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Ingo-Wolf Kittel ist ärztlicher Psychotherapeut und Gründer des „Philosophischen Cafés Augsburg-Schwaben“. Zu den Themen, die er besonders liebt, gehören die Bewusstseinsentwicklung und die Achtsamkeit. Im myMONK-Interview spricht Ingo-Wolf Kittel darüber, ob Philosophen Angst vorm wirklichen Leben haben, über die Freiheit des Leben- oder Sterbenwollens, Uneigennützigkeit, Massentierhaltung, über die „Panorama-Bewusstheit“ und mehr.


„Von der Fülle der äußeren Lebenswelt kommt man direkt zum Reichtum der inneren Vorstellungswelt“, sagen Sie, wie man auf dem Augsburgwiki-Eintrag lesen kann. Ist Philosophie nicht eher eine Flucht vorm (Er-)Leben – gibt es nicht zum Beispiel viele philosophisch Bewanderte, die noch nie Sex oder eine reife Beziehung hatten?

Das von Ihnen ausgewählte Zitat stammt aus einem Interview, das 2011 aus Anlass des fünften Jahrestags der Gründung des Diskussionskreis „Philosophisches Café Augsburg-Schwaben“ mit mir gemacht wurde. Meine Aussage bezog sich auf die Treffen dieses Kreises. Die haben mittlerweile so viel Anklang gefunden, dass nicht selten mehr als fünfzig Teilnehmer aus allen Bevölkerungsschichten daran teilnehmen. Da geht es „natürlich“ so menschlich zu wie überall (außer vielleicht in akademischen Veranstaltungen 😉 und verständlicher Weise oft auch hoch her. Ich habe ausdrücken wollen, dass dabei alles Mögliche zur Sprache gebracht wird.

Da wird Angelesenes und Gehörtes, Erlebtes und Erlittenes zum Besten gegeben, Einschätzungen und Empfehlungen, gründlich Überlegtes oder im Moment Ausgedachtes, Thesen und Antithesen, Behauptungen und Widersprüche, Träume und Phantasien auch und was einem sonst noch so einfallen kann – die unterschiedlichsten Ansichten und Meinungen also. Der berühmte „Volksmund“ würde all das auf die kurze Formel bringen, wir kämen dabei „vom Hundertsten ins Tausendste“. Wer sich von diesem lebendigen Austausch ansprechen lässt, geht danach mit einer Fülle von Anregungen nach Hause und beschäftigt sich damit vielleicht noch tagelang nachher, wie mir immer wieder mal gesagt wird.

In der akademischen Philosophie geht es verständlicher Weise anders zu. Die steht in einer langen Tradition, auf die geschulte Philosophen gerne verweisen und sich auch beziehen. Aber auch dieses Philosophieren ist wie jedes andere „Nachdenken“ – worauf dieser Begriff dezent hinweist – ein nachträgliches Bedenken und Beurteilen von selbst gemachten Erfahrungen in „der Welt“, in der man lebt (und seien das auch nur Leseerfahrungen…), ein Reflektieren auf „das Leben“, das man führt und von anderen kennt, ein Bedenken seiner Voraussetzungen und der Folgen von Art und Weise zu leben,  ein Erwägen und Abwägen der Möglichkeiten, es aktiv zu gestalten, und mit dem fertig zu werden, was immer einem dabei widerfährt. „Um“-sichtiges, „weit“-sichtiges und „rück“-sichtsvolles Nachdenken so unmittelbar aus dem realen Leben heraus ist nie „Flucht vorm (Er-)Leben“, kann es auch gar nicht sein.

Zur Flucht vor dem Leben scheinen mir solcherart „philosophische“ Neigungen und Überzeugungen nicht zu verleiten. Dazu verführen meinem Eindruck nach viel eher „religiöse“ Ansichten. Jedenfalls fallen mir sofort Legionen von Nonnen und Mönche ein, die sich bis heute in oft abgeschiedene Klöster zurückziehen, Klausner, Eremiten auch, oft Sonderlinge und Exzentriker, Exstatiker, Verzückte und „Verrückte“ in Einsiedeleien Tempeln oder Höhlen, von denen sich manche sogar auf Jahre hin einmauern lassen.

