Teile diesen Beitrag "Folge Deinem Schatten und Du gehst ins Licht – Ein Gestalttherapeut auf dem Jakobsweg von Lourdes nach Finisterre (Leseprobe)"
Da gab es doch dieses spannende Interview mit Jörg vor ein paar Tagen: Hypnose, Schamanismus und der „Gute Kampf„. Weil das Interview so gut ankam und so oft auf Facebook geteilt wurde, gibt’s jetzt mehr von Jörg, und zwar in Form eines Auszugs aus seinem Buch „Folge Deinem Schatten und Du gehst ins Licht – Ein Gestalttherapeut auf dem Jakobsweg von Lourdes nach Finisterre„.
Donnerstag 15.07.(†) Dortmund – Lourdes „Prolog vor dem Sturm“
Geneigter Leser, lass mich dir von dem Beginn einer weiten Reise von einer großen Suche zu sich selbst und der Weltessenz berichten; lass mich dir von dem Reigen um den Sinngehalt des bewussten Lebens – von dem Leben, Lieben und Leiden des J. berichten. Wir schrieben das Jahr des Heiligen Jakobus und es war Sommer. Genauer gesagt war es der Tag des 15. Juli. Der Tag des Namenspatrons Bonaventura, des „Fürsten unter den Mystikern“, wie Papst Leo XIII. dereinst bemerkte. Auch wenn der, um den es hier vornehmlich – im wahrsten Sinne des Wortes – „gehen“ wird, kein Franziskaner, kein Theologe oder gar ein Kardinalbischof war, so bestanden doch auch diese oder jene Parallelen zum heiligen Schutzpatron des jüngsten Tages. Wenn auch beiden, die sich gänzlich unbekannt, freilich davon wenig bewusst, so ließe sich für den Außenstehenden zumindest feststellen, dass man den Einen wie auch den Anderen vorwiegend mit dem Attribut eines Buches anzutreffen vermocht hätte. Was sich in Zeiten von rolltreppenbestückten Großbuchhandlungen, die Messehallen glichen, sicherlich weniger als Besonderheit, denn vielmehr als Alltäglichkeit herauskristallisieren könnte. Ein spitzfindiger Geist würde indes manche Parallele bei der Titelwahl oder zumindest des Themenbereiches ausmachen können. Was uns direkt zum nächsten Punkt befördert: Und zwar dem, dass sich beide Personen Zeit ihres Daseins auf einer Pilgerschaft zum Göttlichen befunden hatten. Obendrein waren ihre beiden Ruhestätten, im Kontext der jeweiligen Zeit versteht sich, von nüchterner Gestalt geprägt. Des Einen Ruhestätte war gegenwärtig jedoch auf ewig angelegt, des Anderen hingegen bloß auf die Zeitspanne einer Nacht beschränkt. Letztere hatte weitaus weniger als vier Stunden an maximal mäßiger Erholsamkeit beinhaltet. Die Nachtruhe, die freilich nicht als solche zu bezeichnen gewesen war, hatte in ihrer qualvollen Ineffizienz den Schlusspunkt gefunden. Mit weit aufgerissenen Augen, wild zerzaustem Haar und wüst verspannter Nackenpartie lag jemand, den dieser zuvor allezeit beharrlich – gewissermaßen noch während gestriger Dämmerstunde – „Ich“ genannt hatte, schweißnass, aus der REM-Traum-Phase[1] hinauskatapultiert in einem vom bleischweren Pathos zerwühlten Ikea-Noresund-Haglöfs-Irgendwas-Metallbettgestell mit Federholzrahmen-„hart“ und Aloe-Vera-Anti-Milben-Bettbezug „weich“ darnieder. Der schwarz lackierte Weckeram weiß furnierten Nachttisch sprach von erbarmungslosen 5.30 Uhr im Morgenrot der Früh, und der bleierne Wille zur apathischen Trägheit belehrte simultan, dass schlechterdings von einem lässigen Weiterschlafen nicht einmal mehr zu träumen sei. Kurze Zeiteinheiten später unterstrichen die Héroes del silencio mit dem geräuschvoll programmierten Wecksong »El camino del exceso« ferner, dass eine frische Bewusstseinsetappe jenseits des horizontalen Halbschlafschlummers eingeläutet worden war. Der Schlaf – El sueño – ist im Spanischen gleichbedeutend mit dem Traum. Also eine zum alltäglich-nächtlichen Dasein zugehörige Tatsache. Gleiches galt in den zurückliegenden Nächten für J. Und zwar in höchstem Maße! Er war sich aufgrund seiner ihn mit aller Macht besetzenden und obskurer Weise immerzu ähnlich ablaufenden Träumereien beinahe selbst gänzlich fremd geworden. Dergleichen nach dem heutigen Erwachen. Im Anschluss an den Trip ins ungeheuerliche Unbewusste überkam es ihn – es war ihm unheimlich und unverständig, wie solch tiefe, eben noch als zutiefst authentisch erfahrenen Bilder in einem schlummerten und durch unbewusst-unkontrollierte Gedanken hervorgerufen werden konnten.
