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Es folgt ein Beitrag von Andreas Gauger, Autor des myMONK-Buchs Selbstwertgefühl – Wie es entsteht und wie Du es stärken kannst.

„Jede lange Beziehung beginnt mit einem Kurzschluss zwischen Herz und Hirn.“ – Ernst Festl

Was macht eine gesunde Beziehung aus?

Vertrauen? Tiefgehende Gespräche? Guter Sex? Ähnliche Ziele? Gemeinsames begeistertes Engagement im lokalen Prachtgoldhamsterzuchtverein?

Ich will Dir nichts vormachen. Menschliche Beziehungen sind unfassbar komplex. Es gibt nicht den einen Faktor und wenn da alles tutti ist, läuft’s wie geschnitten Brot. Aber es gibt enorm wichtige Faktoren – wenn es da nicht stimmt, wird’s haarig.

Einer davon ist die Fähigkeit, in Kontakt zu gehen und zu bleiben. Das Gegenteil davon nennt man soziale Entfremdung.

Ich beschreibe es hier mal anhand von Liebesbeziehungen. Weil es dort besonders sichtbar wird. Soziale Entfremdung kann sich jedoch in allen Beziehungsformen zeigen. Zwischen Freundinnen, Eltern und Kindern, Arbeitskollegen und besonders häufig in der Klient-Therapeut-Beziehung.

Wenn wir die Formen sozialer Entfremdung (er)kennen, können wir durch unser Verhalten „heilsame“ Beziehungsangebote machen.

Gesund: Die Ich-Du-Beziehung

Zunächst der himmlische Idealfall. Hier hat Amor ganze Arbeit geleistet. In einer Ich-Du-Beziehung sind wir in der Lage, unsere Gefühle, Beziehungsbedürfnisse, Wünsche und Anliegen in Beziehung zum anderen zu bringen.

„Ich wünsche mir von Dir; ich brauche von Dir; bitte nimm‘ mich mal in den Arm; ich bin für Dich da, hör‘ mir mal zu, …“

Eine gesunde Ich-Du-Beziehung ist geprägt von gegenseitiger Anteilnahme und Anteilgabe. Sie hält Spannungen aus, weil beide wissen, dass die Beziehung von einer grundsätzlichen Zugewandtheit beider Partner zueinander getragen wird, auch wenn man sich in der Sache mal nicht eins ist.

Ich weiß, dass ich mich mit allem an den anderen wenden kann, mich ihm „zumuten“, wie ich bin, und trotzdem nicht aus der Bindung falle.

Ich-Du-Beziehungen werden bestimmt durch ein hohes Maß an Empathie. Die Spiegelneurone funken. Beide Partner reifen und entwickeln sich aneinander.

Die grundsätzliche Bewegung ist: auf den anderen zu. Gemeinsame Probleme werden auch gemeinsam gelöst. Hier greift Martin Bubers berühmter Satz:

„Der Mensch wird am Du zum Ich.“

Man befindet sich in einem Prozess der Ko-Evolution, wie es der großartige Schweizer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Jürg Willi in seinem Buch „Die Kunst des gemeinsamen Wachsens“ ausdrückt. Er muss es wissen. Er hat sein ganzes Leben(swerk) der Frage gewidmet, was funktionierende Partnerschaften ausmacht.

Alte Verletzungen und das liebe Beziehungsrisiko

So rosig sieht’s leider nicht für jeden aus. Wir alle haben unsere Lebens- und Leidensgeschichte.

„Gebranntes Kind scheut das Feuer“, wie der Volksmund zu berichten weiß.

Konnten wir durch Bindungsstörungen in prägenden Beziehungen kein funktionierendes Modell der Beziehungsgestaltung verinnerlichen, und tragen wir die Narben alter Traumata mit uns herum, dann haben wir Angst, erneut ein Beziehungsrisiko einzugehen.

Wir entwickeln unter Umständen ein ausgeprägtes Nähe-Distanz-Problem. Stecken fest im ambivalenten Bedürfnis nach Intimität auf der einen, und der Angst vor der damit einhergehenden emotionalen Gefahr auf der anderen Seite.

(Siehe: Abhängigkeit und Angst vor Nähe – Wie und warum Beziehungen aus dem Gleichgewicht fallen.)

Dann lassen wir uns nur bis zu einem gewissen Punkt auf einen anderen Menschen ein, frieren unsere Hin-zu-Bewegung zum Partner auf halber Strecke ein (unterbrochene Hinbewegung), oder gestalten die Beziehung von vornherein so, dass keine echte Begegnung möglich ist.

Wir flüchten in die soziale Entfremdung.

Die 3 Stufen sozialer Entfremdung

Das Folgende bitte nicht verwechseln mit den Stufen emotionaler Entfremdung. Das ist ein anderes Thema – obwohl es einige wichtige Überschneidungen gibt.

Völlig klar, dass wir versuchen, vergangene Verletzungen nicht noch einmal erleben zu müssen. Doch genauso verständlich wie hinderlich ist es, wenn wir glückliche Beziehungen führen wollen.

Je mehr Beziehungsverletzungen wir mit den Jahren angesammelt haben, desto höher und dicker werden unsere Schutzmauern. Logisch. Wir alle sind emotional Überlebende. Die eine mehr, der andere weniger.

Die emotionalen Schonhaltungen, die wir uns irgendwann in der Vergangenheit mal aus gutem Grund zugelegt haben, sitzen heute wie ein undurchlässiger Filter vor unseren Herzen und verstopfen den freien Fluss der Liebe.

Wir hindern uns selbst daran, neue positive Beziehungserfahrungen zu machen. Natürlich nicht absichtlich.

