Teile diesen Beitrag "Freiheit oder Sicherheit? Warum Du nie zufrieden bist"
Text von: Christina Fischer
Vor einigen Jahren träumte ich noch vom ganz großen Happy End wie im Liebesfilm. Wenn erst mal der Traumprinz am Start, der Diamantring am Finger und das Eigenheim im Grünen gekauft wäre, dann würde ich glücklich leben bis ans Ende meiner Tage, dachte ich. Ich hatte die Nase voll von durchfeierten Nächten, vom Stress, immer wieder neue Menschen kennenlernen und gegebenenfalls wieder loswerden zu müssen. Von der Ungewissheit, was nach dem Studium auf mich warten würde und der Frage, was ich eigentlich vom Leben wollte – oder das Leben von mir. Ich wollte nichts mehr als mich und mein Leben in möglichst trockene Tücher zu packen. Das Zauberwort war: Sicherheit.
Einige Jahre später war alles wie geplant gelaufen: Ich war glücklich verheiratet, die Urkunde mit Blumenstrauß für fünf Jahre Festanstellung war mir bereits überreicht worden und gerade rechneten wir aus, wie viel Eigenheim wir uns würden leisten können. Ich stand kurz vor dem Happy End namens „Sicherheit“, nach dem ich mich so gesehnt hatte. Aber als dieses „Ende“ da war, fühlte ich mich seltsamerweise gar nicht so happy wie gedacht. Ich wollte eigentlich gar kein „Ende“, fiel mir dann auf, und mochte dieses Ende auch noch so „happy“ wirken. Die trockenen Tücher, in die ich mein Leben gewickelt hatte, nahmen mir plötzlich die Luft zum Atmen. Nun wollte ich plötzlich nicht mehr vermeintliche Sicherheit und Beständigkeit. Nun wollte ich lieber etwas mehr Abenteuer, Freiheit, Unabhängigkeit.
Irgendetwas fehlt immer
Eigentlich scheinen wir in unserer Gesellschaft ja gerade Wege, rote Fäden und klare Linien zu lieben. Die Karriereleiter führt aufwärts, Fortschritt führt vorwärts und wir selbst optimieren uns im besten Fall stetig weiter zu einem immer besseren Ich. In der Jugend sollen wir uns austoben, über die Stränge schlagen und Dummheiten machen, damit wir im Erwachsenenalter ruhig, sesshaft und vernünftig werden können, bevor wir uns dann – noch ein bisschen älter – endgültig „zur Ruhe setzen“. Es könnte also alles eigentlich ganz einfach sein.
Warum aber hatte ich mit 30 dann keinen Bock auf Eigenheim? Warum hängt der Manager mit Ende 40 seinen Schlips an den Nagel und eröffnet eine vegane Cupcakebäckerei? Warum brennt die dreifache Mutter plötzlich mit dem Zirkus durch statt Socken für ihre zukünftigen Enkelkinder zu stricken? Auch für diese Ausreißer gibt es ein Etikett in unserer Gesellschaft: Wir reden dann gerne von der „Midlife-Crisis“ und meinen damit, dass einzelne Leute in der Mitte ihres Lebens plötzlich „verrückt“ werden und alles nochmal anders machen. Dass es die Midlife-Crisis jedoch überhaupt wirklich gibt, darüber ist man sich in der Wissenschaft gar nicht so sicher. Woran aber liegt es dann, dass sich so viele Menschen irgendwie gar nicht so entwickeln, wie es der vermeintlich natürliche Lauf der Dinge vorgibt?
Ich wage eine steile Vermutung: Vielleicht ist dieser Lauf des Lebens gar nicht wirklich natürlich, sondern passt nur zufällig gut in das große Leitmotiv der Leistungsgesellschaft, die eben immer höher hinauf und schneller vorwärts strebt.
Das Leben als Fieberkurve
Wenn wir uns einmal genauer umsehen in der Welt, dann könnte uns auffallen, dass die meisten Dinge ganz und gar nicht geradlinig sind, sondern eher kreis- oder wellenförmig. Dinge wiederholen sich: Die Jahreszeiten, Ebbe und Flut, aber auch menschengeschaffene Dinge wie der Wirtschaftskreislauf oder die Mode. Warum also sollte ausgerechnet unsere Entwicklung als Menschen geradlinig verlaufen, von schlecht zu besser, von Misserfolg zu Erfolg, von wild zu ruhig? Sind wir als Menschen wirklich die einzige Lebensform im Universum, das sich nur in eine Richtung bewegt?
