Teile diesen Beitrag "Es ist okay, wenn Du (noch) nicht verzeihen kannst"
Text von: Lena Schulte
Schmerzhafte Erinnerungen können wie eine Krankheit sein, die nur durchs Verzeihen geheilt werden kann.
Gandhi sagte: „Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft der Starken.“
Was aber, wenn wir (noch) nicht verzeihen können – oder wollen?
Macht uns das etwa zu schwachen, kleingeistigen Menschen?
Wenn Vergebung zur Last wird
Manchmal stecken wir in Situationen fest, in denen wir zwar durchaus wissen, dass ein einfaches „Schwamm drüber“ die ganze Geschichte und das Weiterleben so viel einfacher machen würde. Wären da nur nicht diese Geschehnisse, die unser ganzes Leben verwüstet haben. Die wir dann erst einmal mühsam aufräumen müssen, um überhaupt wieder irgendwie klar zu kommen.
Selbst wenn wir dann den alten Erinnerungsballast endlich abwerfen und verzeihen wollen, heißt das noch lange nicht, dass es sofort funktioniert. „Denk einfach nicht mehr dran“, hören wir oft. Würden wir ja – wenn wir es könnten.
Stattdessen: Der Kopf voll von Gedanken, die an unserer Nächstenliebe kratzen, Vertrauensängste schüren und uns selbst in Frage stellen. Wir stehen da, im Treibsand unserer Enttäuschungen, mit dem schweren Du-musst-verzeihen-Ratgeber in der Hand, der uns dummerweise noch stärker nach unten drückt. Und das versprochene glücklich-unbeschwerte Leben steht daneben und zuckt ratlos die Schultern.
Warum Verzeihen so schwer sein kann
Wenn ich an meine Idealform des Verzeihens denke, dann an etwas sehr Reines und Gütiges. An einen uneigennützigen und abschließenden Vorgang, frei von Forderungen nach einer ausgleichenden Gegenleistung, der auch den anderen seelisch und moralisch entlastet.
Allerdings komme ich nicht aus Nazareth.
Im realen Leben geht es mir beim Verzeihen selten darum, dass sich der andere danach besser fühlt. Ich will mich besser fühlen. Außerdem ist Verzeihen oft ein ganz leiser Vorgang, der sich nur in uns abspielt – andere Menschen bekommen ja nicht unbedingt etwas davon mit.
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler sieht im Verzeihen den Verzicht auf eine vertraute Bestrafungslogik. So beruht unser menschliches Miteinander auf dem Prinzip des Gebens und Nehmens und Rachegedanken sind nur eine logische Konsequenz, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wer eine Schuld begangen hat, muss sie zurückzahlen, um die Waage wieder ins Lot zu bringen. Wozu sonst zum Beispiel Leute ins Gefängnis stecken? Also wünsche ich mir – auch, weil ich es so gelernt habe –, dass es diesem Arsch, das mich verletzt hat, mal so richtig heimgezahlt wird.
Vergebung ist ein Verzicht auf dieses Prinzip und unsere gängige Gerechtigkeitspraxis. Sie stellt sich sogar gegen sie. Kein Wunder also, dass uns das Loslassen oft so schwerfällt.
Verzeihen, dass ich nicht verzeihen kann
Klingt ein wenig paradox, aber mit der Milde bei uns selbst anzufangen ist vermutlich der beste Anfang.
Groll und Wut sind natürliche Gefühle, die nicht einfach verschwinden, nur weil wir sie nicht haben möchten. Und Vergebung fällt nicht einfach vom Himmel. Sie ist ein langer Prozess, bei dem man auch gerne mal rückfällig wird. Wir dürfen uns alle Zeit der Welt nehmen. Und wir müssen auch gar nicht per se verzeihen. Diese Entscheidung gehört uns.
Uns daran immer wieder zu erinnern, kann sehr heilsam sein.
Verstehen statt verzeihen
Wichtig ist auch die Frage, was wir unter „Verzeihen“ verstehen.
Ich denke: Es heißt nicht, dass wir gutheißen, was passiert ist. Wir können uns aber auf die Suche nach dem machen, was wir zu verstehen bereit sind. Vielleicht können wir einen Teil der Ereignisse nachvollziehen, wenn wir zum Beispiel das niedrige Selbstwertgefühl oder den Schmerz des anderen klarer zu sehen beginnen?