»Waren derartig mit kaltem Schweiß durchtränkte Laken und Decken, derart missratene Erholungsphasen etwa bereits ein erster Preis, den er für seine ahnungslose Kühnheit, für seinen neugierigen Forscherwillen, für sein unbändiges „Wissen-Wollen“ hatte begleichen müssen? Was wollte er denn schon? Was wollte er denn mehr, als den Sinn des Lebens zu erfahren?«
Nicht mehr als sonst. Aber auch nicht weniger als dies war es, wonach es ihn drängte, und er war der Meinung gewesen, dass er ein Recht darauf hatte, eine befriedende Antwort zu erhalten. Ob man ihm deswegen gleich über Tage hinweg die wohlverdiente Nachtruhe hatte rauben müssen, sei nun einmal dahingestellt. Was er nicht ahnte, war, dass man ihm bald weitaus mehr als das wegnehmen würde, dass er irgendwann möglicherweise freudig zum Himmel hinauf gejauchzt hätte, wenn es bei drei oder vier missratenen Nächten geblieben wäre. Jetzt, wo der Traum-Nachspann missmutig durchgelaufen war wie der gedanklich vorbereitete Grüntee durch das chronisch verstopfte Metallsieb, zweifelte es ihn doch sehr bezüglich der von ihm romantisch verklärten Sinnhaftigkeit des vor ihm liegenden Unterfangens.
»Hatte er sich im letzten halben Jahr ausreichend vorbereitet? Würde er sich dort bewähren? Würde er ausdauernd genug sein, am Ziel anzugelangen? Und würde er sie, seine „Ex“, die offene Wunde seines Herzens, endlich vergessen, aus seinem verwundeten Leben tilgen können? Gab es überhaupt etwas, was zu tilgen nötig gewesen wäre?«
Seine aufgrund des sich vor ihm ausbreitenden Unterfangens nicht minder von Besorgnis umfangene Verwandtschaft ersten bis dritten Grades hatte ihm ja ohnehin wochenlang gardinenpredigtmäßig ins geräderte Gewissen geredet, dass er es sich noch einmal überlegen oder besser sein lassen solle. Und dass er obendrein allein ginge, wo er ein solches Unterfangen noch nicht einmal ansatzweise in Angriff genommen hätte – das könnten sie nicht für gut befinden. Überdies wäre er doch seit jeher immer bequem gewesen, dass er ohnehin bald wieder umdrehen würde und all das schöne Geld zum seit Jahr und Tag ungeputzten Fenster hinausgeworfen hätte. Infolgedessen hatte er, der restlos Durchgarnierte, letztlich nicht anders agiert als ein trotziger Rotzlöffel, der sich geschworen hatte: »Jetzt erst recht!« was wiederum ein befreundeter Supervisor zum Anlass genommen hatte, ihn mit einem beinahe peinlichen Fragenfundus bezüglich der dahinterliegenden Motivationen auszuhorchen. Der „penetrante“ Typ konnte wie kaum ein Zweiter ein nahezu abartiges Talent für präzise Formulierungen und stichfeste Frageformen in seinem Sprachrepertoire als Hauptinventar verbuchen. Unheimlich beinahe, wie jener immer schon bereits vorweg zu wissen schien, um was es ginge und was der eigentliche Kern der Sache war. Auf den Punkt gebracht drehte es sich um die Beantwortung von: »Wieso ausgerechnet Spanien? Weshalb der Jakobsweg? Warum überhaupt Pilgern?«
Derartigen Wissensdurst befriedende Antworten war der Ausgehorchte bis dato schuldig geblieben – ihnen beiden schuldig geblieben. Eingangs hatte er versucht, es unter dem Deckmantel „christlicher Religiosität“ veräußern zu wollen, bald darauf unter dem Wunsch nach gelebter Spiritualität, bald unter dem Schlagwort „Abenteuer“, doch waren derlei Erklärungen allenfalls als unzureichend anzusehen gewesen, denn wirklich bewusst wissen, warum er vor einem halben Jahr damit begonnen hatte, in den umliegenden Gehölzen mit 16 kg schweren Hantelscheiben im Gepäck umherzuirren und ein halbes Vermögen