Nehmen wir mal an:
Dein Sohn kifft erst, kokst danach, spritzt dann, hoffen wir mal, dass es nur Heroin ist und nicht Desomorphin („Krokodil“).
Deine Tochter ist auf einen Loverboy reingefallen, der sie vielleicht bald auf den Strich schickt, schick wie sie ist, und jung wie sie ist, ein gutes Geschäft.
Dein Mann ist abends gar nicht im Briefmarkensammlerverein, sondern auf der Suche nach solchen jungen Mädels.
Dein Kollege, ja, genau der, der gerade so vertieft in seinen Monitor starrt, ist gar nicht so nett zu Menschen, er isst Menschen.
Vielleicht ist alles auch eine Nummer alltäglicher. Der Sohn hat heimlich sein Studium geschmissen, vor zwei Jahren schon. Die Tochter ist magersüchtig, kommt doch nicht vom vielen Sport, dass sie bald weniger wiegt als ihr Smartphone. Der Mann liebt Dich eigentlich kaum noch, auch wenn er das behauptet. Und der Kollege ist einfach nur ein ganz gewöhnlicher Arsch, der Dich für zwei Pfennig an den Galgen hängen würde.
Trotzdem:
Willst du die Wahrheit wirklich wissen?
Ja und nein.
Unsere scheinbar heile Welt ist oft selbst dann leichter zu ertragen als die Wahrheit, wenn irgendwo in der hintersten Ecke unseres Kopfs Misstrauen und Zweifel an der Fassade nagen.
Wie sollten wir mit der Wahrheit leben, steht sie einmal nackt vor uns? Und wie damit, dass wir womöglich viel zu lange weggesehen haben (obwohl das sehr menschlich ist, ich selbst bin mir da auch nicht immer sicher)?
Lügen haben leichtes Spiel, wenn wir mitspielen.
P.S.: Trotzdem bleibt es seine bzw. ihre Lüge – die Lüge an sich hat mit dem Lügenden zu tun, nicht mit uns. Wir sind erst dann ein Stück weit verantwortlich, wenn wir trotz leiser oder lauter Zweifel wegschauen. Siehe Wie man Lügen nicht mehr persönlich nimmt.
P.P.S.: Siehe auch Der einzige Unterschied zwischen reifen und unreifen Menschen.
Es ist ein interessantes Phänomen, dass wir im Grund alle dazu begabt wären Lügen zu erkennen, dass wir diese Fähigkeit im Alltag jedoch so selten anwenden.
Hi Oliver,
hmm … ob wir dazu wirklich begabt sind?
Dann hätte es die Natur ja so eingerichtet, dass Lügen allein deshalb existieren, damit man zumindest halbwegs willentlich drauf reinfallen kann.
Gibt es denn eine Sache, auf die Du besonders achtest, um herauszufinden, ob Dein Gegenüber lügt?
LG
Tim
So lange wie möglich, macht dich der Geist glauben, dass immerhin die Möglichkeit besteht, dass eine unbequeme Sache nicht wahr, nicht real ist. Auch wenn es der Bauch, also die Intuition, es schon längst besser weiß. 😉
Es ist bequemer den Beschwichtigungen des Geistes zu glauben. Denn dann kann alles bleiben, wie es ist. Aber die Wahrheit anzuerkennen, erfordert Mut und Handlungsbereitschaft. Es ist so etwas wie die „Flucht nach vorne“.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich immer die Wahrheit wissen möchte. Es ist auch eine Art Selbstschutz. Andererseits – sich selbst zu belügen, tut auf Dauer auch ganz schön weh.
Viele Grüße und Danke für diesen Text
Bettina
Hi Bettina,
Danke für Deinen Kommentar.
Tragisch finde ich gar nicht mal, dass man vielleicht nicht immer gleich den Mut aufbringen kann, sondern dass man das theoretisch (und für etliche Menschen bestimmt auch praktisch) bis zum Ende des Lebens unaufgelöst lassen kann.