Eigenbrödler und Extremisten gibt es sicher auch unter Philosophen. Ich finde aber nicht, dass beispielsweise

  • der junge jüdische Philosoph Otto Weininger, der Anfang des 20.Jh. wegen seiner radikalen Ansichten über Juden und die Geschlechter und seinem Suizid im Sterbehaus von Ludwig van Beethoven in Wien bekannt wurde,
  • oder der bekannt misogyne Arthur Schopenhauer, der in jungen Jahren mehrere Kinder gezeugt haben, die Mütter damit aber sitzen gelassen haben soll,
  • der eher biedere, aber zeit seines Lebens ebenfalls ledig gebliebene Immanuel Kant
  • und andere berühmt gewordene Philosophen wie etwa der legendäre Dionysos von Sinope, der in einer Tonne gelebt und Alexander den Großen aus der Sonne gescheucht haben soll,

wegen ihrer persönlichen Lebensweise typisch sind für nachdenkliche Menschen und „philosophisch Bewanderte“. Meines Wissens und auch meiner eigenen Erfahrung nach sind Philosophen in der weit überwiegenden Zahl beispielsweise verheiratet und führten oder führen ein ganz normales Familienleben; denken Sie nur an unsere vielen Philosophieprofessoren!

Darf ein Philosoph, der sich der Dinge um ihn herum bewusst ist, Tiere aus der Massenproduktion essen?

Ich denke schon, dass er das „darf“. Ich kenne jedenfalls nichts und niemanden, der ihm das verbieten könnte. Etwas anderes ist natürlich die herrschende Meinung dazu oder meine eigene; nur ist die Frage, ob gerade die verallgemeinerungswürdig ist…

Das Leben kann grausam sein. Was spricht in wirklich harten Zeiten gegen die Selbsttötung?

Für einen selbstbewussten und damit selbstbestimmt lebenden Menschen versteht es sich von selbst, sein Leben unter Berücksichtigung aller für ihn relevanter Umstände selbst zu gestalten und damit auch dessen Ende. Dazu braucht er aber keine „harten Zeiten“. Die können selbstverständlich Anlass sein, Überlegungen darüber anzustellen, wie man auf sie reagieren möchte. Aber ein wirklich selbstständiger Mensch bestimmt in freier Entscheidung jederzeit über sein Leben und auch darüber, welchen Tod er wählt. Der Philosoph Wilhelm Kamlah, einer meiner Universitätslehrer, hat derart selbstbestimmt gelebt. Vor seinem frei gewählten Tod hat er seine Gedanken darüber sogar in einer kleinen Schrift mit dem Titel „Meditatio mortis“ veröffentlicht.

Wie hängen Psychologie und Philosophie zusammen?

Oh, das ist ein Kapitel für sich. Die wissenschaftlich betriebene „Psychologie“ als die „Lehre vom menschlichen Erleben und Reagieren“ auf der Grundlage methodischer Forschung gibt es noch nicht lange. Es waren übrigens Vertreter meines Berufstandes, also Mediziner, die im 19. Jahrhundert mit dieser Forschung angefangen haben. Als sie nämlich die Leistungen unserer Sinnesorgane zu untersuchen begannen, mussten sie die „Probanden“ danach befragen, was sie innerlich erlebten, wenn sie allen möglichen „Sinnesreizen“ oder „Stimuli“ (wörtlich Stachel, Sporn), „Reizen“ also ausgesetzt wurden. (Danach hat es aber Jahrzehnte gedauert, bis an den Universitäten ein formelles Psychologiestudium etabliert wurde,  in Deutschland fast ein Jahrhundert; denn hier wurde es interessanter Weise von den Nazis 1941, also mitten im Zweiten Weltkriegs eingeführt, allerdings nicht wie sachlich naheliegend in der medizinischen, sondern aus unsystematischen historischen Gründen in der philosophischen Fakultät.)

Jene Psychologie, die uns alle sicherlich am meisten interessiert – eine Lehre von dem, was wir alltagssprachlich unser „Innenleben“ nennen – gibt es jedoch schon weitaus länger. Allerdings gibt es die auf eine Art, an die viele zu wenig denken und die bislang auch noch kaum Berücksichtigung gefunden hat. Genauso wenig ist sie bisher systematisch untersucht worden, obwohl selbst Wissenschaftler von ihr ausgehen und ausgehen müssen. Ich will Ihnen ein paar kurze Hinweise darauf geben, worum es geht.

