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Text von: Lena Schulte

Was haben ein Lottogewinn und eine ernsthafte Krankheit gemeinsam?

Das passiert immer den anderen. Nicht mir.

Wenn man das Schicksal nämlich nicht herausfordert, nicht einmal Lotto spielt, dann sollte da doch auch nichts Außergewöhnliches passieren, oder? Einfach gesund leben, viel Sport treiben, wenig Alkohol trinken, genügend schlafen, ab und zu mal meditieren. Soweit die Hoffnung.

Und trotzdem war ich diejenige, die plötzlich im Rettungswagen lag und nach einer siebenstündigen OP meine feierliche Vermählung mit diversen Schmerzmittelchen feierte. Meinen von nun an treuen Lebensgefährten. In hochdosierten und weniger dosierten Zeiten.

Plötzlich hängt sie da, die Krankheitsdiagnose und baumelt über dem Leben. Manchmal so unvermittelt und bedrohlich, dass sie einen wehmütiges Licht auf das Vorher und einen großen Schatten auf das Danach wirft. Was soll jetzt bloß kommen? Wie soll es jetzt bloß weitergehen? Wie soll ich damit weiterleben, wenn sie nicht weg geht? Vor allem: Was passiert hier überhaupt?

Unnötige Schuldzuweisungen vermeiden

Hatte ich mich zu wenig um mich gekümmert? Hätte ich öfter positiv denken sollen, war das die verspätete Manifestation von zu wenig Selbstliebe? Hatten die Leute recht, die mir genau das erzählten?

Es ist bekannt, dass Körper und Geist miteinander in Wechselwirkung stehen. Und dass unsere Psyche bei körperlichen Leiden noch anfälliger wird, überrascht auch wenig. Untersuchungen bestätigen:

Im Gegensatz zu gesunden Menschen haben körperlich kranke Menschen ein zwei- bis viermal höheres Risiko für Depressionen. Selbst eine schwere Grippe  kann bei anfälligen Menschen bereits eine Depression auslösen.

Allerdings ist Gesundheit heutzutage moralisch auch sehr aufgeladen und gehört mit Detox-Kuren, grünen Sencha-Spinat-Einhornglitzer-Smoothies und regelmäßigen Yogastunden zur verantwortungsbewussten Lebensführung einfach dazu. Ich habe allerdings oft den Eindruck, dass Gesundheit inzwischen als ein absoluter Gradmesser für Eigenverantwortung und richtige Lebensführung steht – und somit auch schnell missbraucht werden kann. Das finde ich gefährlich, denn besonders wenn jemand krank und verletzlich ist, lädt dieses Dogma zu Stigmatisierung und selbstzerfleischenden Schuldzuweisungen ein. Eine bewusste Lebensführung ja, auf jeden Fall – aber das macht Gesundheit nicht zu einem Grundrecht, das man von irgendwem einfordern kann. Krankheit kann jeden treffen.

Mit der Krankheit zu neuen Wegen

Ob nun vorübergehend, wiederkehrend, unheilbar oder für immer – nach der Diagnose geht der Leben selten genau so weiter, wie gewohnt. Ich verbrachte erst einmal viel Zeit damit, meinen betrügerischen Körper zu verfluchen, mir anzusehen, was ich nun nicht mehr konnte und vor allem verbrachte ich viel Zeit damit, wütend auf all die Ärzte zu sein, die meine Beschwerden vorher nicht richtig gedeutet hatten. Ich fühlte mich so hilflos und ausgeliefert, dass ich nur noch bei Schuldzuweisungen das Gefühl der Kontrolle hatte. Aber das waren Probleme, die an der Oberfläche schwammen. Die eigentliche Herausforderung, das, was wirklich schwer zu ertragen war und Angst machte, war etwas anderes: Ich musste nicht nur meine Zukunft, sondern auch meine Identität überdenken:

