Teile diesen Beitrag "Forschung: Das passiert, wenn Du Dich für andere verbiegst"
„Ich kenne keinen sicheren Weg zum Erfolg, aber einen sicheren Weg zum Misserfolg: Es allen recht machen zu wollen.“ – Platon
In der zweiten oder dritten Klasse – ich schrieb an anderer Stelle schon mal davon – war ich ziemlich einsam. Also nahm ich das Geld, das meine Eltern mir zum Eis-Essen gaben, und fragte andere Kinder, ob sie für ein paar Mark meine Freunde sein wollten. Wollten sie nicht. Ich behielt das Geld und verlor meine letzte Hoffnung. Ich ging nachhause und weinte Tränen groß wie Eiskugeln.
25 Jahre sind seitdem vergangen. Jahre, in denen ich lange Zeit immer wieder haderte mit der Einsamkeit und dem Gefühl, ich sei nicht liebenswert genug. Nach und nach lernte ich jedoch, mehr zu mir zu stehen. Und ich erfuhr, dass ich gerade dann gute Beziehungen erleben darf, wenn ich authentisch bin. Ohne Manipulation und ohne mich zu verbiegen.
Der Unterschied zwischen Ja und Ja
Es ist ein großer Unterschied, ob wir anderen helfen und für sie da sind, oder ob wir es allen recht machen wollen. Ersteres nimmt Rücksicht auf unsere eigenen Grenzen und Bedürfnisse, letzteres tritt sie mit Füßen. Ersteres tun wir aus Güte oder Liebe, letzteres aus dem Gefühl, nicht gut genug zu sein und deshalb ständig etwas leisten zu müssen. Aus Angst, man würde uns andernfalls verstoßen, besetzt dann eine Frage unseren Kopf: „Was muss ich tun, damit meine Mitmenschen gut über mich denken?“
So werden Kuchen gebacken, jedes Mal, wenn wir irgendwo eingeladen sind (natürlich inklusive veganer, glutenfreier und geschmacksfreier Variante für alle Betroffenen). Arbeiten abgenommen (sicher, geh Du nur schon nachhause, Kollege, ich mach das sauber, und vielleicht schaffst Du’s das nächste Mal ja aufs Klo?). Verantwortungen aufgeladen (klar darf Dein pflegebedürftiger Opa bei mir einziehen, ich bin doch zurzeit Single und hab ein Doppelbett!). Auch, wenn uns eigentlich gar nicht danach ist. Dann meinen wir „nein“ und sagen „ja“. Lächeln nach außen, doch kommen im Innen kaum klar. Verausgaben uns, für Applaus und für Gunst … die im Grunde gar nichts bedeuten.
Hier vier Gründe, warum es sich echt nicht lohnt, es allen recht zu machen. Sie stammen größtenteils vom Greater Good Science Center der Berkeley University.
1. Wir sind leichter zu durchschauen, als wir glauben
Fröhlich tun, während es in uns wütet oder schmerzt, um andere „zu verschonen“. Um nicht unbequem zu werden. Kann man versuchen, bringt aber nicht viel. Denn wir Menschen sind nicht besonders gut darin, unsere Gefühle zu verstecken. Dafür aber darin, Unstimmigkeiten zu erkennen.
Kleinste Mikro-Ausdrücke huschen unbewusst in Sekundenbruchteilen durch unsere Mimik und Körpersprache. Obwohl wir nicht mit dem Finger drauf zeigen können, triggern sie die Spiegelneuronen in unserem Gehirn, machen uns stutzig und lassen uns denken: „Irgendwas stimmt da nicht bei dem“. Das führt zu Stress. Und zwar bei beiden Parteien.
2. Verbiegen raubt uns Kraft und lässt uns schlechter konzentrieren
Verbiegen kostet Kraft. Das ist bei einem Löffel so (wenn man nicht gerade Uri Geller ist, falls den noch jemand kennt) und mit unserem Wesen ebenfalls. Denn es verlangt nach einer Menge Selbstkontrolle. Diese ist jedoch eine stark begrenzte Form von Energie, wie die Stanford-Psychologin Kelly McGonigal in ihrem Buch The Willpower Instinct schreibt. Wie ein Muskel erschlafft sie über den Tag, je mehr wir sie beanspruchen. Sie fehlt uns dann woanders spürbar. Sogar in völlig anderen Bereichen. Wenn wir uns konzentrieren, Disziplin aufbringen, eine Entscheidung treffen oder unsere Emotionen regulieren müssten.