LG
Tim
Leben wir nicht alle in einer Scheinwelt, mehr oder weniger? Wir halten eine Illusion hoch. Und wenn ich auch darunter schaue, wieviel kann ich dem Gegenüber offen legen davon? Die Illusion schadet mir als erstem. Und wie offen und grosszügig ist mein Gegenüber bei solcher Unentschlossenheit und solchem Verweilen in dieser Scheinwelt? Fühle ich mich dann schuldig und zwinge ich mich dann zur anstrengenden Wahrheit, wenn einmal die nakte Wahrheit erschienen ist?
Der Mensch wird jedenfalls selten einen Schalter umlegen, um sofort anders zu SEIN.
Hi Richard,
ja, schon, Scheinwelten. Aber eben mit mehr oder weniger Deckung mit dem, was man vielleicht trotz allem als objektiv bezeichnen kann, oder zumindest als Konsens.
Die Illusion schadet mir vielleicht als erstem, aber nicht unbedingt mir am schwersten.
Aber ja, im Grunde wird man mit Illusionen hier und da oder auch überall leben müssen.
LG
Tim
Ja, so manche Scheinwelten weichen ziemlich ab vom Konsens. Auch fühlt es sich nicht immer schlecht an, wenn der Verstand etwas „erledigt“ glaubt mit einer Darstellung nach aussen. Doch bauen wir damit Lasten auf im Unbewussten. Und Trennung unterhalb des Bewusstseins.
Hey Tim,
mega schweres Thema. Ich denke, dass es manchmal so ist, dass man sich mehr schadet, wenn man eine Lüge aufdeckt, als wenn nicht.
Andererseits sollte man natürlich nicht wissentlich eine Lüge leben. Welchen Sinn hätte das Ganze dann noch?
Ich finde den Gedanken sehr gruselig, dass statistisch gesehen, einer der vielen Menschen, die ich zum Beispiel aus dem Fenster der Bahn beobachten kann, während sie an einem Bahnhof hält, ein (schwerer) Verbrecher ist.
Einen gewissen Filter muss man also schon haben, damit man nicht permanent in Angst lebt.
Dann wiederum nervt es mich extrem, dass so viele Unwahrheiten in den Köpfen existieren, die wirklich schädlich sind..
Ich komme da zu keinem klaren Ergebnis.
Lieben Gruß, Ronja
Hi Ronja,
ich hab da auch nicht immer eine klare Meinung dazu … würde ich XY wirklich wissen wollen? Verbrecher nicht erkennen zu können, ist im Alltag vielleicht wirklich ein sinnvoller Schutz – aber wenn zum Beispiel der Partner einer ist?
LG Tim
Moin Tim,
ich finde Lügen sind menschlich. Jeder lebt in seiner eigenen Wahrheit. Es bringt nichts sich auf potenzielle Lügen zu fokussieren, sondern seine eigene Wahrheit zum Strahlen zu bringen.
Man kann ja niemals wissen, was andere Denken. Deshalb ist es auch egal sich davon beeinflussen zu lassen.
LG
Sven
Hey Sven,
das ist ein guter Gedanke, der Fokus auf’s eigene. Gar nicht so einfach. Und vielleicht sogar nur bedingt möglich. Zumal uns als Rudeltiere soziale Beziehungen wichtig sind und vermutlich auch immer sein werden.
LG Tim
Ich merke es meistens, wenn mich jemand anlügt. Das macht es allerdings nicht einfacher im Alltag.
Nun haben wir die Fähigkeit, uns Bilder einzuprägen. Sie stellen dann etwas dar, wie wir es gerne hätten oder wir es dem anderen gern vorführen würden. Sie vermitteln dann auch ein erhebenderes Gefühl als wir es ohne die Bilder hätten. So halten wir dann auch schon mal and so einem Bild fest. Es könnte sich ja noch so ergeben. Wir halten den Schein eine Weile. Auch der „Angelogene“ beteiligt sich hier. Nur wird es meist nicht leichter mit derlei Aufschieben. Und mancher bringt dann gar nicht leicht die Beine wieder auf den Boden.