  1. Wer bin ich nun?
  2. Wer bin ich nicht mehr?
  3. Wer war ich vielleicht nie und erkenne das nun dank der Krankheit?
  4. Wer bin ich für andere?
  5. Welche Qualitäten habe ich als Mensch, die stärker als meine Krankheit sind?
  6. Kann ich jemand sein, der sich Widrigkeiten stellt, wenn mir das Leben einen Strich durch die Rechnung macht? Wenn nein – was brauche ich dafür?
  7. Wo kann ich mir Hilfe holen? Wer kann mich unterstützten, wenn ich es allein nicht schaffe?
  8. Wer in meinem Umfeld tut mir wirklich gut? Von wem sollte ich mich besser trennen? Führe ich wirklich die Beziehungen, die ich führen möchte?
  9. Lache ich genug?
  10. Heißt wahres Glück wirklich, dass alles so ist, wie ich es gerne hätte?
  11. Habe ich mein ganzes Potenzial wirklich schon erkannt? Lebe ich wirklich so, dass ich am letzten Tag voller Zufriedenheit sagen kann: Ich habe mein Leben genutzt und all mein Potenzial entfaltet? Oder lebe ich nur noch im „Was wäre, wenn“-Land und verschließe mich vor jeglicher Zukunft?

Etwas, was für mich persönlich zudem noch sehr hilfreich war, war die Suche nach Vorbildern. Es tut gut, jemanden zu haben, der genug positive Ausstrahlung hat, um einem anderen etwas davon abgeben zu können. Der vielleicht sogar aus Erfahrung spricht, dem man aber auf jedem Fall ein „Es geht weiter (und kann sogar gut werden)“ wirklich glauben kann.

Der amerikanische Motivationstrainer Sean Stephenson, selbst schwer erkrankt und auf den Rollstuhl angewiesen, hat in einem wunderbaren Vortrag (ihr könnt dort auch die deutschen Untertitel einstellen) über seine Lebensphilosophie und seine Identität gesprochen, die ich persönlich sehr vorbildlich finde:

Glaube keiner Prognose, die Dich nicht stärker macht

Klingt ein bisschen nach Verdrängung und übersteigertem Ego, soll aber meinen, dass wir auf jeden Fall verloren sind, wenn wir unseren Fokus und unseren Gehorsam ausschließlich darauf richten, welche Chancen andere uns einräumen. Was hätten wir nicht alles Großartiges verpasst, wenn wir immer nach dem gegangen wären, was andere uns für unsere Zukunft prognostiziert hätten? Ich hätte nicht einmal das zweite Jahr auf dem Gymnasium geschafft. Stephenson dürfte nicht einmal mehr leben.

Natürlich wächst ein Bein nicht nach, wenn man fest genug daran glaubt, aber wie sinnvoll ist es wohl, denjenigen Leuten dann auch noch eine Bühne zu geben, die lange Reden darüber halten, was nun alles nicht mehr möglich ist? Stephenson rät deswegen: Hör auf das, was dir Power gibt.

Du bist nicht Deine Diagnose

Genau so wenig, wie Paul nur sein Porsche ist, bist Du auch nicht nur Deine Diagnose. Vielleicht scheint sie im ersten Moment alles zu sein – aber Du bist mehr. Jenseits Deiner ganzen Rollen, schlummert Dein unverwechselbares Ich, das ein verdammtes Recht hat zu sein und seiner Aufgabe auf der Welt nachzugehen. Nur… Kennst Du diese Aufgabe überhaupt? Stephenson sagt sinngemäß, dass es die wahre Behinderung ist, sich zu weigern, sich der Realität anzupassen und seiner Bestimmung nachzugehen. Denn das ist das Verhalten, das uns wirklich einsperrt und uns zu unseren eigenen Feinden macht.

Damit könnte er nicht ganz falsch mit liegen…

Die Medizin kann heute schon sehr viel. Ich glaube, wir können von Glück reden, dass wir in dieser Zeit leben und Möglichkeiten haben, die in einem anderen Jahrhundert noch als Hexerei durchgingen. Die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, das anzunehmen, was ohne unsere Erlaubnis kommt und es wirklich zu bewältigen – das kann uns keine Tablette der Welt abnehmen. Das ist die Aufgabe bzw. die Chance, die eine Krankheit ganz entschlossen in unser Leben bringt.

Mehr unter Warum guten Menschen böse Dinge passieren und unter Psychosomatik: Wenn die Seele den Körper braucht.

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