Die Verkleidung wiegt Tonnen. Unter ihrer Last reagieren wir schneller aggressiv und unfair. Gehen mehr bescheuerte Risiken ein. Essen mehr, um uns zu beruhigen. Unser Denken wird matschiger, unser Planungs- und Leistungsvermögen knickt ein wie ein Nilpferd auf Streichholzbeinen.
3. Es anderen recht machen führt zu Stress und Krankheit
Einen Orgasmus vortäuschen („Du warst echt spitze, Manfred, und wie mich Deine Nasenhaare kitzeln macht mich wahnsinnig an“). Leute einladen, obwohl man gerade Zeit für sich braucht. Ruhig bleiben, obwohl man ausrasten könnte.
All das sind Lügen. Mögen sie noch so harmlos scheinen und sogar mit guten Absichten einhergehen, und mögen wir noch so geübt darin sein, uns zu verstellen – es verursacht Stress. Genau darauf basieren auch die Lügendetektor-Tests. Lügen wir, zeigt sich dieser Stress an unserem Körper. Der Puls verändert sich, die Atmung, der elektrische Widerstand auf der Haut. Wir sind angespannt, und das hört man (oft unbewusst) zudem an unserer Stimme, denn die Anspannung wirkt auf die Stimmbänder ein.
Dafür verantwortlich sind die Stresshormone, die bei einer Lüge ausgeschüttet werden. Sie beeinflussen uns bekanntlich nicht nur kurzfristig während eines Verhörs, sondern schaden uns umso mehr, je mehr wir uns verstellen (lügen) und entsprechend gestresst sind.
In Studien wurden Menschen darin geschult, wie sie in ihrem Alltag weniger lügen können. Man fand heraus, dass sie über Zeit immer schlechter lügen konnten, dafür aber körperlich gesünder waren. Sie hatten weniger Kopfschmerzen und Verspannungen, waren seltener erkältet und schliefen besser. Grund war der verringerte Stresspegel. Außerdem berichteten sie, weniger ängstlich und nervös zu sein. Und dass sich ihre Beziehungen verbessert hätten.
4. Je mehr Du von anderen gemocht werden willst, desto weniger wirst Du Dich selbst mögen
„Ich werde lieber nicht gemocht für den, der ich bin, als gemocht für etwas, das ich nicht bin.“ So soll Kurt Cobain es ausgedrückt haben. Bevor er sich mit 27 selbst das Leben nahm, vielleicht, weil er sich am Ende doch zu sehr hat vereinnahmen lassen und sich selbst verlor.
Genau das passiert schließlich, wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse übergehen. Wer sich ein Bein rausreißt, um anderen zu gefallen, hat eben nur noch ein Bein übrig. Der Stand wird unsicher, man verliert den Halt. Wer sich beide Beine dafür rausreißt, liegt zusammen mit seinem Selbstwertgefühl am Boden und wird vollkommen abhängig von den anderen.
Nehmen wir uns also das Recht heraus, gut zu uns zu sein. Unsere Bedürfnisse wichtig zu nehmen. Authentisch zu sein. Dann können wir auch aus freien Stücken und vollem Herzen geben.
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Photo: cappugino .
Vielen Dank für diesen wunderbaren Text. Ich habe mich so sehr wiedererkannt und du hast mir heute die Augen geöffnet. Ich gehöre ganz klar zu der Sorte, die die eigenen Bedürfnisse mit Füßen tritt. Wie furchtbar, dass man so mit sich umgeht.
Und wie seltsam, dass mir das erst durch das Lesen von deinem Beitrag klar geworden ist. Als ältestes von vier Kindern habe ich früh die Verantwortung für meine Geschwister übernommen (Vater und Mutter berufstätig, keine Oma, Tante o.ä. in der Nähe) Vielleicht habe ich mir dadurch angewöhnt, ewig zurückzustecken ?