„Natürlich“ haben auch schon unsere Vorfahren ein Innenleben gehabt. Und im Laufe der Zeit haben sie irgendwann und irgendwie auch angefangen, zur sprachlichen Verständigung darüber, wie sie sich selbst erlebt haben, Worte, Ausdrücke und Redewendungen zu schaffen. Über unzählige Generationen hat das dazu geführt, dass es heute in unserer Alltags- oder Umgangssprache die unterschiedlichsten Hinweise auf menschliches Eigenerleben gibt, ein Schatz an psychologischem Wissen, der nur darauf wartet, gehoben zu werden.

Wir alle haben dieses alte Wissen auf ganz natürliche Weise übernommen und das lange bevor wir in die Schule gekommen sind, nämlich mit dem Imitieren derjenigen Sprache, in der uns in den ersten Lebensjahren unsere Mutter und alle anderen Menschen um uns herum angesprochen haben. Dieses frühe Lernen der Muttersprache hat allerdings einen Nachteil. So früh Gelerntes verwenden wir in der Folgezeit auch so selbstverständlich, wie wir es übernommen haben. Anders als später in der Schule lernen wir also nicht gleichzeitig auch, darauf zu reflektieren. Anlässe darüber nachzudenken gibt es auch nicht eben häufig, und die sind meist auch noch eher unangenehmer Art. Eigentlich werden wir im normalen Leben nämlich nur durch erlebte Missverständnisse  und erfahrenes Unverständnis gezwungen, sich selbst etwas klar zu machen oder anderen zu erklären.

Verunsicherung, Überraschung, Staunen und natürlich Neugier werden oft auch genannt, wenn man nach den Anfängen und Motiven fürs Philosophieren fragt. So gesehen ist Philosophieren – natürlich auch als persönliche Leistung – eine eindeutig psychische Leistung. Als solche wird sie aber in der akademischen Philosophie interessanter Weise wenig reflektiert. Es scheint sogar eine regelrechte Ablehnung dagegen zu bestehen. Philosophen, die diese psychologisch wichtige Seite der  Philosophie mitreflektiert haben wie etwa der Hegel-Gegner Jakob Friedrich Fries und sein geistiger Nachfahr Leonard Nelson, werden sehr zu Unrecht des Psychologismus geziehen und damit aus der akademischen Diskussion geradezu verbannt.

Psychologie und Philosophie sind sich aber auch sachlich sehr nahe, und zwar so nahe, dass es tatsächlich schwierig ist, sie auseinander zu halten. Ich denke, sie sind so etwas wie die zwei Seiten derselben Münze. Als Reflexionswissenschaft hat Philosophie – insbesondere und vor allem dort, wo sie beispielsweise als Sprachphilosophie betrieben wird – immer auch mit dem in Sprache vermittelten Wissen zu tun, das sich auf unser Innenleben bezieht.

Am deutlichsten wird das am Beispiel unserer psychischen, traditionell aber meist „geistig“ genannten Fähigkeit zu denken. Philosophen sind so sehr Denker, dass dieser Begriff mit dem ersten fast gleichbedeutend verwendet wird. Ihr Nachdenken über das Denken hätte sie zu den ersten Psychologen werden lassen können. Selbst Aristoteles, der ein Werk „Über die Seele“ hinterlassen hat, ist darüber nicht zum Psychologen geworden.

Philosophen haben sich nämlich nicht ihrer Denkfähigkeit zugewendet, sondern „dem Denken selbst“, seinen Formen und ihrer Logik – soweit sie sich nicht über ganz andere Themen so ihre Gedanken gemacht haben, mehr oder weniger spekulative Gedanken verständlicher Weise; denn „Forschung“ lag bekanntlich lange Zeit weit außerhalb ihres Interesses, weswegen sie bei Forschern vor allem in den Naturwissenschaften bis heute ein eher schlechtes Ansehen haben.

So blieb die Frage, worin genau denn nun Denken selbst besteht, unbeantwortet, übrigens selbst in der modernen Psychologie, in der Denken wie in der Technik als Informationsverarbeitung aufgefasst wird. Erst Colin McGinn, ein in den USA lehrender britischer Philosoph, hat sich vor ein paar Jahren dieser Aufgabe gewidmet und in seinem Buch „Mindsight“, dt. „Das geistige Auge – Von der Macht der Vorstellungskraft“ psychologisch beeindruckend genau erklärt, worin Denken besteht: in einem mehr oder weniger kontrollierten Umgehen mit Vorstellungen (im Unterschied zur Spontanbildung von Vorstellungen in Form von Erinnerungen, Einfällen und Träumen).

