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Alan Cohen ist Psychotherapeut auf Hawaii und Anhänger des berühmten Mythologen Joseph Campbell. Beide haben sich dem Thema Lebensaufgabe verschrieben, sprechen dabei von „follow your blessing“. Cohen hat ein System entwickelt, dass uns helfen soll, unsere eigenen Weg der Lebensaufgabe zu beschreiten. 12 Schritte müssen wir auf diesem gehen.

1. Schritt: Sei ehrlich zu Dir

Mit geschlossenen Augen können wir den richtigen Weg niemals finden. Wir irren blind umher, von einem Abschluss zu nächsten, von einem Abschuss zum nächsten, von einem Bürogebäude ins nächste. Wir wundern uns, warum wir unzufrieden damit sind, wie wir unsere Lebenszeit verrinnen lassen, wundern uns, was uns noch immer fehlt, obwohl wir doch die Familie gegründet, das Auto vor der Tür stehen und die Wohnung schick eingerichtet haben. Obwohl wir uns doch so angestrengt haben, Jahr für Jahr mehr Verantwortung auf unseren Schultern tragen, bleibt ein Loch in uns. Und es wird langsam, aber sicher, immer größer.

Dann haben wir zwei Möglichkeiten: noch mehr mit geschlossenen rackern, um das Loch immer wieder für Momente, Tage, Wochen oder Monate vergessen zu können. Oder die Augen zu öffnen und in den Abgrund zu schauen. Alan Cohan empfiehlt die folgende, augenöffnende Übung: nimm Dir ein leeres A4-Blatt, ziehe in der Mitte einen Strich von oben nach unten, schreibe auf die eine Seite all die Dinge, die Du liebend gern tun würdest, leidenschaftlich gern. Schreibe auf die andere Seite die Dinge, die Du nicht leidenschaftlich tust. Im Job und im Privatleben. Sei ehrlich zu Dir, halte Deine Selbstvorwürfe und Zweifel zurück, so gut es geht. Das Blatt wird niemals jemand außer Dir lesen, weder Dein Chef, noch die Menschen aus Deinem privaten Umfeld. Du kannst dem Blatt alles anvertrauen, es wird aushalten, was immer Du ihm offenbarst. Was liebst Du – und was nicht?

2. Beginne langsam, aber beginne heute

Im zweiten Schritt geht es darum, wieder mehr Leidenschaft und Lebendigkeit zurück ins eigene Leben zu holen. Kleine Schritte in die richtige Richtung. Du könntest Dir etwas erlauben, das Du Dir lange untersagt hast (solange Du’s Dir leisten kannst). Ein Buch kaufen oder ein Parfüm, dass Du im Laden schon mehrfach in der Hand hattest, dann aber wieder zurückgelegt hast. Einen Film im Kino oder ein Konzert besuchen. Eine Reise buchen, von der Du schon lange Träumst. Es fällt mir selbst oft schwer, großzügig zu mir zu sein.

Vor einigen Monaten war ich im Apple-Store, um mir ein Ersatzteil für mein altes Macbook zu kaufen, mit dem ich bis dahin täglich arbeitete. Mir war klar, dass das nur eine Übergangslösung ist, mit der Zeit gibt die Technik nun mal ihren Geist auf. Ich kaufte das Ersatzteil, verließ den Laden. Hielt an. Drehte um. Und kaufte mir ein neues Macbook (so ein Retina-Display ist echt sowas von geil). Zuhause angekommen überfiel mich mein schlechtes Gewissen. Konnte und durfte ich mir das Gerät wirklich leisten? Das schlechte Gewissen ging so weit, dass ich noch eine Woche weiter auf dem alten Macbook arbeitete, bevor ich auf das neue umstieg. War diese Anschaffung wirklich nötig? Rein technisch nicht. Für mich persönlich aber unbedingt. Als ich es kaufte, zeigte ich mir, wie wichtig ich mir selbst bin. So viele Stunden verbringe ich jeden Tag mit dem Laptop – warum sollte mein Begleiter dann nicht einer sein, der meine Ansprüche voll erfüllt? Seitdem erfreue ich mich jeden Tag daran.