Ich werde jedenfalls an dem Thema arbeiten und versuchen in Zukunft etwas netter zu mir zu sein.
Nochmals vielen Dank an dich lieber Tim.
LG Ivaine
Meine Güte Tim, was für ein bewegender Text (vor allen Dingen am Anfang!).
Wie du weißt, ist genau das mein Thema.
Du hast wirklich alles gesagt und du hast an keinem Punkt übertrieben, was die Konsequenzen betrifft, wenn wir nicht unser eigenes Leben leben.
Ich werde von daher weiterhin jede freie Minute nutzen, um den Menschen, die es wirklich wollen, zu helfen, sich selbst ganz nahe zu kommen und damit ein zufriedenes und selbstbestimmtes Leben zu führen.
UND: DANKE, dass du das auch tust!
Einen lieben Gruß von
Dirk
Hi Tim,
hat sich mal wieder gelohnt, hier vorbeizuschau’n. Ich bin eigentlich nicht der Typ, der sich groß beeinflussen lässt, aber ich habe grade festgestellt, als ich über deinen Text nochmal nachgedacht habe, dass das, was ich eigentlich mit meinem Leben nach der Schule anfangen wollte, gar nicht zu mir passt. Ich wollte eigentlich studieren und Englischlehrer werden, aber eigentlich bin ich mehr der kreative Typ. Der, der die Nacht aufbleibt, um ein Buch zu schreiben, und nicht, der der die Nacht aufbleibt, um am nächsten morgen irgendwelchen Menschen irgendwas beizubringen. Allein schon weil ich eine Nacheule und stolz drauf bin. Man lässt sich eben doch beeinflussen, weil es eben besser aussieht ein geregeltes Einkommen zu habe, einen angesehenen Job und eine vorhersehbare Zukunft. Ich weiß nicht, ob das was für mich ist, so ein stinknormales Leben mit wenig Kreativität. Ich glaube ich bin dafür zu bunt.
Danke, danke. War echt hilfreich!
Viel Freude an alle, die das Lesen!
Nico
sry.. das mit dem opa und dem doppelbett war echt zu viel. ich musste so derart lachen, dass ich den artikel kaum zu ende lesen konnte ;D danke! ;D
Lieber Tim,
ich kann Dir voll und ganz zustimmen. Es ist wirklich so ( aus eigener Erfahrung bei einer Freundin) dass diese sich für andere Personen regelrecht kaputt gemacht hat. Nur um bei den Leuten gut da zu stehen. Genauer gesagt um akzeptiert und „geliebt“ zu werden. Nach weiterer Recherche habe ich herausgefunden dass sie dann eine Beziehungsphobie hat. Denn diese Phobie bringt die wenigen dazu sich so sehr zu verbiegen um anerkannt zu werden dass sie sich selbst zerstören. All dass nur um Liebe zu erhaschen, diese sie im Babyalter nicht erfahren konnten.
Und ich müsste laaange Zeit meiner Mutter alles recht machen…später meinem Mann…zwischen durch rastete ich öfters aus um mich von ihrer energie zu befreien…Meiner Mutter sagte ich sogar damals als mein Mann von einem primitiveren Land nach Ö.kam…nach ein paar Monate(ich weiß noch wo wir auf der Strasse gestanden sind meine Mutter und ich),dass ich mit ihm nicht alt werden kann,dass er mich krank machen wird mit seiner damaligen primitivität…ich spürte dass er agressiv ist…Sie antwortete:“Du hast ihm ausgesucht und es kostete viel bis er nach Ö.kam..(sie bezahlte alles)..Und ich antwortete:“Du würdest mich lieber tot sehen als geschieden…dann soll es so sein“…Sie vermittelte mir das Gefühl…Kurz darauf wurde ich schwanger…Er und ich hatten schlimmen Streit…er schubste mich auf Regal voller Gläser!!! Und damalige Depression entwickelte sich langsam aber sicher…Ich war jahrelang depressiv…zuerst länger.. später episoden…Und meine Mutter ist das erst jetzt bewusst dass sie mich irgendwie“verwünscht“hat…So ist mein Gefühl…Aber alles wird gut…
Tja, wieder einmal ein bemerkenswerter Artikel..
