Teile diesen Beitrag "Die kranke Gesellschaft: Warum nicht Gier das Problem ist"
Text von: Lena Schulte
Ein Studium kann ganz schön anstrengend sein. Am anstrengendsten waren für mich aber nicht die Klausurphasen, in denen ich meine post-apokalyptischen Augenringe hinter mir her schleifen konnte, oder das ständige Grillenzirpen in meinem Kühlschrank, sobald der erste Tag des Monats ins Land gezogen war und wieder gähnende Leere angesagt war. Es war es die Frage, die dem jungen Geisteswissenschaftler per Definition mit in die Wiege gelegt wird:
„Und … was kann man später mit Deinem Studium machen?“ Hierbei sind 20 Prozent echtes Interesse und die anderen 80 Prozent ein nett verpacktes: „Kind! Wirst Du mit dem, was Du da machst überhaupt Geld verdienen können?“
Auch, wenn ich es niemals laut gesagt hätte: Irgendwie fühlte ich mich immer schuldig, sobald ich zugab, mir nicht sonderlich viele Gedanken über meine spätere Karriere zu machen. Bloß aus reinem Interesse zu studieren, ging selten als akzeptable Antwort durch. Noch seltener ohne hochgezogene Augenbrauen. Meistens kam ich mir in diesen Situationen so vor, als hätte ich gerade offen zugegeben, einen wichtigen gesellschaftlichen Mechanismus nicht verstanden zu haben. Schließlich studiert man, um dann Karriere zu machen.
Der antrainierte Druck
Das schlechte Gewissen kam nicht von ungefähr. Wenn uns schließlich eins in unserer Zeit umgibt, dann der Imperativ „etwas aus unserem Leben zu machen“. Groß soll es sein, das Leben, individuell, unverwechselbar. Wir sind an eine Welt gewöhnt, die kein „genug“ kennt. Im Gegenteil, mit einer ausreichenden „work-hard-play-hard“-Mentalität verspricht uns die Welt sogar ein gigantisches „Alles!“. Und dank Facebook, Instagram und Co. können wir uns gleich mit dem gesamten Globus vergleichen, wie gut wir darin sind, ein geiles Leben zu führen.
Da uns aber immer wieder weisgemacht wird, dass irgendwie jeder nach dem „Alles!“ strebt, kommt noch etwas ins Spiel, mit dem wir ebenfalls alle bestens vertraut sind: Das Prinzip der Knappheit. Die Ressourcen sind knapp. Sichere Dir etwas vom Kuchen, so lange Du noch kannst. Die Konkurrenz schläft nicht – höchstens mit Deiner Freundin. Nimm also den unbezahlten Praktikantenjob lieber an, sonst bekommt ihn einer der tausend anderen, die sich die Finger danach lecken!
Kein Wunder also, dass nicht wenigen von uns die Gier nach dem „Mehr“ quasi antrainiert wird und nur die superlativsten Superlative erstrebenswert scheinen. Wie sollen wir uns anders schließlich noch unterscheiden? Wenn wir mitmischen wollen, könnte man fast denken, ist Gier die einzig hinreichende Bedingung, um ans Ziel zu kommen. Und weil Gier schlecht ist, haben wir die Wurzel allen Übels schon gefunden … oder?
Gier? Oder Mangel?
Gier ist nicht das Problem.
Gier ist vielmehr ein Stellvertretersyndrom. Vergleichbar mit einer Art Sucht. Und Süchte wachsen am besten auf leeren Stellen. Dort, wo etwas fehlt. Je mehr Hohlraum, desto besser kann sie sich breitmachen, wuchern und die Leere (scheinbar) kompensieren.
Schließlich wird uns auf so vielen Kanälen suggeriert, dass uns etwas fehlt und wir noch mehr brauchen. Am geschicktesten stellen es Werbung und Wirtschaft an, mit unserer Angst etwas zu verpassen oder gar zu verlieren zu spielen. Aber auch in unserem Schul- und Arbeitssystem heißt es oft: Wenn dir diese Qualifikation fehlt, wird das nix. Wird aus Dir nix. Bist Du nix. Dabei sind vieler dieser Qualifikation, wie wir wissen, meist nur reine Formsache, die herzlich wenig über unser wahres Können aussagen.