Es muss sich aber um keine materielle Sache handeln. Wann hast Du Dir zum Beispiel das letzte Mal wirklich Zeit für Dich genommen? Ausgiebig in der Badewanne entspannt, meditiert, einen Spaziergang durch den Park gemacht? Ein Bild gemalt, ein Gedicht geschrieben, irgendetwas entworfen?

3. Beende langsam, aber beende

Für alles Schöne, dass Du in Dein Leben lässt, musst Du etwas Altes gehen lassen. Meetings und Fortbildungen, die Dich im Grunde überhaupt nicht interessieren. Verpflichtungen, zu denen Du eigentlich gar nicht verpflichtet bist. Partys, auf die Du nur gehst, um „nichts zu verpassen“. Ausgaben, die Du nur tätigst, um andere zu beeindrucken. Oft ist es viel leichter, etwas zu beenden, als wir so lange befürchtet hatten. Es muss nicht sofort ein Gewaltakt sein, vielleicht kannst Du zum Beispiel mehr Home-Office-Zeiten mit Deinem Arbeitgeber vereinbaren oder auf Teilzeit downshiften?

4. Entdecke Deine kleinen und großen Talente

„Was soll ich schon für Talente haben?“, fragen sich manche Menschen. Dabei werden sie immer wieder mit Anerkennung und Lob für bestimmte Sachen beschenkt, die sie tun. Was kannst Du besonders gut? Was glaubst Du, würden Deine Freunde sagen, wenn Du sie nach dem fragst, was Dich auszeichnet? Wenn Du die Übung aus dem ersten Schritt gemacht hast, findest Du dort vermutlich weitere Talente. Nicht alles, was wir gern tun, tun wir gut. Aber vieles. Die kleinen Leidenschaften und Talente können Hinweise auf großes Potenzial sein, das in uns schlummert.

5. Lerne, Dich zu entscheiden

Wenn Dich etwas nicht begeistert, dann entscheide Dich. Ich bin ein absoluter Kopfmensch. Gewesen. Nach dem Zivildienst studierte ich in Leipzig BWL. Es war deutlich unschöner, als ich es mir vorgestellt hatte. Nicht das Fach oder die Stadt selbst, sondern mein Leben dort. Aber hey, ich hatte schon angefangen, einige Semester hinter mir, da machte ich eben einfach weiter. Bis plötzlich Gründe auftraten, vielleicht ja umzuziehen nach München. Doch durch die Umstellung von Diplom auf Bachelor/Master hätte ich mein BWL-Studium an der neuen Uni von vorn beginnen müssen.

Hinzu kommt, dass meine Abinote nicht gerade eine Garantie dafür war, dass ich den Studienplatz in München sofort oder bald bekommen würde. Nun steckte ich echt in der Klemme: die absolute Unsicherheit auf der einen Seite, ein sicheres, aber mich nicht ansatzweise erfüllendes Leben auf der anderen Seite, dessen Ende jedoch in Sicht war – noch zwei Jahre oder so, dann hätte ich das Diplom in der Tasche gehabt. Ich war komplett ratlos und so kam ich zum ersten Mal mit einem Coach in Kontakt. Er führte eine Übung mit mir durch, die der Auftakt meines Lebens als Bauchmensch war. Ich sollte zwei Zettel beschreiben mit den beiden Optionen (Leipzig oder München, sicher oder unsicher), diese dann auf den Boden legen. Anschließend sollte ich mich nacheinander auf jeden der Zettel stellen, meine Augen schließen und mich in die Situation hineinfühlen, die die jeweilige Wahl mit sich bringen können würde. Das Bauchgefühl war so viel stärker als die wirren Gedanken im Kopf, dass meine Entscheidung klar war: ich würde nach München gehen.

Das tat ich dann auch. Seitdem haben sich so viele Türen für mich geöffnet, dass es für mich überhaupt nicht ins Gewicht fällt, dass ich das BWL-Studium nochmal von vorn beginnen musste. Unter anderem auch deshalb, weil ich hier mit einer ganz anderen Energie gelernt habe, nachdem ich den Studienplatz mit Glück bekam. Aus einem mittelmäßigen Studenten an einer mittelmäßigen Uni mit vielen mittelmäßig engagierten Leuten in Leipzig wurde ein Student in München, der es am Ende unter die Top 5% der Abgänger schaffte (die im Durchschnitt ein viel besseres Abi hatten als ich).