Je mehr wir einander verstehen können, desto eher können wir wieder durchatmen, uns sicherer fühlen, die anscheinende Sinnlosigkeit und das Ausgeliefertsein nehmen ab. Wenn auch (noch) nicht zwangsläufig verzeihen.
Positive Lebenskonsequenzen ziehen
Wir können die Ereignisse auch nutzen, um uns selbst besser zu verstehen.
Je schlimmer die Verletzung, desto deutlicher treten unsere Werte, Wünsche und Ziele in Erscheinung. Zurückdrehen lässt sich nichts. Doch wenn es schon weh tut, sollte es wenigstens nicht umsonst sein.
Was kann ich also daraus über mich lernen?
Was kann ich über meinen Umgang mit anderen lernen?
Welche Grenzen habe ich, und wie kann ich sie besser setzen?
Wie kann ich meine Kommunikation verbessern, meine Werte anderen erklären und sie zur Not verteidigen?
Vergebung ist wohl das einzige Werkzeug, mit dem wir die Steine auf unserem Weg zum Glück gänzlich zertrümmern können. Aber vielleicht müssen wir diesen Weg gar nicht immer komplett frei räumen – vielleicht reicht es ja schon, wenn aus den Steinen ein Denkmal wird.
So oder so: Es ist unser Weg und wir dürfen und können ihn so gestalten, wie es für uns richtig ist.
Mehr dazu im myMONK-Buch Wie man Sorgen, Stress und Selbstzweifel loslässt sowie unter Die 12 Prinzipien der Vergebung und unter Warum Du nicht loslassen kannst (das größte Missverständnis).
Photo: Sadness von Shutterstock
Die Probleme fangen mit dem Bewerten an, denke ich. Du sollst und du sollst nicht. Das ist gut und das ist schlecht. Klar brauchen wir ein Gut und ein Schlecht, unsere Werte. Und wir brauchen die hieraus entspringenden Absichten. Doch wenn wir damit auch uns selber grundsätzlich bewerten und unser Gegenüber, ist der Bogen bereits sehr oft überspannt. Denn wir sehen nur einen kleinen Ausschnitt von den Ursachen und das Wenige noch durch unsere getönte Brille. Eher ist es eben gekommen wie es Ursachen gab und es kommt weiter wie es eben kommt. Und wer weiß schon viel über die Zwänge des anderen und über seinen eingeschränkten Grad an Bewusstheit, mit dem wir noch dazu selbst auch irgendwann lebten, dachten und agierten. Die Krankheit unserer Zeit ist im mangelnden Vertrauen in das Unbekannte begründet und in unserer Selbstüberschätzung. Wohl auch eine natürliche Entwicklung. Der einst gelernte Gott ist tot und nun kontrollieren wir die Dinge wissenschaftlich vernünftig. Bis wir krank genug sind und unsere Selbstüberschätzung wieder zurücknehmen und wieder vertrauen lernen. In etwas, das weniger kindisch anmutet und doch ständig spürbar bestätigt wird.
Im Vergeben zeigt sich diese Haltung des sich Zurücknehmens und des Vertrauens in die Welt trotz allem. Wir dürfen uns abwenden und brauchen nicht zu vergessen deswegen. Bereitschaft und Absicht aus solcher Haltung heraus haben Wirkung. Und Heilung geschieht wenn irgendwann die Emotionen abebben, ohne sie zu verdrängen.
LG Richard
Ich war mal bei einer systemischen Aufstellung.
In der Aufstellung war eine Frau, die sich eine alte, schmerzhafte Geschichte mit einem Mann ansehen wollte.
Nach einigem Hin und Her und der ständigen Frage nach Verzeihen, sagte der Therapeut klipp und klar: „NEIN. Du verzeihst nicht!“
Es war eine klare Aufforderung an die eigene Entscheidung.
Du KANNST verzeihen. Es ist Deine Wahl.
Es gibt aber auch Dinge, die nicht zu verzeihen sind.
„Ich hege keinen Groll. Aber ich verzeihe Dir nicht.“
Verzeihen soll ja befreiend wirken. Mag oft so sein. Aber ich kann und will einen Soziopathen, der mir ein emotionales Polytrauma zugefügt hat, nicht verzeihen. Oder jemanden, der meine ganzen Schwachstellen kennt und dieses Vertrauen mit Füßen tritt. Es ist für mich ein großer Fortschritt, den Auslöser nicht mehr bei mir zu suchen, Es ist sein Fehler, sein Verhalten….. und auch wenn er nicht anders kann, werde ich kein Verständnis dafür aufbringen. Damit würde ich mich wertlos fühlen. Für mich. Ich hab schon sehr oft sehr viel verziehen. Das Ergebnis war, dass meine Grenzen ständig überschritten wurden.