Aber auch innerlich kann uns so einiges fehlen. Warum stürzen sich so viele gebrochene Herzen in kalte Partynächte und fremde Betten? Weil sie gierig nach Sex sind, oder weil ihnen Liebe, Bestätigung und Nähe fehlt? Warum isst der dicke Junge noch mehr fettige Pommes, nachdem er sich schon wieder gemeine Sprüche über seinen Körper gefallen lassen musste? Nur, weil er gierig ist und den Hals nicht voll bekommt?
Die meisten von uns wollen doch gar nicht mit sabberndem Mund und wahnsinnigem Blick immer mehr und mehr. Nur leben wir sehr oft in dem Gefühl, dass etwas Gravierendes fehlt, an uns oder in unserem Leben.
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Ich glaube, Gier ist oft die Folge einer tief programmierten Unsicherheit, die sich aus dem Knappheitsgefühl und dem Druck im Außen zusammensetzt und vor allem mit einer fehlenden Verbindung zu uns selbst.
Viele kennen die Erfahrung nicht (mehr), dass wir nur unserer selbst willen gemocht werden und damit Zugehörigkeit erfahren. Auch weil wir ständig hören, wir müssten X tun, um Y zu verdienen. Das schneidet uns von uns selbst ab – und zwar inmitten einer Welt, in der auch wir Menschen untereinander abgeschnitten scheinen. Und in der es angeblich nicht genug für alle gibt und jeder sehen muss, wo er bleibt.
Wenn wir mit uns selbst in einer echten, liebevollen Verbindung stehen, und dann noch glauben könnten, dass wir alle miteinander verbunden sind (es muss ja nicht gleich die absolut deepe Connection mit dem Arschloch sein, dass Dir den Autospiegel abgetreten hat), kann die Welt zu einem Ort werden, in der wir intuitiv spüren, wie dieses Mangeldenken uns selbst und unserem Umfeld schadet.
Dann können wir auch die Frage „Was bekomme ich?“ besser loslassen und Raum schaffen für eine viel interessantere Frage: „Was kann ich geben?“
Mehr unter Warum Du so erschöpft bist (der schmerzhafte wahre Grund) sowie unter Dieses Zitat bringt auf den Punkt, warum unsere Gesellschaft so kaputt ist.
Photo: Greed / Shutterstock
Die Gier nach…
Das Wort Gier und ihre Assoziation damit, verliert ihre Kraft, wenn man einen Perspektivwechsel vornimmt.
Ersetzt man das Wort Gier durch Sehnsucht, Verlangen, oder vermissen, verliert die ursprüngliche Definition bezüglich des Wortes Gier ihre Kraft.
Was übrig bleibt ist ein Mangel.
Nun könnte gefragt werden, was fehlt dir um glücklich zu sein?
Es wäre eine Möglichkeit, um mit der negativ behafteten Assoziation des Wortes Gier, positiv umgehen zu können.
Gier, Missgunst und Neid vergiften das Herz. In unserer Zeit sind Menschen, die sich um die Geisteswissenschaft bemühen, von großer Wichtigkeit, denn sie werden selten. Die von Politik und Wirtschaft beförderte rein sachliche Nutzenorientierung hat im heutigen Neoliberalismus Ausmaße angenommen, die für die Menschen nicht mehr dienlich sind. Profit vor Mensch, statt Mensch vor Profit.
Liebe Grüße, Dieter
Gier, Missgunst, Neid, Profit, Nutzenorientierung.
Das sind alles Schlagwörter, die wie ich finde die Menschen in der Realität nicht gut beschreiben. Oder würdest du sagen, die meisten Menschen sind gierig, missgünstig, neidisch, profitgeil und immer nutzenorientiert, beispielsweise in ihrem Konsumverhalten? (wenn, dann doch da noch am ehesten) Ich würde eher sagen, sie sind pragmatisch. Sie wollen das beste herausholen mit dem, was sie haben. Und damit bist auch du und ich gemeint.
