Teile diesen Beitrag "Wie man schwierige Gefühle zulassen kann (ohne unterzugehen)"
Achtsamkeit ist eine Aufmerksamkeit, die beobachtet, aber nicht bewertet; die akzeptiert, reinigt und heilt.
Während die Konzentration unseren Blick verengt, weitet er sich mit Achtsamkeit. Sind wir achtsam, so öffnen wir uns der Welt – statt uns wie im konzentrierten Zustand tranceartig von ihr zu entfernen.
Sie wird auch von der westlichen Wissenschaft immer mehr beachtet. Inzwischen ist bewiesen, dass Achtsamkeit Stress senkt, Depressionen lindert, das Rückfall-Risiko bei Suchtkranken senkt, bei der Regulierung von Emotionen hilft, für mehr Verständnis für uns und andere sorgt und insgesamt die Stimmung und Lebenszufriedenheit steigert.
Vor allem aber ist sie der beste Weg zum Loslassen, den ich kenne.
Weil mit ihr der wichtigste Schritt des Loslassen – das Zulassen – am besten gelingt.
Achtsamkeit hilft uns dabei, uns auch unangenehme Gedanken und Gefühle zu erlauben. Mit ihr können wir all den Dingen einen Raum in unserem Geist geben, die wir vielleicht schon so, so lang von uns schieben:
Die Wut, die uns die Augen aus den Höhlen drückt. Die Trauer, die uns fast in Tränen ertrinken lässt. Den Druck, den Stress, die Einsamkeit, die Sorgen, das Gefühl, wertlos zu sein, sobald wir nicht mehr leisten, was wir selbst und die Welt von uns verlangen, als wären wir nichts als Maschinen, die zu f.u.n.k.t.i.o.n.i.e.r.e.n haben.
Mit Achtsamkeit lassen wir die Wellen in uns tosen, kämpfen nicht gegen sie an. Wir betrachten sie. Wir berühren sie. Doch werden wir nicht von ihnen hin und her geschleudert, und auch gehen wir nicht in ihnen unter. Und bald, ja bald legt sich der Sturm und die Wellen werden kleiner und kleiner und das Meer – unser Geist – ein Ort, an dem wir ganz bei uns sind, umgeben von Frieden und Vertrauen.
Eine einfache Übung
Setz Dich bequem hin.
Atme fünf mal langsam und tief ein und aus.
1. Deinen Körper achtsam wahrnehmen
Bevor wir uns den Gefühlen widmen, treten wir mit dem Körper in Kontakt. Das erleichtert die Sache.
Mach Dir bewusst, wie sich Dein Körper anfühlt. Von unten nach oben tastest Du ihn nun im Geiste ab.
Spür die Socken oder Schuhe an Deinen Zehen. Den Boden unter Deinen Füßen. Deine Unterschenkel. Den Stuhl an Deinen Oberschenkeln. Deinen Bauch und die Brustgegend – gibt es dort einen Druck? Wenn ja, wie fühlt er sich an? Fühl die Lehne an Deinen Rücken. Richte Deine Aufmerksamkeit anschließend Deinen Schultern zu … sind sie verspannt oder ganz locker? Wie fühlt sich Dein Kopf an, schwer oder leicht, wie ist es mit Deinem Gesicht? Und nun Deinen Armen und Händen … sind sie gelöst oder verkrampft?
Ist es warm oder kühl, feucht oder trocken? Spürst Du die Kleidung auf Deiner Haut? Schmerzen?
Nimm alles Körperliche wahr, wie es ist. Bewerte es nicht, verändere es nicht bewusst – Du braucht Dich nicht entspannen. Alles darf genau so sein, wie es gerade ist.
2. Deine Gefühle achtsam wahrnehmen
Mach Dir nun bewusst, welche Gefühle in diesem Moment in Dir auftauchen.
Lade Deine Gefühle ein, sag „Ja, ihr seid willkommen“.
Wie geht es Dir gerade wirklich? Wie genau fühlt sich das an?
Benenne die Gefühle, wenn Du möchtest. Aber bewerte sie nicht.
Wenn Du vor allem Widerstand spürst gegen diese Übung spürst, ist das auch in Ordnung. Bleib bei dem Gefühl des Widerstands, so lange es da ist.
Welche Gefühle auch immer auftreten: Bleib bei ihnen. Nimm sie wahr. Nimm auch wahr, ob und wie sie sich verändern.
Sobald Gedanken an gestern oder morgen, früher oder später aufkommen, die Dich von Deinem Gefühl ablenken, dann sag Dir: „Ich werde mich später mit euch beschäftigen, wenn ihr dran seid“ … und führe Deine Aufmerksamkeit wieder sanft zurück auf das, was Du im Hier und Jetzt fühlst.
Nimm Dir dafür so viel Zeit, wie Du möchtest.
Atme zum Abschluss dreimal langsam und tief ein und aus.
Mein Leben vor und mit der Achsamkeit
Bis ich die Achtsamkeit und diese Übung für mich entdeckte, war ich die meiste Zeit auf der Flucht. Vor meinen Gefühlen. Ich wollte mich nicht so fühlen, wie ich mich fühlte. Also lenkte mich ab, vor allem mit viel zu viel Arbeit, manchmal mit Alkohol, immer wieder auch mit Hypnose-CDs, mit denen ich mich „umprogrammieren“ statt wahrnehmen wollte. Aber die Rechnung musste ich trotzdem zahlen. Mehrmals in der Woche plagten mich nächtliche Alpträume, in denen ich von unbekannten Menschen aus unbekannten Gründen verfolgt wurde.