Das Leben war plötzlich auf meiner Seite. Die Zettel mit den Optionen, auf die ich mich stellte, halfen mir, mich auf das Gefühl einzulassen, seitdem habe ich sie jedoch nicht mehr gebraucht. Wenn ich heute an einer Weggabelung stehe und mir unsicher bin, schließe ich meine Augen, stelle mir die Folgen der verschiedenen Wege vor und lasse meinen Bauch entscheiden. Du kannst dasselbe tun. Der Weg, der sich lebendiger, aufregender, ehrlicher und wahrer anfühlt ist der richtige für Dich. Stell Dir vor, wie weit Du kommen kannst, wenn das Leben auf Deiner Seite ist. Mit jeder Entscheidung, die Du auf diese Weise fällst, wird außerdem Dein Bauchgefühl noch stärker und zuverlässiger (selbst dann, wenn es mal so scheint, als hätte es Dich nicht auf den besten Weg geführt, wird es reifer und weiser).

6. Folge nicht dem Geld, sondern Deinen Talenten und Leidenschaften

Das Nummer-1-Kriterium ist für viele das Geld. Das Studium wählen, das einem Spaß macht, auch wenn das nicht gerade BWL, Jura oder Medizin bedeutet? Ist nicht einfach. Den gutbezahlten Job schmeißen, und sich dann „einschränken“ müssen, um das eigene Leben mit Tätigkeiten zu verbringen, die man liebt und sinnvoll findet? Auch nicht einfach. Geld regiert die Welt. Aber es muss nicht Dich regieren. Das mit dem „Einschränken“ höre und lese ich häufig. Aber ist die größte Einschränkung nicht, die kurze Lebenszeit danach ausrichten zu müssen, was (womöglich nur kurz- oder mittelfristig) mehr Kohle bringt? Davon abgesehen glaube ich fest daran, dass Menschen vor allem dann herausragend erfolgreich sind, wenn sie ihren eigenen Weg gehen und nicht den des meisten Geldes. Die Lebensaufgabe lässt sich nicht an Eurobeträgen erkennen oder in Zahlen ausdrücken. Wie könntest Du die Welt verändern?

7. Folge Deiner Intuition

Hängt zusammen mit Schritt Nummer 5. Während sich dieser jedoch um einzelne, konkrete Entscheidungen dreht, ist die Intuition etwas Größeres, Kreativeres und oft auch weniger Greifbares. Vielleicht spürst Du, dass es Dich irgendwohin zieht, vielleicht siehst Du eine Entwicklung der Gesellschaft oder bestimmter Gebiete voraus, vielleicht gibt es in Dir eine Stimme, die flüstert: „Du musst den Menschen zeigen, was Du im Leben gelernt hast“. Oder: „Widme Deine Zeit dieser oder jener Sache“. Eine wichtige Rolle können dabei auch Tag- oder Nachtträume spielen.

8. Bleib offen

Bei den meisten Angelegenheiten kannst Du Dich neu entscheiden. Wir Menschen neigen dazu, uns an alte Entscheidungen festzukrallen. Wir glauben gescheitert zu sein, wenn wir nach Jahren einen komplett anderen Weg einschlagen, fürchten, das Gesicht zu verlieren. Wenn Dein Traum über die Jahre verblasst ist und Du immer weniger Freude daran hast, ist es Zeit für einen neuen Traum. Wenn Deine Aufgabe Dich nicht mehr erfüllt, ist es Zeit, Dein Bestes an einem anderen Platz zu geben. Alles hat seine Zeit. Und fast alles hat irgendwann ein Ende.

9. Lerne, Dich auszuruhen

Vorm Überarbeiten und Ausbrennen sind wir auch dann nicht geschützt, wenn wir den richtigen Weg beschreiten, den Weg unserer Lebensaufgabe. Musiker, die rund um die Uhr spielen, Maler, die nachts mit dem Pinsel im Arm schlafen, Schreibende, die sich keine Ruhephasen gönnen, werden früher oder später von unangenehmen Symptomen des Körpers und des Geistes dazu gezwungen, das Instrument, den Pinsel oder den Stift aus der Hand zu legen. Besser ist, es nicht so weit kommen zu lassen. Einerseits, um nicht auszubrennen. Andererseits, um während der Arbeit nicht nur eine kleine Flamme zu versprühen, sondern ein loderndes Feuer. Dieses Feuer benötigt neuen Sauerstoff. Neue Ideen tauchen meistens aus dem Unterbewusstsein auf, wenn man sie dort in Ruhe köcheln lässt.