Der Mensch ist nun mal, was er ist. Er ist nicht angeboren nur kooperativ oder nur konkurrenzdenkend. Er ist beides. Er will seinen Vorteil, aber auch den seinen (näheren) Umfelds. Das war evolutionär sinnvoll und prägt den Menschen entsprechen bis heute fundamental. Vor allem das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung sei hier besonders zu nennen, warum sonst sollte man sich das neueste iPhone, den neuesten Mercedes oder das grösste Haus in der Nachbarschaft wünschen. Hier liegt doch der Hund begraben.
Graben wir ihn aus, und helfen wir den Leuten, indem wir Ihnen Alternativen vorschlagen und sie akzeptieren, wie sie sind.
Ich fürchte doch, dass Menschen außerhalb des Dunstkreises ihrer engsten Liebsten ziemlich von Neid, Missgunst und Gier durchzogen sind. Diese Prägung ist seit dem Wirtschaftswunder staatliches & gesellschaftliches Programm geworden. Wachstum, Konsum, Profit – und danach bemisst sich auch die „soziale“ Anerkennung. Wie erklären sich den sonst die Stirnfalten, wenn jemand etwas Geisteswissenschaftliches studiert, etwas, das monetär nicht sofort verwertbar und gewinnbringend erscheint?
Wie Du schon sagtest, lass uns den Hund ausgraben. Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Weg von rein materialistischem Denken hin zu mehr Gemeinwohl und nach meinem Dafürhalten auch zu mehr Spititualität und Achtsamtkeit. Gewiss, das sind alles Schlagwörter. Allein, das „weiter so“ führt nicht in die richtige Richtung.
VG, Dieter
Du hast genau die Worte gefunden für etwas das mir schon länger durch den Kopf geht, ich es aber nie richtig benennen konnte. Großes Kompliment für diese erhellenden Worte.
Bin erst vor kurzem auf Deiner Seite gelandet und seit dem lese ich hier täglich. Deine Worte sind sehr erfrischend und treffen mit Witz, Charme und jeder Menge wahrer Worte genau ins Schwarze. Nicht der ewig gleiche Einheitsbrei den so mancher versucht wieder zu geben wenn er diese Themen aufgreift.
Liebe Grüße Daniela
Die Gesellschaft. Die Werte des Mainstreams. Das bequeme sich treiben . lassen. Geringe Authentizität. Oder auch Eigensinn mit einer fixen Idee. Verängstigt anderen gerecht werden wollen. All das kann es uns schwer machen. Disziplin erscheint uns oft als das Mittel, mit dem alles gut wird. Wir programmieren uns damit. Oft genug aber nicht für das tiefere Empfinden in uns. Wieviel Leiden braucht es, bis wir dann endlich lernen, mehr auf die Stimme zu hören. Jedes stärkere Festhalten an einem äusseren Haben Wollen kann man auch als Sucht sehen. Mit allen Widerständen, wenn wir sie loswerden wollen.
Das trifft es sehr gut. Aber unsere Bedürfnisse und die damit verbundenen Mängel sind uns nun mal auch angeboren, sprich wir wollen einfach gut angesehen werden von andern, weil das evolutionär schlichtweg notwendig war. Mängel können wir also nicht einfach aussitzen oder sagen, dass sie falsch sind. Sie sind Realität und müssen irgendwie befriedigt werden.
Wenn ich also beispielsweise mehr Geld will, entsteht das aus einem Mangel, das ist korrekt. Aber aus welchem Mangel? Aus dem Mangel nach Anerkennung, zumindest vor allem. Dieser Mangel ist dann nun einfach mal Fakt. Der Klügere wird nun jedoch eine Strategie finden, das Ansehen so zu bekommen, ohne sein ganzes Leben mit z.B. Geldscheffeln für einen Lamborghini zu verschwenden. Z.B. in dem man an seinem Selbstbewusstsein arbeitet (und Kritik dann mit höherem Status einfach zu ignorieren) oder sich ein Umfeld aussucht, in dem man akzeptiert wird.
