Text von: Romy Hausmann
„Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug.“ – Epikur
Früher ging es mir mit dem Leben manchmal wie mit einem Sonntag an Omas Mittagstisch. Ich war längst satt, hatte mindestens drei selige Bäuerchen zum Besten gegeben, die Bluse spannte über meinem Bauch, als wäre ich in freudiger Erwartung („Oh, Glückwunsch! Was wird es denn?“ – „Ein Kuchen.“). Und dennoch war ich die Erste, die ihren Teller für den Nachschlag in Richtung Tischmitte unter Omas Kelle schob. Mit vollem Mund murmelte ich „Dankefön.“
Gründe dafür gab es viele. Mir schmeckte es. Wer wusste, wann ich wieder in den Genuss so eines feinen Essens kam. Wer wollte schon Oma enttäuschen, wo sie doch so lange am Herd gestanden hatte? Und, hey, mein Cousin hatte den fetteren Knödel bekommen, ich schwor gewaltige Fress-Rache, reinweg aus Prinzip.
Manchmal war ich unersättlich – aber eben leider nicht nur sonntags bei Oma.
Ich wollte mehr Anerkennung. Mehr Karriere. Mehr Erfolg. Mehr Geld. Mehr Liebe. Mehr Klamotten aus der neuen hotten Frühjahrskollektion. Und wenn ich all das hatte, dann wollte ich… was anderes. Was Besseres. Da wurde mir der Job langweilig. Da kniff die Beziehung, in der ich gestern noch ernstgemeint von Heirat sprach, plötzlich wie eine Zwangsjacke. Da kam die Herbstkollektion auf den Markt, die noch so viel neuer und hotter war als der Frühlings-Kram. Und das machte mich auf Dauer fertig. Ich hatte ständig das Gefühl, getrieben zu sein. War innerlich atemlos. Und hatte irgendwann schlichtweg keinen Bock mehr auf diese zermürbende Endlosschleife aus Mehr-wollen, Mehr-kriegen – und am Ende doch nur wieder mehr Unzufriedenheit. Denn wo immer ich es schaffte, ein Bedürfnis gestillt zu kriegen, ploppten am Horizont mindestens fünf neue auf und quäkten um Aufmerksamkeit. Kennt Wilhelm Busch übrigens auch, dieses Gefühl. Er schrieb schon um 1900 rum in seinem Gedicht „Niemals“:
Wonach Du sehnlich ausgeschaut,
Es wurde Dir beschieden.
Du triumphierst und jubelst laut:
„Jetzt hab ich endlich Frieden!“
Ach, Freundchen, rede nicht so wild,
Bezähme Deine Zunge!
Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt,
Kriegt augenblicklich Junge.
Das Ende von „YOLO“?
Dass es offenbar nicht nur mir (und Wilhelm) so ging, beweist ein seit einigen Jahren ins Gegenteil umschlagender Mäßigungs-Trend. Gibt man zum Beispiel „Minimalismus“ bei Google ein, landet man bei über 6 Millionen (deutschsprachigen) Treffern. Viele von uns üben sich bereits darin. Wir entrümpeln unsere Kleiderschränke, unsere Email-Postfächer, unsere Köpfe und unsere Bedürfnisse. Wir wollen nicht mehr materialistische Marionetten sein und keine ausgebrannten Büro-Hengste (und -Stuten). Wir fangen an, uns zu fragen, was wir wirklich brauchen, anstatt uns fürs Wollen zu versklaven. Und die Vorteile scheinen überwältigend zu sein: Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Selbstbestimmung, mehr Ordnung. Moment mal, „mehr“? Ganz genau: Auch beim Minimalismus geht es um ein „Mehr“ – nur eben ein „Mehr“ durch ein „Weniger“.