Regelmäßige Pausen bei der Arbeit. Ein Tag in der Woche, an dem man sich überhaupt nicht mit der Arbeit beschäftigt. Man muss dafür sorgen, dass sich die Kraft neu füllen kann, sonst wird man die Lebensaufgabe nicht erfüllen können. Für mich persönlich eine echte Herausforderung. Was mir hilft: Spaziergänge, Belletristik, Treffen mit Freunden, Meditieren. Ach so, und nachts zu schlafen ist auch nicht schlecht ihr Workaholics, die ihr ähnlich gestrickt seid wie ich. „It takes a nation of millions to hold us down“ – es braucht eine ganze Nation von Millionen von Menschen, um uns zurück zu halten, sagte die Hiphopgruppe „Public enemy“. Jeder Kämpfer braucht Pausen, sage ich.

10. Lass‘ Dir den Weg von den Ergebnissen zeigen

Hast Du Dich über lange Zeit angestrengt, und nichts geht voran? Dann ist es vielleicht Zeit, Deinen Kurs zu korrigieren. Um beim Beispiel meines BWL-Studiums zu bleiben: hätte ich in München trotz erheblicher Anstrengung genauso durchschnittliche Ergebnisse erzielt wie in Leipzig, wäre es womöglich richtig gewesen, mich ganz neu zu orientieren. Etwas anderes zu studieren, stattdessen eine Ausbildung zu machen oder wie auch immer. Da ich schon seit meiner frühen Jugend vom eigenen Unternehmen träumte und mir das BWL-Studium dann doch gut gelang, war ich – so meine Interpretation – auf dem richtigen Weg. Nach dem Bachelor wusste ich allerdings jedoch, dass mein Leben an der Uni vorbei war, dass kein Master, Dr., Prof. folgen würden. Ich wusste es, weil es mein Bauchgefühl und meine Intuition verraten haben. Aus rationaler Sicht war es eigentlich Quatsch, das Studium schon nach diesem ersten Abschluss zu beenden. Aus Sicht meiner Lebensaufgabe hätten mich weitere Abschlüsse Jahre gekostet, die ich woanders viel lieber und viel besser investieren kann. Die Jahre bis zum ersten Abschluss haben mich gestärkt und vorangebracht, weitere Jahre zwischen Skripten und Vorlesungen hätten mich geschwächt und aufgehalten, die Ergebnisse wären vermutlich langsam immer schlechter geworden.

11. Lies die Zeichen

Die Sache mit den „Zeichen“. Da ist Paolo Coelho ein ebenso großer Fan von wie Joseph Campbell und Alan Cohen es sind. Die „Zeichen“ sind Ereignisse, die den richtigen Weg mehr oder weniger deutlich weisen sollen. Paolo Coelho sucht Zeichen seit vielen Jahrzehnten unter anderem mithilfe des Buches „I Ging“, einem Jahrtausende alten chinesischen Werk. Wen das Thema „Zeichen“ interessiert, dem wird Coelho‘s Buch „Der Alchimist“ gefallen sowie Castaneda‘s „Reise nach Ixtlan“.

12. Geh Risiken ein

Was wichtig und wertvoll ist, ist immer mit einem Risiko verbunden. Die Frau, die einem im Club so gut gefällt, könnte einen abweisen, wenn man sie anspricht. Sie könnte sich aber auch freuen, und ein paar Jahre später hat man Kinder mit ihr. Der Kündigung des ungeliebten Jobs könnte eine Phase der Arbeitslosigkeit folgen. Es könnten sich aber auch scheinbar aus dem Nichts fantastische Chancen auftun. Da die Lebensaufgabe besonders wichtig und wertvoll ist, geht auch sie mit Wagnissen einher. Die Sicherheit ist dagegen der Tod der Lebensaufgabe.

 

Photo: Paxon Woelber