Soziale Entfremdung ist die Abwehr gegen eine Angst machende, aber echte und lebendige Ich-Du-Beziehung, die immer auch erfordert, dass ich mich wirklich auf den anderen einlasse.

1. Stufe: Ich-Es-Beziehung

Hier neigen wir zur Verdinglichung. Anstatt ein Gefühl oder ein Bedürfnis direkt zu benennen, sprechen wir über „die Sache an sich“.

„Ja, ja. Vertrauen ist schon eine wichtige Sache. Das sagt der Doktor Soundso ja auch. Muss man halt gucken, was man da machen kann.“

Größte Angst: emotionaler Kontrollverlust.

2. Stufe: Ich-Ich-Beziehung

Bei einer Ich-Ich-Beziehung bleibe ich rückbezüglich immer bei mir selbst. In härteren Fällen nehme ich sogar vorweg oder spreche selbst aus, wovon ich meine, dass der andere es mir sagen würde.

„Ich weiß schon. Ich muss an meiner Eifersucht arbeiten. Dabei kannst du mir nicht helfen. Ich muss es alleine schaffen. Ich weiß, du denkst, ich bin zu eifersüchtig und das ist wirklich ein Problem.“

Größte Angst: erneut emotional missbraucht zu werden und aus der Bindung zu fallen.

3. Stufe: Pseudo-Beziehung

Bei dieser Form der sozialen Entfremdung ist selten viel zu machen. Die Betroffenen verhalten sich oft rebellisch und manipulativ. Sie lassen sich auf keine echte Beziehung ein, wollen nicht selten den anderen zum Narren halten.

Entgegen dem, was sich an der Oberfläche zeigt, ist die Not hier am größten. Doch wird sie selten in ihrer gesamten Tragweite wahrgenommen. Hängt jemand auf dieser Stufe fest, sind dem oft lebensgeschichtlich gravierende Störungen in den Ursprungsbeziehungen vorausgegangen.

Eine echte Begegnung ist schwierig und erst möglich, wenn sich die Betroffenen tatsächlich öffnen wollen. Doch Wollen bedeutet nicht automatisch auch Können. Hier braucht es viel Zeit und „Arbeit“, um einen sicheren Rahmen für eine tragfähige Beziehung zu schaffen. Nicht immer klappt es.

Das Gegenüber wird hier nur scheinbar angesprochen, nur vordergründig. In Wirklichkeit wird der andere eher instrumentalisiert und manipuliert. Wenn Du dabei jetzt irgendwie an narzisstische Beziehungen denken musst, liegst Du gar nicht so falsch. Hier gibt es durchaus Schnittmengen.

„Du bist mir nicht wirklich wichtig. Du interessierst mich nur so viel, wie du mir von Nutzen sein kannst.“

Größte Angst: erneut in dysfunktionale Beziehungen zu geraten.

Der Weg zurück aus der sozialen Entfremdung

Der Weg ist einfach erklärt, aber selten leicht zu gehen. Ziel muss es sein, die Beziehung zum Betroffenen genau entgegengesetzt zur ursprünglich verletzenden Beziehungserfahrung zu gestalten.

Hier handelt es sich um das Prinzip der „antithetischen Beziehungsgestaltung“.

Wer in Beziehung krank geworden ist, kann auch nur in Beziehung wieder gesund werden.

Soweit die Theorie. In der Praxis erfordert das ein großes Maß an Einfühlungsvermögen, Geduld, Ausgeglichenheit, Widmung, Wertschätzung, Bereitschaft und Fähigkeit. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Ich will ganz ehrlich sein: Das fällt in einer relativ unvoreingenommenen therapeutischen Beziehung als Mitmensch auf Zeit natürlich wesentlich leichter, als in den emotionalen Fallstricken einer nicht mehr ganz frischen Partnerschaft mit gemeinsamer Vorgeschichte.

Man wird auch selten drum herum kommen, schwere Verletzungen in der eigenen Lebensgeschichte in einer geeigneten Form therapeutisch aufzuarbeiten.

Aber: Mit entsprechender Übung können beide Partner lernen, die wahren Beziehungsbedürfnisse zu entschlüsseln und die Beziehung so zu gestalten, dass diese beachtet werden. Und zwar sowohl die eigenen als auch die des Partners.

Wenn ich das verinnerlicht habe, gestalte ich nicht nur die Beziehung zum Du, sondern auch zu mir selbst auf eine Weise, die von tiefer Wertschätzung und (Selbst-)Empathie getragen wird.

Die qualitative Veränderung des (Zusammen-)Lebens, die damit einhergeht, lässt sich in Worten nicht beschreiben. Aber erleben.

Wie ist das bei Dir? Kommt Dir irgendwas davon bekannt vor? Bei Dir selbst oder einem Dir wichtigen Menschen? Und was wirst Du nun mit dieser Erkenntnis anfangen?

Mehr vom Autor unter Die 4 Stufen emotionaler Entfremdung – Wie und warum wir uns vor unseren Gefühlen schützen sowie im myMONK-Buch Selbstwertgefühl – Wie es entsteht und wie Du es stärken kannst.


Autor:

Andreas Gauger arbeitet als Heilpraktiker für Psychotherapie, NLP Master-Coach und ROMPC®- Coach & Therapeut in eigener Praxis. Er hilft Menschen, einschränkende Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu überwinden und Frieden mit der eigenen Kindheit und den inneren Eltern zu schließen. Der Text ist in ähnlicher Form zuerst auf seinem Blog erschienen.


Photo (oben): Magdalena Roeseler