Um es kurz zu machen: Sehr wahrscheinlich nicht. Allein wenn ich auf mein 30-jähriges, fast nach Gesellschaftsbilderbuch abgelaufenes Leben zurückblicke, stelle ich unzählige Kehrtwendungen, Richtungsänderungen und Umwege fest. Nach wilden Partyzeiten sehne ich mich nach Urlaub und Ruhe, nach Phasen der Routine will ich etwas Neues erleben, nach Zeit mit meinen Freunden sehne ich mich nach Alleinsein – und umgekehrt. Aus der Ferne mag mein Lebenslauf vielleicht geradlinig aussehen. Doch aus der Nähe betrachtet ähnelt er viel eher einer zittrigen Fieberkurve. Und sehr wahrscheinlich ist das nicht nur bei mir so.
Das Archaische Kreuz
In der Persönlichkeitsentwicklung gibt es ein Konzept, das dieses „Fieberkurvenphänomen“ zu erklären versucht: Das sogenannte Archaische Kreuz.
Stell’ Dir eine vertikale Linie vor. Die symbolisiert Deinen Lebensweg ab der Geburt, am untersten Punkt, bis zum Tod, dem obersten Punkt der Linie.
Auf der linken Seite dieser Linie befinden sich Ruhe, Sicherheit, Geborgenheit, Routine, feste Strukturen und Treue. Hier fühlen wir uns sicher und geborgen.
Auf der rechten Seite der mittleren Lebenslinie sind Abenteuer, Abwechslung, Freiheit, Wildheit und Unsicherheit.
Wenn die Gesellschaft recht hat, dann müssten wir uns in unseren jungen Jahren eher auf der rechten Seite aufhalten, wo Abenteuer und Freiheit locken, und uns im späteren Teil unseres Lebens langsam auf der linken Seite einordnen, wo es ruhiger zugeht. Doch oft entwickeln wir uns eben nicht haargenau so. Tatsächlich wechseln wir im Laufe unseres Lebens öfter mal die Seiten – die einen mehr, die anderen weniger. Wer in der Seele Rockstar, Weltenbummler oder Freigeist ist, wird sein Leben wahrscheinlich mehr auf der rechten Seite des Archaischen Kreuzes verbringen, während Liebhaber von Strukturen und Routine wohl eher ihre Kurve auf der linken Seite zeichnen würden.
Trotzdem verspüren fast alle früher oder später auch die Sehnsucht nach der anderen Seite. Vielleicht meldet sich im Rockstar irgendwann leise der Wunsch eine Familie zu gründen oder der Familienvater mit Bausparvertrag bekommt so großes Fernweh, dass er eine Weltreise plant.
Auch wenn wir im Großen und Ganzen eher auf eine Seite des Archaischen Kreuzes tendieren mögen, brauchen wir doch offenbar beide Seiten im Laufe unseres Lebens und das möglichst ausgewogen. Das hat seinen Grund.
Eine Frage der Balance
Wer immer nur auf Nummer sicher geht, wird seine Komfortzone nach Möglichkeit niemals verlassen. Er hält sich so sehr an seinem Leben fest, dass er jegliches Wachstum förmlich im Keim erstickt. Wer wiederum niemals Wurzeln schlägt, den kann das Leben leicht von den Füßen reißen – auch dann ist es mit dem Wachstum vorbei. Nach dem Konzept des Archaischen Kreuzes brauchen wir also beide Seiten – Sicherheit und Freiheit – um uns weiter zu entwickeln.
Neue Eindrücke erhalten wir nur außerhalb unserer Komfortzone, in der vermeintlichen Unsicherheit. Um all die neuen Eindrücke zu verarbeiten, brauchen wir jedoch wiederum Ruhe, Sicherheit und Struktur. Auch der berühmte persische Dichter Rumi sagte: „Das Leben ist die Balance zwischen Festhalten und Loslassen“. Wir können unmöglich alles festhalten, dafür sorgen Zeit und Vergänglichkeit ohnehin. Wir können jedoch auch nicht alles loslassen, denn dann hätte nichts in unserem Leben auch nur irgendeinen Wert.
Wellen reiten statt brechen
Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass wir nicht verzweifeln müssen, wenn wir glauben, unsere Entwicklung sei aus irgendeinem Grund falsch gelaufen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dem nicht so, sondern wir stehen genau an dem Punkt, an dem wir stehen müssen, um weiter zu wachsen.
Ganz egal, wo die anderen stehen und egal, was die Gesellschaft dazu meinen mag. Kein Impuls, weder der nach mehr Freiheit oder der nach mehr Sicherheit, wäre falsch, sondern notwendig und gesund.