Für viele von uns ist das ein richtiger und sinnvoller Schritt weg von der Völlerei in sämtlichen Lebensbereichen, hin zur Mitte, zur persönlichen Balance. Doch rutschen wir dabei manchmal glatt auch ans komplett andere Ende der Skala (dorthin, wo es statt Omas Sonntagsbraten nur noch leichtbekömmliches, trockenes Knäckebrot gibt.) So kritisch zumindest sieht es der österreichische Philosoph Robert Pfaller. Ihm zufolge mäßigen wir uns inzwischen bereits so sehr, dass selbst unsere Mäßigung schon wieder etwas Maßloses hat. Und darin, so Pfaller, liege eine neue Gefahr, ein neues Extrem: „Die Leute werden dazu angehalten, ihr Leben als Sparguthaben zu betrachten und eifersüchtig darauf zu achten, dass ihnen niemand etwas abknapst. Das ist eine Vorsicht gegenüber dem Leben, die das Leben selber tötet. Sie führt zu einer vorzeitigen Leichenstarre.“
Pfaller beschäftigt sich seit Jahren mit dieser neuen Art der asketischen Vernunft, die im gesellschaftlichen Rampenlicht heute dort trotzt, wo früher geklotzt und geprotzt wurde. Nichts mehr mit „Darf’s ein bisschen mehr sein?“, heute gehen wir freiwillig auf Diät. Nur sind wir dadurch unserer Mitte eben nicht zwangsläufig näher gekommen.
Warum „mehr“ nicht immer schlecht sein muss
Was wäre denn, wenn wir plötzlich alle satt und zufrieden wären? Wenn keiner mehr einen Schritt weitergehen würde, weil es dort, wo man steht, ja eigentlich auch schon ganz okay ist? Wo bliebe der Antrieb, etwas anzupacken, etwas zu verändern, wenn wir wunschlos glücklich wären mit uns und der Welt? Was, wenn keine Wünsche und Träume mehr in unserer Brust pochen würden? Dann würde das EKG nur noch eine durchgängige Linie anzeigen und das – gepaart mit einem monotonen Piepton – wäre doch das Ende, oder nicht?
Ja, vielleicht gibt es Dinge, bei denen wir weiterhin unersättlich sein dürfen. An denen wir uns weiterhin „überfressen“ dürfen, von denen wir niemals genug bekommen sollten. Wo immer ein Nachschlag geht. Liebe. Freundschaft. Miteinander. Träume. Spielzeit mit dem Kind. Omas Nachtisch.
Doch an anderer Stelle können auch gerne mal ein paar gefühlte Leerstellen bleiben. Müssen wir vielleicht sogar stets ein bisschen unzufrieden bleiben, allein schon, weil das eine rein biologische Angelegenheit ist, etwas genetisch Bedingtes, schlichtweg Menschliches. Entwicklung und Fortschritt entstehen nun mal nur aus Verbesserungsdrang.
Insofern eine gute Sache – wären da nicht eben auch immer diese unschönen Nebenwirkungen. Die Ellenbogen, die wir ausfahren, um andere vom Trog zu schubsen, bis wir schlimmstenfalls keine Freunde mehr haben oder die Kollegen Fotos von uns an die Bürowand hängen und mit Dartpfeilen bewerfen. Das Geld, das wir im Haben-wollen-Modus ausgeben für das zehnte IPhone, das dreißigste Paar Schuhe oder den Fünf-Quadratmeter-großen-HD-Fernseher. Investitionen, die uns kurzfristig mit Endorphinen berauschen und die Nachbarn neidisch machen. Geld, das uns dann an anderer Stelle aber schmerzhaft fehlt. Der Verlust der Perspektive auf die Dinge, die uns bereits jetzt zu glücklichen Menschen machen. Der Verlust von Dankbarkeit. Die ständigen Vergleiche (verdammt, der Nachbar hat jetzt den Sechs-Quadratmeter-großen-HD-Flat!). Die Vergrämung.
Aber ob wir dieser Art von Nebenwirkungen erliegen, ist doch glücklicherweise uns überlassen. Wir können immer noch ein bisschen „mehr“ wollen, ohne gleich zu egoistischen, undankbaren Arschlöchern zu werden – wenn wir achtsam bleiben. Uns daran erinnern, was wir bereits haben. Dass das, was wir jetzt haben und was uns manchmal unzureichend vorkommt, oft auch einmal etwas war, das wir uns lange gewünscht haben. Für das wir womöglich hart kämpfen mussten. Und das wir vielleicht sehr vermissen würden, würde man es uns wegnehmen. Vielleicht liegt allein darin ein kleiner Schritt in Richtung Balance, in Richtung Mitte. In Richtung mehr Zufriedenheit.
