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Buddha fand seine Erleuchtung, nachdem er allein unter einem Feigenbaum am Ufer des Neranjara-Flusses saß. Jesus zog sich manchmal über Wochen in die Wüste, einen Wald oder auf einen Berg zurück, um allein zu beten. Muhammed hat jedes Jahr einige Wochen allein in einer Höhle meditiert.

Und wir?

Während Du und ich in dieser Zeit ständig mit anderen Menschen und der Welt verbunden sind, ständig quatschen und belabert werden und surfen und mailen und simsen, während in den kurzen Pausen dazwischen wenigstens das Handy in der Hosentasche angeschaltet ist (das Männern dabei noch permanent die Eier verstrahlt) und darauf wartet, gleich wieder zu klingeln oder piepen … ist es „zu einer verlorenen Kunst geworden, auch mal allein zu sein“, wie der zenhabits-Autor Leo Babauta schreibt.

Wann hat Dich das letzte Mal nichts und niemand umgeben als die Stille – kein Kollege oder Kind oder Partner, der etwas von Dir wollte, keine Musik, kein Fernseher, kein Klingeln, keine Ablenkung, keine Rolle, die Du spielen musst?

Wenn’s Dir so geht wie vielen von uns, dann ist das wohl eine ganze Weile her.

Alleinsein ist eine verlorene Kunst, die wir neu erlernen können – und so dringend müssen wie nie zuvor. Mehr als das, mehr als Kunst, sondern ein echtes menschliches Grundbedürfnis.

Aber: Zeit mit sich allein, heißt das nicht: einsam sein?

Nein, Alleinsein und Einsamkeit unterscheiden sich.

Wir sind heute zu oft einsam, und zu selten allein.

Warum Alleinsein die Einsamkeit verringern kann und welche Gründe es sonst noch gibt, mehr Zeit allein zu verbringen.

#1 Stille. Frische.

Allen Vorteilen, die das Alleinsein mit sich bringt, liegt die Stille zugrunde.

Jeder von uns braucht sie ab und an.

Die Stille stillt uns, wie eine Mutter, die das schreiende Kind an ihrer Brust zur Ruhe bringt und ihm neue Kraft verleiht, während die Meute gern allein weitertoben kann.

Rennen wir jedoch immerzu davon, wenn Mutter uns die Brust geben will, dann sind unsere Batterien irgendwann leer und wir brechen zusammen.

Studien zeigen: in der Zeit allein erholen sich Körper und Gehirn. Anschließend sind wir dadurch nachweislich konzentrierter und produktiver. Die Soziologie-Professoren Richard Arum und Josipa Roksa haben weiterhin herausgefunden, dass Studenten, die allein lernen, schneller lernen, sich mehr merken und das Wissen besser abrufen können.

#2 Verstehen.

Wir können uns mit Familie, Freunden und Kollegen austauschen, Informationen und Meinungen sammeln, doch am Ende treffen wir unsere Entscheidungen allein (auch für einen gemeinsamen Kompromiss entscheiden wir uns letztlich selbst).

Dafür müssen wir uns aber auch selbst zuhören, und das geht am besten, wenn es um uns herum still ist.

Stell Dir vor, Du willst mit jemandem sprechen, der Dich interessiert, in einem Club, mitten in der Nacht, mitten in einer schwitzenden Menschenmasse, laut stampfender Beats und einem Vollrausch, in dem alle wild springen und in die Hände klatschen. Du kannst ihr / ihm ins Ohr schreien und dann schreit sie / er etwas zurück … aber hast Du alles Gesagte wirklich verstanden, lernst Du die andere Person wirklich kennen?

Alleinsein ist das Gegenteil vom Anschreien in der Mitte klatschnasser Klatschmassen.

Alleinsein gleicht einem Date, sagen wir abends an einem abseits stehenden Tisch am Seeufer, und der Himmel spiegelt sich klar im ruhigen Wasser und die Kerze in Deinen Augen.

Dort können wir wirklich hören, sehen und verstehen, was wir brauchen, wovon wir träumen, wonach wir uns sehnen, wo wir gerade stehen, und warum wir vielleicht manchmal anders reagieren als eigentlich vorgenommen.