Wenn unser Leben sich tatsächlich in Wellen bewegt, dann könnten wir doch auch, statt uns ihnen auf unserem vermeintlich korrekten Weg entgegen zu stemmen, einfach unser Surfbrett auspacken und die Wellen reiten so lange sie da sind. Und dann schauen, wo hin sie uns tragen. Oder wie John Kabat-Zinn sagte: Du kannst die Wellen nicht aufhalten. Aber du kannst lernen zu surfen.“
Photo: Woman von Galina Kovalenko / Shutterstock
Du sprichst mir gerade aus dem Herzen. Viele Jahre lang priorisierte ich die Sicherheit, nun fühle ich mich, als hätte ich 10 Jahre meines Lebens verpasst. Vor gut einem Jahr wurde ich in chaotische neue Lebensverhältnisse geworfen, hab mich monatelang durchgebissen und hisse nun die weiße Flagge. Ich fühle mich kaputt, krank und fremd in meinem eigenen Leben. Altbewährte Sicherheit bringt mich auf Dauer auch nicht weiter, denn sonst hätte ich nicht all die Jahre das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Wie finde ich wieder heraus, in welcher Phase ich mich befinde und was mir jetzt gerade gut tut?! Ausprobieren bedeutet letztendlich nichts anderes, als ins ungewisse Chaos zu springen.
Hallo Lila!
Ja, ich denke, ausprobieren bedeutet tatsächlich in gewisser Weise ins Ungewisse zu springen. Aber andererseits ist Sicherheit oft eben auch nur eine Illusion. Ich weiß nicht, wie Deine Verhältnisse konkret sind, aber Veränderung fühlt sich wahrscheinlich zunächst oft nach fremdem Leben an, das Neue kennen wir ja schließlich noch nicht und unsere Erfahrungswerte beziehen sich immer nur auf das, was wir schon kennen. Ich kann Dir für Dein Leben nichts raten. Aber mir hilft manchmal dieser Gedanke: Wenn sowieso nichts sicher ist und ich sowieso nichts festhalten kann, dann macht etwas Neues zu versuchen wahrscheinlich auch nicht viel kaputt.
Alles Gute für Dich!
Christina
Danke für deine Worte!
Letztes Mal habe ich versucht, mich von der Angst der Veränderung zu lösen und bin ins kalte Wasser gesprungen. Heute würde ich sagen: Kopfüber von 10 Metern ins Betonbecken. Und so fühl ich mich gerade auch… Nun habe ich wieder Angst davor, dass es noch schlimmer wird. Es ist ein Teufelskreis…
Danke Deine konstruktiven Gedanken!
Mit meiner persönlichen Erfahrung kann ich bestätigen: Unser aller Lebenswege bestehen tatsächlich aus Wellen: Es gibt gute und schlechte Zeiten. Und alle diese Zeiten sind für jeden von uns, mich eingeschlossen, notwendig um zu erkennen, wie die Welt funktioniert und welche Macht wir über die Gestaltung unserer Welt beziehungsweise unseres Leben haben!
Ich bewerte, wie jeder andere Person, in jeder Sekunde, in jeder Minute oder Stunde, ob mir die Situation, in der ich befindet, gut oder schlecht für mich ist! Dies geschieht unabhängig von den Umständen dieser Situation. So kann es sein, das zwei Personen die gleiche Situation gegensätzlich beurteilen. Es gibt viele Faktoren im Bewussten und im Unbewussten, die meine Bewertung beeinflussen. Aufgrund dessen stelle ich provokativ die Behauptung auf: Ob ich glücklich bin oder traurig, entscheide ich jede Sekunde oder Minute neu, unabhängig von der Situation (von Außen), in der ich mich befinde! Damit ist Glück ganz klar eine persönliche Entscheidung!
Als ich erkannt hatte, das meine Glück meine Entscheidung ist, hatte ich den Weg der Erfolge mich gepachtet!
Vielen Dank! Ich glaube auch, dass wir zwar nicht großartig beeinflussen können, was uns so passiert. Aber dass wir zumindest an unserem Blick auf die Dinge immer ein bisschen schrauben können. Manchmal verändert das tatsächlich auch schon alles.
Liebe Grüße
Christina
Was für ein toller und tröstlicher Artikel!
Mir fallen dazu noch folgende Dinge ein:
-irgendwann macht alles Sinn
-folge deinem Herzen – aber vergiss deinen Kopf nicht!
Danke für deinen Blog & LG
Joëlle