Kurzgesagt: Das Bedürfnis und evtl. auch der Mangel ist gegeben (evolutionär bedingte Bedürfnisse), aber den Weg zur Befriedigung ist offen. Die Frage ist also immer, welche Strategie man wählt. Am besten eignet sich eine, die möglichst viel Erfolg bei möglichst wenig Aufwand verspricht. Ich zähle dazu beispielsweise, um glücklich zu sein, genug Sport, eine gesunde Ernährung, genug Erholung und auch Schlaf, viele genussvolle und lustige Momente, Zeiten der Euphorie (Eustress), einen Sinn für sich, Zeit mit andern und so weiter.
Liebe Lena.
mir als Geisteswissenschaftlerin, die mit 30 noch studiert, sprichst Du insbesondere im ersten Teil des Textes absolut aus der Seele. Der Rechtfertigungs-Druck wird immer schlimmer, je weiter das Alter voranschreitet. Leider. Unsere Gesellschaft ist einfach so konditioniert. Das ist traurig & ich denke, dass es eine Kunst ist, da nicht mitzumachen.
Der zweite Teil, der sich mit dem Mangel beschäftigt, ist in meinen Augen absolut einleuchtend. Ich glaube, dass die Beantwortung der Frage „Was kann ich geben?“ bereits einen großen Teil zum Füllen der Leere beiträgt!
Danke für den spannenden Beitrag!
Schöner Artikel. Ich bewundere Geisteswissenschaftler, sie verdienen in meinen Augen mehr Respekt. Immer dieses Karriere-Gerede, am besten studiert ganz Deutschland BWL oder International Business oder macht ne Bankausbildung. Früher wurde man auch mit einem „normalen“ Beruf geschätzt. Heue soll es immer höher, schneller, weiter gehen. Denn ja die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Ich möchte jedenfalls keine Karriere, sondern lieber mehr Zeit für Dinge die einen wirklich interessieren. Wenn man selbst etwas geben kann, ist es umso schöner und erfüllender. Zum Glück gibt es mittlerweile den Gegentrend des Minimalismus. Was bringt einem die Karriere, wenn man keine Freizeit mehr hat und noch viel schlimmer seine Gesundheit opfern muss. Dann hab ich lieber keine und bin mit mir im „Reinen“. Liebe Grüsse
Hallo Lena (und myMonk),
vielen Dank für diesen Text. Ich würde mich selbst vermutlich gar nicht als Geisteswissenschaftler bezeichnen (trotz abgeschlossenem AVL-Studiium) und ich habe selbst nie so den großen Rechtfertigungsdruck verspürt. Aber trotzdem finde ich es sehr bedenklich, dass es die angesprochenen Phänomene gibt. Aktuell scheint es immer wichtiger zu werden, wie man für sich selbst das Beste aus dem Leben rausschlagen kann (was generell völlig in Ordnung ist), zur Not auch auf Kosten anderer (was absolut nicht in Ordnung ist). Es gibt aktuell gefühlt zu viele Einzelkämpfer und zu wenig Teamplayer. Unser aktuelles Wirtschaftssystem hat da sicher einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf. Wenn „Geiz ist Geil“ die Devise ist, denkt man nicht so viel darüber nach, was man „geben“ kann.
Ich hoffe, dass sich die Gegentrends durchsetzen. Vielleicht kann man sich ja gerade in der heutigen, schnelllebigen Zeit, in der es uns als Gesellschaft besser geht als je zuvor doch mal fragen, ob das Konzept von Arbeit, wie es aktuell besteht überhaupt noch Sinn macht (http://futureproofworld.com/arbeit-keinen-sinn-thesen-neue-wirtschaft/).
Aber ich habe das Gefühl, dass da immer mehr Bewegung reinkommt und sich immer mehr Menschen Gedanken über eine positive, gemeinschaftliche und nachhaltige Zukunft machen (https://www.d2030.de/deutschland-2030-der-zukunft-eine-stimme-geben/).
Man muss eben dranbleiben…
Danke