Philosophen waren es übrigens auch, die sich zuerst dem in der Sprache enthaltenen sonstigen Wissen über uns selbst in ersten Schritten zugewendet haben. Über die „Völkerpsychologie“ hat sich nämlich nicht erst Wilhelm Wundt geäußert, ein Mediziner und Philosoph, der als Gründer der Experimentalpsychologie gilt. „Alltagspsychologie“ ist heute das Stichwort, unter dem man sich in der Psychologie – vielleicht aufgrund der Anregungen in Ludwig Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“ – diesem Thema zu beschäftigen begonnen hat. Im englischsprachigen Raum spricht man von „folk psychology“. Genauso gut könnte man dazu aber auch „Psychologie von Jedermann“ sagen, so wie der norwegische Psychologe Jan Smedslund von „common sense psychology“ spricht. (Der vielsagende „Volksmund“ kennt sogar eine besonders simple Form davon: die „Küchenpsychologie“… )

Für Psychologen und Psychotherapeuten, für die Sprache wesentliches, wichtigstes und meist sogar einziges Arbeitsmittel ist, wäre eine philosophische Schulung so essentiell, dass ich persönlich nur staunen kann, wie wenig dies im Psychologiestudium zum Tragen kommt. Obwohl Psychologie und Philosophie sachlich aufs Engste zusammen gehören, sieht es faktisch leider oft so aus, als hätten sie nichts miteinander zu tun.

Was unterscheidet die „Philosophische Praxis“ von anderen Formen der Lebensberatung?

Dafür hat jeder Praxisbetreiber sein eigenes Konzept, wenn ich mir deren Homepages so ansehe. Weil die meisten davon studierte Philosophen sind, nehme ich an, dass sie ihr erworbenes Wissen und Können in ihre „Beratungen“ mit einbringen und ansonsten von ihrer eigenen Lebenserfahrung und von ihren persönlichen Ansichten ausgehen, die sie aus beiden irgendwie logisch abgeleitet und im einfachsten Fall wohl verallgemeinert haben.  Anders als für uns Psychotherapeuten und vielleicht auch für Coaches gibt es für  Personen, die eine philosophische Praxis führen, meines Wissens keine systematische Schulung, in der gelehrt und gelernt wird, wie die eigene Subjektivität systematisch zu berücksichtigen und aus Beratungen so weit wie möglich herauszuhalten ist. Persönlich kann da aber nur spekulieren; denn persönliche Erfahrung fehlt mir, weil ich mir Beratungsgespräche solcher Art noch nie gegönnt habe. Meiner Phantasie nach könnten es sich dabei um eine Art philosophische Nachhilfestunden handeln und bei eigener philosophischer Vorbildung vielleicht sogar um kleine Fachgespräche.

Was ist die „Panorama-Bewusstheit“ und wie können wir sie erlangen?

Da sprechen Sie ein Thema an, bei dem ich weit ausholen müsste, um es verständlich zu machen. Ich will es mal mit kurzen Hinweisen versuchen. Als erstes muss ich darauf aufmerksam machen, dass hier von Bewusstheit und nicht von Bewusstsein die Rede ist. Bewusstheit hat mit Wachheit zu tun und mit Aufmerksamkeit.

Wachheit hat unterschiedliche Grade, wie jeder weiß. Auf der einen Seite kennen wir das schlafnahe Dösen, das mit der gewöhnlichen und eher passiven Aufnahme- und Reaktionsbereitschaft abwechseln kann, dann das agile und wachsame Verfolgen von etwas, wofür man sich interessiert, und als anderes Extrem die hochgradige Alarmstimmung, in der man gespannt oder aufgeregt auf alles zu achten sucht, was wahrnehmbar ist. Oft wird hier von Bewusstseinsveränderungen gesprochen, bildlich auch von Bewusstseinsstufen oder von Bewusstseinszuständen.

Weitaus interessanter ist dagegen unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit; denn dabei handelt es sich um die zentralste Eigenleistung, zu der wir fähig sind. Sie ist Grundlage unserer gesamten willentlichen „Selbststeuerung“, die darin besteht, sich zu etwas hin- oder jemandem zuzuwenden. Dieses wache, gezielte und dann meist auch noch eine Zeitlang beibehaltene Sich-(selbst)-Ausrichten ist gemeint, wenn davon gesprochen wird, man konzentriere sich auf etwas, man sei „interessiert“ an etwas, „ganz bei der Sache“, mit „Hingabe“ und „innerer Anteilnahme“ oder „Beteiligung“. Hier ist man „ganz und gar“ von sich aus aktiv, nicht abwartend und in Reaktionsbereitschaft und damit auf „Reize“ und Anregungen wie wartend, auf die hin man dann „ganz gewöhnlich“ reagiert, nämlich gewohnheitsmäßig, reflexhaft oder „rein reflexhaft“, quasi „automatisch“ und damit „irgendwie von selbst“.