Hallo Tim!
Nach jahrzehntelanger Verbiegung in meinem engsten sozialen Umfeld und einem verzweifelten Ausbruch daraus,
der viel Schutt und Asche hervorbrachte (das war ein ziemlicher Egotrip – ein lebensrettender jedoch) kann ich nur dazu raten,
‚es‘ möglichst früh zu lernen. Nunja, wer ist zuvorderst dafür verantwortlich? … ich will jetzt nicht weiter darauf eingehen,denn meine Motivation zum Kommentieren ist eine andere:
Stell Dir vor, Du wachst irgendwann aus der Vernebelung auf. Am Anfang reibst Du Dir noch die Augen und fragst Dich: ‚wo bin ich?‘ Deine Wahrnehmung schärft sich nach und nach. Und Du bekommst plötzlich mit was um Dich herum im ganz normalen Alltag passiert: wie Menschen miteinander sprechen (z.B. unhöflich und unreflektiert) und sich verhalten (z.B. ignorant, verhöhnend und respektlos). Klar, sie meinen es zumeist nicht böse. Nutzt aber nichts, sie tun es dennoch und Du bekommst es nun mal mit.
Spätestens dann fragst Du Dich das erste Mal ‚wie soll ich das aushalten?‘
Aber – das ist ja nur die ‚Spitze des Eisberges‘. Und Du fängst an einzutauchen (schön warm eingepackt im eisigen Meer – denkst Du) und schon nach relativ kurzer Zeit fängst Du an zu frieren, ob all des Leids, das sich unter der hübsch-hässlichen Oberfläche verbirgt.
Wenn Du all dessen gewahr wirst – wie sollst Du dann den Weg zurück finden, der Dir von allen als ’normal‘ verkauft wird oder zumindest hingenommen wird? Verbiegst Du Dich dann? Eher nicht, wenn Du aufrichtig und vor allem ehrlich zu Dir selbst bleiben willst, wenn Du morgens in den Spiegel schauen willst. Und dann wirst Du ganz allmählich und schleichend zum Außenseiter wenn Du sagst was Du siehst; Du wirst zum Querulanten, mit dem niemand etwas zu tun haben will.
Ich kann Kurt Cobain und all die anderen Lebensmüden und Depressiven, die aus diesen Gründen an dieser Welt zerbrachen sehr gut verstehen.
Sich vereinnahmen lassen – zur Existenzsicherung. Manchen, ja ich möchte behaupten sehr vielen, bleibt gar nichts anderes übrig, als es anderen recht zu machen. Auch wenn man mit dem ‚recht machen‘ überhaupt nicht konform geht. Mehr noch sich bodenlos schämt, etwas tun zu müssen, was einem zutiefst widerstrebt.
Dann macht man die Augen wieder zu, stopft sich Stöpsel in die Ohren, starrt stumpf auf sein Mobile und macht weiter.
Bis zum Schluss.
Ich finde, das ist einer der sehr guten MyMonk Artikel. Die vier Punkte sind auch unmittelbar einsehbar und können wachrütteln. Und uns klarer werden lassen darüber, wie wichtig Authentizität ist.
Klar kann es passieren, dass wir statt Balance mit einem Mass an Akzeptanz und Toleranz dann zunächst ein anderes Extrem leben und auf Ego-Trip gehen. Genug gelitten, kann nun alles abgelehnt werden, was nur nach Einschränkung oder Ungemütlichkeit riecht. Wie unerträglich, was lange alles verdrängt und in Nebel gelegt war. Wie schlecht doch alles ist, das zutage tritt!
Ich denke, auch den Nebel brauchen wir zuweilen und gesunden Fokus auf Gutes, das es nun doch auch zweifellos gibt. Wir sind ja hauptsächlich in unseren eigenen Schuhen gelaufen bislang und kennen selten die Ursachen.
Toller Text.
Nicht, dass ich mich für eine Lügnerin halte, aber wie kann ich lernen weniger zu lügen, mehr ich selbst zu sein und auf meine Bedürfnisse zu achten? Woher weiß ich was meine Bedürfnisse sind?
Herzliche Grüße
Tanja