Als ich nach dem Studium einen Job als Unternehmensberater annahm, arbeitete ich einige Monate durch ohne Urlaub, so, wie das in der Probezeit üblich ist. Als ich nach der Arbeit abends nach Hause kam wusch und bügelte ich meine Hemden, aß Pizza und trank ein Bier oder zwei, erledigte noch mein Sozialprogramm mit Telefonieren und Mailen, und dann fiel ich todmüde ins Bett. So ging das jedenfalls einige Monate, und mir war lange Zeit gar nicht so richtig klar, wie sehr mich das alles auslaugte und ankotzte. Erst als mich eine Grippe zwang, zum ersten Mal seit Monaten mit mir allein zu sein, verstand ich: der Job war nichts für mich. Gesund und wieder zurück im Büro kündigte ich. Wer weiß, wie lange ich ohne die unfreiwillige Zeit allein weiter im Hamsterrad gerannt wäre.

#3 Weniger Einsamkeit.

Echte Einsamkeit hat nichts mit Alleinsein zu tun.

Allein sind wir, wenn um uns herum gerade niemand sonst ist. Im Englischen gibt es dafür das schöne Wort „Solitude“, das selbstgewählte Alleinsein.

Einsam sind wir, wenn wir einen Mangel empfinden, uns so fühlen, als seien wir unfreiwillig getrennt und abgeschieden vom Rest der Menschheit. Einsam fühlen, das geht auch, wenn wir in einem kleinen Raum mit 50 anderen sind.

Die Schriftstellerin Kristiane Allert-Wybranietz beschrieb es so: „einsam fühle ich mich dann, wenn ich eine Hand suche und nur Fäuste finde“. Oder eben gar keine Hand – man greift ins Nichts.

Selbstgewählte Zeit allein lehrt uns, uns selbst die Hand reichen zu können.

Während Einsamkeit ein Grund für Depression sein kann, kann bewusste Zeit vor Depressionen schützen, wie eine Studie von 1997 mit Teenagern gezeigt hat: zwar empfanden sie das Alleinsein zunächst nicht als positiv, hinterher berichteten sie jedoch, sich deutlich besser zu fühlen.

1993 begab sich der norwegische Abenteuer Borge Ousland allein auf Skiern auf eine der schwierigsten Reisen zum Nordpol in der Geschichte der Polarexpeditionen, einen 150 Kilo schweren Schlitten mit Ausrüstung und Nahrungsmitteln hinter sich herziehend. Mehr als 600 Meilen nichts und niemand, nur Eis. Ousland brauchte 52 Tage. Anschließend sagte er: „Nie zuvor habe ich so viel Zeit allein in einem Zelt verbracht, meine größte Angst vor dem Start war, ich würde mich unheimlich einsam fühlen. Doch für mich hat sich herausgestellt, dass gerade dieses Alleinsein eine der großartigsten Erfahrung der ganzen Reise war!“. Wir brauchen uns also nicht zu fürchten, wenn wir mal nicht unter Menschen sind.

Mehr noch. Eine bessere Selbst-Beziehung kann auch die Beziehungen zu unseren Mitmenschen verbessern und der unfreiwilligen Einsamkeit damit entgegenwirken.

#4 Selbstbewusstsein.

Ein Date mit sich selbst kann der Anfang einer tief erfüllenden Beziehung zu Dir sein. Auch nach dem ersten Kennenlernen bleiben die Dates natürlich wichtig, wenn wir uns nicht auseinanderleben und wieder verlieren wollen, immer wieder müssen wir uns zeigen, dass wir uns diese Zeit wert sind.

Diese Beziehung kann uns die Liebe und den Halt geben, den so viele von uns außerhalb von sich selbst suchen.

Würde uns das nicht selbstbewusst machen?

Zu wissen, dass es immer jemanden gibt, der für uns da ist – ganz gleich, was passiert.

Einen, der dazu noch immer bei uns ist, wo auch immer wir gerade sind.

Der uns so nimmt, wie wir sind … immer.

#5 Kreativität.

Auf einem weißen Blatt kann mehr entstehen als auf einem wirr vollgekritzelten. Kreativität braucht Platz, räumlich und zeitlich. Und diesen Platz finden wir am ehesten allein.

