zu geben. Stell es dir in einer Kiste weggeschlossen vor und benenne es nicht direkt. „Dieses Ding in der Kiste so weit weg, das macht hin und wieder etwas mit mir …“ usw.
LG Richard
Danke für die direkte Antwort. Ich werde über den metaphorischen Kunstgriff nachdenken. Bin aber manchmal schon personifizierte Metapher 😉
Interessant finde ich es, dass Du sagst, man müsse bereit sein für bestimmte Dinge. Dieser Gedanke ist beruhigend, nimmt die innere Unruhe, den Zweifel… lieben Gruß, Ellie
Hallo Tim!
Danke für deine vielen tollen Texte.
Das mit dem Schreiben finde ich genial.
Liebe Grüße, Heike
Hihi,jetzt weiß ich auch endlich,warum ich die letzten Tage schon immer den Drang verspürt habe,endlich wieder meinen Schreibtisch vom Dachboden zu holen und aufzubauen,obwohl ich eigtl gar keinen Platz mehr für ihn habe…irgendwas in mir hat die ganze Zeit gesagt,ich bräuchte endlich wieder einen Platz,an dem ich gescheit schreiben kann…
Viel ist gerade wieder los bei/in mir und es fällt mir schwer,damit umzugehen und in letzter Zeit hatte ich wieder vermehrt den Drang,viel hier zu lesen…vllt ist es wirklich gar nicht so schlecht,es aufzuschreiben,weil man nicht drüber reden kann/mag…
Danke dir!