Photo: dreamy woman / Shutterstock
Danke für den wundervollen Artikel. Ich selbst gehöre eher zur Seite die den Minimalismus extrem Leben. Wie Du im Artikel schön sagst. Ist die Seite des Extremismus auch nicht wirklich gesund. Es ist ein schmaler Pfad. Ich möchte auf jeden Fall nicht geizig sein. Mir geht es viel mehr um das Bewusstsein beim Geld ausgeben, weswegen ich alle Ausgaben aufschreibe und dann am Ende des Monats auf meinem Blog veröffentliche. Das zeigt zum Beispiel auch, dass ein Leben wie beispielsweise Thailand extrem günstig sein kann ohne auf gewissen Luxus verzichten zu müssen.
Sehr schön geschrieben und auch inhaltlich wertvoll, finde ich, Romy. Und es ist aus meiner Sicht ein sehr wichtiges Thema. Besonders gefallen mir hierzu die Studien von Erich Fromm (1976) in seinem Buch „Haben und Sein“.
Demnach geht es dabei im Kern um die in der westlichen Welt etablierte „Existenzweise des Habens“, die er der „Existenzweise des Seins“ gegenüberstellt. Die erkannten Irrwege des Ersteren finde ich erfreulicherweise im Artikel schön ausgeführt. Auch die Irrwege der anderen Extreme und „-ismen“, die auch für Fromm im Haben-Modus verfolgt werden. Dennoch ist unstrittig, dass auch der Habenmodus biologisch, existentiell menschlich seinen Platz hat und gebraucht wird. Zum Schutz und für die Erhaltung des Lebens und allgemeiner für das Bedürfnis an Sicherheit. Das Leiden im Leben wird den Gefühlen hieraus zugeordnet. Und der Mensch ist hieraus auch instinktiv unbewusst getrieben. So dass es praktisch Leben ganz ohne Leiden nicht gibt.
Umso mehr aber die Existenzweise des Seins gelebt wird und dadurch der Charakter des Menschen bestimmt ist, umso weniger wird der Mensch leiden. Aus vielen Quellen wird das hier gemeinte Sein seit Urzeiten beschrieben. Vielleicht seit der Haben Charakter in der Gesellschaft deutlich wurde. Zu nennen sind hier besonders Meister Eckhart und Buddha, der als Prinz aufwuchs und alles Erdenkliche „hatte“ und gerade deshalb mit Leere und Schmerzen lebte, bis er schließlich dies alles abgegeben hatte. Vielfach werden in unserer Zeit gewisse Phrasen über das Hier und Jetzt verkürzt weitergegeben. Wo vielleicht erst das Lesen der ausführlichen Erklärungen von Erich Fromm zu tieferem Verständnis führen kann. Demnach ist das Hier und Jetzt nicht zu verwechseln mit der Gegenwart, auch nicht mit dem aktuellen Moment. Es bedeutet vielmehr ein lebendiges Tun, das den mit “Freude“ begleiteten Impulsen folgt. Soweit versunken im Tun, dass gar nicht mehr sehr bewusst ist, wer, wo ich bin und wann ich das tue. Alle Zeit- und Ich-relevanten Begriffe sind gerade kaum bewusst und auch kein Thema.
Ländlich aufgewachsen, erinnere ich mich zuweilen an zufrieden erscheinende Bauern und Handwerker, die ihre Haltung zu ihrer Arbeit ausdrückten. Zentrale Bedeutung hatte oft die Aussage dass sie Ihre Arbeit „freut“ oder sie macht keine Freud. Ich erinnere mich hier allerdings kaum an Sätze, die „Leidenschaft“ ansprachen. Eher etwas an Männer gerichtetes über deren „Mission“, „finde heraus, was wirklich DEIN Ding ist, und geh DEINEN Weg…“ Hin und wieder fiel das Wort „Traum“, allerdings eher von Menschen mit einer Illusion, oder die damit etwas ausdrückten, was ein anderer hatte oder auch etwas, das verloren gegangen war und nun zurückgewünscht wurde. Also doch eher im Haben (Wollen) Modus.