Viele große Künstler aus allen Bereichen – Musiker, Schriftsteller, Maler, aber auch Philosophen und Forscher – pfleg(t)en die Kunst des Alleinseins und verdanken ihr ihre Ideen:

  • Wolfgang Amadeus Mozart, Komponist von mehr als 600 Stücken, die auf der ganzen Welt gehört und geliebt werden: „Wenn ich ganz für mich allein bin, etwa wenn ich nicht schlafen kann und in der stillen Nacht spazieren gehe, dann fließen meine Ideen am besten“
  • Johann Wolfang von Goethe, unser großer Dichter und Denker: „Man kann in Gesellschaft unterwiesen werden, doch nur allein kreativ sein“
  • Ernst R. Hauschka, deutscher Dichter und Aphoristiker aus dem 20. Jahrhundert: „Wer ohne Begleitung spazieren geht, kommt in Begleitung vieler Gedanken zurück“
  • Pablo Picasso, dessen Werke heute unzählige Millionen Wert sind: „Ohne großes Alleinsein ist keine ernsthafte Arbeit möglich“
  • Albert Einstein, einer der größten Physiker und Philosophen aller Zeiten: „Zwar arbeite ich nach einem Plan, doch es vergeht kein Tag, an dem ich nicht am Strand spazieren gehe um nach innen zu lauschen. Wenn die Arbeit schlecht läuft, lege ich mich mitten am Tag hin, starre die Decke an und gebe mich meiner Fantasie hin.“

Was könntest Du erschaffen, wenn Du Dir mehr Zeit für Dich und Deine Ideen nimmst?

Wie Du mehr Zeit für Dich finden kannst

So angespannt wir die meiste Zeit sind, so eingespannt sind wir auch. Es ist nicht immer leicht, mehr Zeit allein zu verbringen, aber wie wir gesehen haben, ist es das auf jeden Fall wert.

Hier einige Ideen, wie man sich auch in Zeiten voller Anforderungen zurückziehen kann:

  • Früher aufstehen. Zum Beispiel schon um 5 Uhr. Wann sonst ist man so ungestört wie am frühen Morgen, wenn der Rest der Menschheit noch schläft?
  • Mittagspause allein. Statt auf Facebook rumzuhängen oder mit Kollegen, um über andere Kollegen zu lästern … wie wär’s mit ein paar Minuten nur für Dich, sei es beim Spaziergang durch den Park in der Nähe oder ein achtsames Essen allein, mit ausgeschaltenem Handy? .
  • Mikro-Auszeiten. Tür zu. Tee kochen. Tee trinken. Bewusst atmen. Ein Bad nehmen. Für fünf Minuten um den Block laufen. Womöglich immer zu einer festen Zeit, jeden Tag oder wenigstens jeden Sonntag?
  • Neues Hobby. Würdest Du gern oder fährst Fahrrad oder gehst laufen oder klettern oder bogenschießen, etwas tun, bei dem es nur Dich und den Weg oder Berg oder Bogen gibt? Könntest Du dafür auf einen anderen Zeitvertreib aufgeben … etwas wie fernsehen, Nachrichtenseiten oder myMONK lesen?

Vielleicht kannst Du sogar eine längere Auszeit planen?

Stell Dir vor, eine Hütte im Wald oder in den Bergen und nur Du und frische Luft und vögelnde Zwitscher und niemanden, der Dich stört.

Schlechtes Gewissen?

Irgendwie etwas Zeit freizuschaufeln, das geht meisten irgendwie.

Warum tun wir es dann nicht einfach?

Ich glaube, dafür ist unser schlechtes Gewissen verantwortlich.

Darf ich mich wirklich mal zurückziehen, auch wenn noch nicht alle Arbeit erledigt ist (das ist sie nie)? Obwohl Partner oder Kinder oder vielleicht auch nur entfernte Bekannte nach mir verlangen?

Gestehen wir uns dann trotzdem zu, nagt das schlechte Gewissen oft erst recht an uns … wie können wir nur??

Gegenfrage:

Sind wir nicht am wertvollsten für unsere Mitmenschen, wenn wir aufgeladen sind, voller Kraft und Ideen … und haben wir nicht auch ganz unabhängig davon das Recht, uns ab und zu auszuruhen – uns die Medizin zu geben, die Körper und Seele brauchen, um nicht krank zu werden?

Klar besteht die Gefahr, dass sich andere zurückgewiesen fühlen. Deswegen kann’s auch sinnvoll sein, das Bedürfnis zu erklären und nicht einfach die Tür hinter sich mit der Kommode zu verbarrikadieren oder die Sachen zu packen und 52 Tage lang zum Nordpol zu reisen, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Man könnte auch gleichzeitig anbieten, sich dafür am nächsten Tag um die Kinder oder die Arbeit zu kümmern, damit der Partner oder Kollege ebenfalls die Chance bekommt, sich um sich zu kümmern.

So, damit lasse ich Dich jetzt mal allein für heut.

Meine Frage an Dich: Wie geht’s Dir mit dem Alleinsein? Genießt Du es? Vermeidest Du es? Schiebst Du es auf?

 

Photo:Kerim Ekal