Eigenständiges und vor allem überlegtes Handeln, das von einem selbst ausgeht und deswegen nicht unbedingt einen Anlass oder Anreiz braucht – und einen wenigstens kurzen Moment der Besinnung, wenn man auf eine Anregung hin bewusst und nicht reflexhaft reagieren möchte –, ist uns deswegen nicht ohne unsere Fähigkeit zur gezielten Aufmerksamkeit möglich.

Wir können uns aber nicht nur „hellwach und bewusst“ auf etwas richten, was wir wie etwa Stimmungen und „Gefühle“ von uns selbst oder im Äußeren um uns herum sehen, hören oder sonst wie wahrnehmen können. Wir können dabei auch den Umfang dessen, worauf wir achten, selbst bestimmen. Das kann ja „mehr oder weniger“ sein.

Bei hochgradiger Konzentration achten wir vielleicht auf ein winziges Detail von dem, was wir uns gerade vorstellen, oder man versucht, aus dem Klang eines Orchesters gezielt ein Instrument herauszuhören. Wir können uns aber auch dem gesamten Höreindruck überlassen. Dann richten wir uns auf einen weiteren, umfangreicheren Bereich, auf den wir achten. Bemerkenswert leicht fällt uns das beim „Lauschen“, einer Art „Raumhören“, das in einem weit-offenen Hören oder eben Lauschen in den gesamten Raum um uns herum hinein besteht.

Und das meint jetzt der Ausdruck „Panoramabewusstheit“, den der verstorbene Tibeter Chögyam Trungpa, den Gründer der ersten buddhistischen Hochschule in den USA geprägt hat: dass man gleichzeitig und gleichmäßig auf alles achtet, was man nicht nur hört, sondern von sich selbst und der Umgebung um sich herum mitbekommen kann.

Ohne Übung kann das allerdings kein Mensch. Zahllose Wahrnehmungsgewohnheiten, die wir von Geburt an ausbilden, schränken uns „gewöhnlich“ in der enormen Erlebnisweite und Offenheit ein, die uns von Natur aus zur Verfügung steht.

Es ist ein Witz, dass wir aus Gewohnheit darauf verzichten zu nutzen, was „die Natur“ uns eigentlich zur Verfügung stellt, was jedem uns von Natur aus und damit von Geburt an eigentlich zur Verfügung steht. Wir leben alle unter unseren Möglichkeiten und um genau zu sein: weit unter unseren Möglichkeiten!

Sind heute mehr Menschen psychisch krank als noch vor 20 Jahren, wenn ja, warum?

Der Gedanke liegt nahe anzunehmen, es seien heute mehr Menschen psychisch krank als früher, wenn man immer wieder davon liest, es sei wissenschaftlich festgestellt worden, dass gut ein Drittel aller Menschen im Verlaufe ihres Lebens psychisch krank würden. Es ist aber nicht klar, ob das auch bedeutet, dass diese heutigen Zahlen auf eine Zunahme von psychischen Störungen hinweisen. Hier kann man vorerst ja nur von persönlichen Eindrücken ausgehen; denn derart umfassende und erst damit über rein subjektive Eindrücke hinaus gehende Erhebungen hat es bisher schlicht noch nie gegeben. Dabei kommt es auch noch auf eine Unmenge von Details an, als erstes z.B. darauf, was man unter einer psychischen „Störung“ überhaupt verstehen will…

Als Psychiater und Psychotherapeut müssen Sie sich auf das Erleben der Patienten einlassen, ohne sich darin zu verlieren. Wie schafft man es, seine Psyche vor negativen Einflüssen zu schützen – ohne dabei das Mitgefühl zu verlieren?

Ohne Mitdenken und sonstigem „inneren Mitgehen“ mit den sprachlichen und sonstigen „Äußerungen“ eines Menschen ist niemandem ein eingehendes Verstehen eines anderen Menschen möglich. Dieses „Einlassen“ auf ihn, wie alltagspsychologisch so gesagt wird, diese „Anteilnahme“ bedeutet aber nicht, dass man mehr tut als ihm aufmerksam zuzuhören und dabei versucht, auch alles sonst „mitzubekommen“, was er von sich gibt oder zeigt.  Man taucht dabei in das Erleben des anderen selbst genauso wenig ein wie man durch achtsames Mitreagieren im Moment schon an seinem sonstigen Leben teilnimmt.