Durch die Achtsamkeit muss ich nicht mehr fliehen. Die Alpträume sind vorbei.
Leicht finde ich es längst nicht immer, meine Gefühle anzunehmen. Dann denke ich: „Diese Schmerzen sind unerträglich!“
Doch denke ich dann auch an den Meister, der seinem Schüler sagte:
„Der gegenwärtige Augenblick ist nie unerträglich. Du verzweifelst nur, weil Du die nächsten Minuten, Tage, Wochen, Jahre auf Dich hereinbrechen siehst. Hör auf in der Zukunft zu leben, konzentriere Dich auf den Moment.“
Mehr dazu unter Wie man schmerzhafte Gefühle überlebt und im myMONK-Buch zur Achtsamkeit „Wie man Sorgen, Stress und Selbstzweifel loslässt„.
Photo: LaespiraldeJosephK
Hi Tim,
ein guter Artikel und eine schöne Übung.
Wichtig ist auch: Achtsamkeit in das tägliche Leben zu bringen. Doch wer ständig zu viel um die Ohren hat, dem fällt das sehr schwer.
Hier sind ein paar Tipps für schwer beschäftigte Menschen, um achtsamer im Alltag zu sein:
http://www.der-buddhismus.de/wegweiser-zur-achtsamkeit-11-tipps-fuer-schwer-beschaeftigte-menschen/
Liebe Grüße
Ulf
Hallo Tim,
ein sehr wertvoller Beitrag!
Besonders die 2. Übung kann man auf der einen Seite natürlich ganz intensiv für sich machen (nach dem Aufstehen, abends vor dem Einschlafen, auf dem Sofa), nämlich immer dann, wenn diese Gefühle (oder sind es mehr Gedanken?) in uns aufsteigen.
Ich finde sie aber auch absolut geeignet dafür, dies in Alltagssituationen zu tun, wenn wir merken, dass sich etwas in uns wehrt.
Anstatt es wegzuschieben macht es viel mehr Sinn kurz in sich hinein zu fühlen, was da eigentlich gerade vor sich geht. Wenn wir dann im 2. Schritt noch einmal hinein fühlen, was wir uns an dieser Situation anders wünschen, kommen wir uns und unseren wahren inneren Bedürfnissen Stück für Stück näher.
Ein wichtiger Schritt sein EIGENES Leben zu führen.
Viele Grüße
Dirk
Super, vielen Dank! Hab die Übung gemacht und fühle Glück, wo vorher keins anwesend schien.
Hallo Tim,
vollkommen richtig!
Nicht-Konzentrieren, Nichts-Erwarten, Nichts-Erreichen-Wollen, Nicht-Denken,
Achtsamkeit, Zulassen, Loslassen, Leben im Hier und Jetzt, das macht die meditative Lebensweise aus.
Gruß
Ylander
Hallo Tim,
ja, die berühmte Achtsamkeit, von der man sich immer wieder ablenken lässt (oder lassen will).
Ist es wirklich immer richtig sich seinen Gefühlen zu stellen? Vermutlich ja, aber manchmal ist vielleicht auch Ablenkung angebracht. Das Paradoxe, beides scheint mal zu wirken und mal nicht.
Manche Gefühle sollte man vielleicht lieber übergehen, an manchen kommt man aber nicht vorbei. So einfach die Regel zur Achtsamkeit ist, so schwer kann sie sein. Natürlich wird man ein starkes Gefühl nie durch Ablenkung besiegen, aber manchmal kann man vielleicht die Karten neu mischen. Die viel bescholtene Ablenkung ist manchmal wichtig, nicht als seelischer Taschenspielertrick, sondern als Weitung des verengten, fokussierten Horizonts. Dazu muss ihr natürlich das Positive innewohnen. Nicht jede Form der Ablenkung ist hier sinnvoll.
Ablenkung ist nicht nur Flucht, sondern bedeutet auch: Etwas mehr Positives in den Geist bringen, um sich dann seinen Gefühlen zu stellen.
Wenn man sich seinen Gefühlen stellen kann und will, dann ist deine Übung sehr gut anwendbar. Mir gefällt sehr gut der Hinweis, dass unser Hauptfehler oft die Betrachtung aller Zeitkomponenten ist. Nicht der Moment fällt uns schwer, sondern die Zukunft. Das Abkoppeln der Last von der Zukunft ist wahrlich erleichternd und ein guter Tipp!
LG
Eric
[…] mich war das der wichtigste Schritt. Anhalten. Innehalten. Aushalten, was da ist an Ängsten, an Traurigkeit, an Wut. Mich nicht weiter ablenken mit Pornos, Fressen, Saufen, Fernsehen. Sondern mich kümmern und […]
Anders ausgedrückt aus meiner Sicht: wir sollten uns nicht zu sehr anstrengen. Weder beim Festhalten an Illusionen oder Wegschieben von Unangenehmem, noch bei den schweren Gefühlen. Das Eine wie das Andere kann uns vereinnahmen. Die Gefühle wechseln sich ab und wir sollten sie bewusst wahrnehmen mit einer konstruktiven Absicht. Dabei darf es auch durchaus gezieltes und bewusstes Fokussieren sein.
Hallo Tim,
danke Dir für den schönen Artikel.
Es ist nicht immer einfach, seinen Gedanken nicht zu folgen und die Gefühle anzunehmen „das was da ist und nichts damit zu tun“.
Mit deinen Artikeln schreibst du oft Dinge nieder, die ich selbst nicht in der Lage bin so zu verbalisieren oder nieder zu schreiben, die mich dennoch beschäftigen.
Vielen Dank Dir.
Beste Grüße,
Laura
Danke, genau die richtige Erinnerung für heute.