Erich Fromm benutzt die Begriffe „Freude“, „Impulse“, „Lebendigkeit“, „Verbundenheit“, „Gemeinsamkeit“ im Zusammenhang mit Sein und Hier und Jetzt. Sich gemeinsam an etwas freuen, ohne es zu besitzen oder festhalten zu wollen. Das „fixe“ Haben achtet dann weniger auf freudige Impulse, ist insofern eher „tot“. Teilweise kann auch er „Leidenschaft“ aus dem Sein heraus erkennen. Er sieht aber in den allermeisten Fällen dann zumindest eine Vermischung mit „Mangel“, „Flucht“ und einem Denken, wie es dringend sein „Soll“ oder gar „Muss“. Etwas suchen, das nun mehr „Wert“ darstellt oder weniger vergänglich sein soll.
Also doch wieder ein Anhaften des Haben-Wollens, das auch wieder schnell umschlagen kann in Mehr Wollen, nachdem das Bekommen hiermit begonnen hat. Umso mehr die Existenzweise des Seins im Charakter des Menschen Gewicht gewinnt, umso freier ist der Mensch, mit umso mehr Freude lebt er sein Tun, umso weniger fix und vereinnahmend ist seine Vorstellung von seiner Bedeutung und seinem Schaffen. Auch von seinem Vergleichen (schaut her, so ist es besser). Und damit leidet er auch weniger. Er kann morgen anderen Impulsen folgen und ist damit dennoch relativ sorglos. Er kann auch Impulsen von Vergnügen und Genuss folgen. Aber er ist weniger anfällig, davon vereinnahmt zu werden und wieder zu „wollen“, und damit auch wieder zu „leiden“. Er ist schließlich auch wenig vereinnahmt von der Idee einer Leidenschaft, die ja insofern Leiden schafft. Auch wenig von der Idee einer Lebensaufgabe, die ja dann gefärbt wäre von dem bereits Erlebten und Gewünschten. Das lebendige Tun nach freudigen Impulsen im Sein IST das Leben und damit die Lebensaufgabe selber, die sich auch morgen anders ausgestalten kann. Allein, ein Ziel eine Lebensaufgabe finden zu wollen gibt es nur im Haben Modus. Man will seine Lebensaufgabe endlich “wissen“ und damit Haben. Dieses „Wissen“ schafft auch Erwartungen, wenn damit dann etwas fix gemacht wurde. Es lebt nicht, nachdem es fix ist. Das Ziel scheint zuweilen erreicht. Aber es ist dann auch tot. Denn wir leben nur, solange wir lebendigen Impulsen folgen.
Das Leben im Haben Modus findet demnach hauptsächlich mental statt, mit „Lust“-Signalen an die Emotionen, die aber sofort an „Bewegung“ verlieren, wenn die anregenden Signale ausbleiben. Das Leben im Sein Modus gibt solchen Signalen weniger Bedeutung. Ein „bewussterer“ Mensch empfindet sie öfter als störend. Er wartet und vertraut auf die grundlose Lebendigkeit von innen. Auf die mit Freude verbundenen Signal von innen. Die „Bewegung“ der Emotionen hieraus ist bedingungslos und kann anhalten und ist damit lebendig.
LG Richard
TOLL GESCHRIEBEN ! !
Ich neige auch immer mehr zum minimalismus….noch nicht im extremen Ausmaß, aber ich merke immer mehr, wie mich die Menge an Materiellen Dingen stört. Ich fühle mich satt an unwichtigem, das ich vor einiger Zeit noch geglaubt habe es unbedingt haben zu müssen. Schlimmer ist es geworden seit Kinder im Haus sind, und jeder in der Familie meint die Kinder mit Geschenken zumüllen zu müssen. Im Endeffekt wird hier nicht das Bedürfnis der Kinder gestillt, denn die sind tatsächlich mit Kochlöffeln, Kartons und einem Ball absolut zufrieden, sondern das Bedürfnis der Erwachsenen nach Aufmerksamkeit oder eigener Leere.
Ich finde Zeit schenken so viel wichtiger als das Materielle, und trotzdem muss ich mich jedes Weihnachten/Ostern rechtfertigen und ernte nur Unverständnis. Was wird aus den Kindern, wenn sie mit soviel maßlosigkeit aufwachsen? Ich bin traurig über soviel Blindheit….