Auch mit eigenen Erinnerungen, Gedanken, Phantasien oder momentanen Stimmungen mischt sich dies nur dann, wenn man auf seine eigenen „Assoziationen“ dazu, wie es dann fachlich heißt, nicht achtgibt. Oder umgekehrt: da vermengt sich umso weniger, je aufmerksamer man auf das achtet, was vom Gegenüber kommt. Bei unablässiger und vollständiger Achtsamkeit auf ihn kann sich nichts mehr vermengen; da hat man so viel zu tun, alles mitzubekommen und zu verarbeiten, dass man nur noch wissen muss, auf welche Weise man all das verarbeitet – und das lernt man in der Fachausbildung.

Welche drei Bücher empfehlen Sie einem Leser, der sich mit Philosophie beschäftigen möchte, um daraus echte positive Auswirkungen auf sein Leben zu gewinnen?

„Eine philosophische Einführung“ in die Diskussion der Frage „Was ist Vernunft?“ hat Ulrich Steinvorth vor zehn Jahren bei Beck in München als Nr. 1494 der „beck’schen reihe“ publiziert; sie ist gleichzeitig behutsam, gründlich, aktuell und weitreichend.

In derselben Taschenbuchreihe hat Peter Janich eine unverändert hochaktuelle Schrift mit dem Titel „Was ist Erkenntnis?“ veröffentlicht; dabei erörtert er auch das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft, obwohl er einige Jahre zuvor dort auch schon eine „Kleine Philosophie der Naturwissenschaften“ publiziert hatte.

Wilhelm Kamlah hat eine einfühlsame „Philosophische Anthropologie“ hinterlassen. Sie schließt zwar an seine für jedermann gut verständliche, aber für viele vielleicht zu spezielle „Vorschule des vernünftigen Redens“ mit dem Titel „Logische Propädeutik“ an. Aber sie ist psychologisch sehr interessant, weil er dort von unserer „Bedürftigkeit“ ausgeht und für eine Grundlegung der Ethik von hier argumentiert.

Gibt es echte Uneigennützigkeit, oder tun wir auch vermeintlich Uneigennütz[ig]es nur, um uns selbst besser zu fühlen – oder ist der Grund für uneigennütziges Handeln eigentlich völlig egal?

Die Forschungen des Amerikaners Michael Tomasello am „Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie“ in Leipzig haben bestätigt, was alle wissen, die jemals mit Kleinkindern zu tun hatten: schon sehr früh, am deutlichsten ab dem zweiten Lebensjahr und damit lange vor der Zeit, zu der wir Menschen zum Nachdenken in der einfachsten Form fähig werden, zeigt sich, dass wir von Natur aus auf persönlich ganz und gar uneigennützige Weise kooperieren.

Derart „naive“ – von lat. nativus für geboren, in diesem Fall sogar wörtlich zu verstehen als „angeborene“ – Uneigennützigkeit ist damit ebenso „natürlich“ wie sie sich deswegen von selbst versteht: wir brauchen sie ja nicht zu lernen und uns anzutrainieren wie das Denken. Im Zuge der späteren Ausbildung reflektierten Selbstbewusstseins müssen wir nach dem Kleinkindalter aber etwas anderes tun: eine vernünftige Art und Weist „entwickeln“ mit ihr umzugehen.

Zu erklären ist dann weniger, warum wir uneigennützig „sind“, sondern warum wir diese natürliche Fähigkeit später nicht mehr wie Kleinkinder ausleben – bin hin zum Gegenteil: anderen ständig mit Misstrauen zu begegnen.

Wie können die Leser Sie am besten kontaktieren?

Am einfachsten ist sicher, mir eine Email zu schicken. Im Eintrag zu meiner Person in der von Ihnen schon erwähnten Augsburg-Wiki ist alles Nötige zu finden:

INGO-WOLF KITTEL – Facharzt für Psychosomatische Medizin
Philosophische und Psychotherapeutische Praxis
86150  Augsburg, Bahnhofstr. 8 Tel.: 0821-3494505

http://alturl.com/sa4zq + http://alturl.com/3jrze

Herzlichen Dank!

 

Photo: Allie_Caulfield