Zu Verzeihen ist eine Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen muss. Und dabei zeigt sich, wo jeder seine Grenzen hat und welche Werte er besitzt. Ich denke, „verzeihen“ hat auch mit loslassen zu tun und v.a. „Verantwortung zu übernehmen“. Wer nicht verzeihen kann, sich schlecht fühlt und dafür die Schuld bei jemand anderes sucht, gibt man dann nicht auch automatisch die Macht ab über sich und sein Leben? Ich glaube, jeder der verzeiht, befreit sich selbst, zeigt innere Stärke und nimmt sein Leben wieder in die Hand, denn unterbewusst Groll, Hass und Verachtung ein Leben lang mit sich rumzutragen, kann sich auch auf die Physe auswirken. Man kann niemanden ändern, außer sich sebst.
Ich habe die Heilkraft und Macht des Verzeihens am eigenen Leib gespürt und seitdem trage ich die Botschaft auch nach außen! Seit dem Tag an dem ich meinem Vater vergeben habe und somit verzeihen habe, wandelt sich mein Leben Tag für Tag zum bessern!
Ich kann nur jedem empfehlen zu Verzeihen. Denn wenn man das nicht tut, dann hält man den Schmerz weiter in sich.
HERZliche Grüße,
Gerd
Danke, genau sowas habe ich gebraucht. Bald ist der 8te Todestag von meinem Großvater, der war ein jähzorniniger Mann und oft gemein. Irgendwann habe ich den Kontakt zu ihm abgebrochen weil ich ihm nicht verzeihen konnte. Mir geht es gut damit. Nun ist meine Oma krank, mit der habe ich das selbe Verhältnis, ich hab sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Meine Mutter redet mir gut zu das ich sie doch noch mal besuchen soll bevor sie für immer geht. Aber ich bleibe dabei. Es ist schwer es sich mit mir zu verscherzen, ich verzeihe schnell und von ganzem Herzen. Nur wer es geschafft hat, hat dass für immer geschafft und von solchen Personen sage ich mich los.
Das ist wirklich ein sehr schwieriges Thema, auch ich habe etwas, was ich verzeihen sollte. Ich habe es auch getan, weil ich erkannt habe, dass ich durch genau dieses Erlebnis das ich verzeihen sollte, sehr viel über mich selbst gelernt habe.
Dennoch nagt es immer noch an mir, denn die Situation ist zwar geklärt aber ich leide immer noch an den finanziellen Folgen des Erlebnisses….
Verzeihen ist der Verzicht auf Wiedergutmachung. Für den Täter ist es aber meiner Meinung nach besser, wenn er Wiedergutmachung leisten muss. Mit der reinen Vergebung hat die Tat für den Täter absolut keine Konsequenzen. Er lernt nichts aus dem, was er getan hat. Und wenn er irgend etwas Positives bei seiner Tat empfunden hat, dann ist das Risiko für eine Wiederholungstat gross.
Wenn man den Gedanken der Vergebung ganz konsequent durchziehen würde, dann müsste man auch gute Taten vergeben. Darf ich mich nicht mehr revanchieren, wenn mir jemand etwas Gutes getan hat? Zitat aus dem Text: „Wer eine Schuld begangen hat, muss sie zurückzahlen, um die Waage wieder ins Lot zu bringen.“ Das ist auch richtig so! Gilt auch für „positive“ Schuld. Wie gerne „zahle ich es heim“, wenn mir jemand etwas Gutes getan hat! Keine Aktion ohne Reaktion. Vergebung heisst; die natürliche Reaktion zu unterdrücken.
Im Absatz „Warum Verzeihen so schwer sein kann“ steht im vorletzten Absatz ein unverschämter Kraftausdruck, der mit A beginnt und aufgrund dessen, was sich gehört, NIEMALS gesagt und NIEMALS geschrieben werden darf. Das hat für alle klar zu sein, denn es gehört sich immer für alle, sich in allen Lebenslagen nur edel-vornehm auszudrücken, denn der Anstand muss überall gewahrt bleiben.