in superleichtes Outdoor-Equipment zu investieren, tat er nicht einmal selbst. Er war wahrlich kein Mensch der Übergänge und auch keiner, der so etwas wie Heimat jemals im Erholungsurlaub hatte finden können. Hier ging es freilich um alles andere, als um einen Abenteuerurlaub am heimischen Entenweiher. Es war auch mehr als die innere Jagd nach den antiken Göttern und den Wurzeln des Christentums, welche er seit jeher unablässig mit dem Herzen suchend und nunmehr auf dem archaischen Pilgerweg zu finden gedachte. Es ging um Größeres, von dem er gänzlich nichts wusste – nicht wissen konnte, da es darüber nichts zu wissen gab, höchstens zu erahnen. Aber darüber wusste er ja nichts bzw. wenig. Weder war ihm viel über die Fremdartigkeit, das Risiko noch über die Ungewissheit des Nicht-Wissens bekannt. Bekannt war ihm, dass sich etwas Fremdes jenseits der Türe auftürmte. Letzteres erfüllte ihn bald mit Schauder. Denn so, wie sich das bei dem, den er zu meinen schien, wenn er von sich sprach, immerzu ergab, erwuchs abermals die zuvor nur latent präsente Unsicherheit kurzfristig vor der Prüfungssituation oder Vortragsmoderation, dem ersten Pinselstrich auf dem weißen Leinen, dem Schritt auf die Bühne, zu nervöser Beklemmung.
Darum packte die ihn im zurückliegenden (Alb-)Traum abermals durchlebte Schlangenparanoia und Furcht vor den Einöden der spanischen Mesetas erneut erfolgreich am Kragen, um ihn zum Bleiben zu bekehren. Gegenwärtig war die Schwellenhüterin der ausharrenden Trägheit jedoch sein ärgster Feind. Taub schob er, sich selbst Mut zusprechend, all diese zu Recht fragwürdigen Löcher im Hirn mit der Bettdecke beiseite und versuchte sich mit einem »Wenn du erst einmal im Zug sitzt, wird es schon werden …« anzukurbeln. Und so quälte sich einer von Vielen, der Trägheit zum Trotze, aus der Waagerechten in die Senkrechte, um diesen ewigen Traum, dieses nächtlich wiederkehrende Intermezzo der letzten Tage, mit seinen Worten niederzuschreiben. Während er mit dem kritzelnden Schreibwerkzeug in seiner Hand den eben noch zutiefst authentisch erlebten, seelischen Bürgerkrieg durch kurze verbale Salven geräuschlos aufs Papier abfeuerte, fühlte er sich dabei gehbehindert und überfahren von suspektem Unbehagen, irgendwie, als wäre dieses irrelevante „Ich“ wie eine knisternde Schwarzpulverflamme auf halber Strecke vom Streichholz zur Lunte zwischen den krückengestützten Bewusstseinszuständen hängen geblieben. Darum setzte er sich bereits in Gedanken mit dem Aufsetzen des Hutes, dem Zuschnüren der Schuhe, dem Schultern des Rucksacks und dem Zuziehen des Jackenreißverschlusses auseinander. Ja, mit diesen klassischen Pilgerattributen versehen würde er bald da stehen und in die Welt hinausgehen. »Aber wer war er? Wer war er wirklich? Wo würde er bald mit seinem „Ich“ geblieben sein?[2] Wer oder was ist „Ich“? Was bedeuteten dessen Strukturaspekte? Welchen stofflichen Inhalt hat mein „Ich“? Wer bin ich? Was besagt dieses spezielle Verständnis vom eigenen „Selbst“? Wie der Freiheit inne werden, wenn man in der Willkür lebt?[3] Wie mit der Gabe dieses seltsamen „Ichs“ gewissenhaft umgehen? Wie vom falschen zum wahren Selbst heimfinden? Wie die Liebe wiederfinden? Und was sagt die Uhr?«
Fahrig streifte ein suchender Panoramablick von der längst versteigerten und silbernen Armbanduhr zur unkorrekten Zeitanzeige des schwarzen Weckers und wieder zurück in die sich endlos im Kreis drehende Zukunft. Von den verhökerten Lebensaufgaben und Sinnhaftigkeiten verlassen, hing er, wie der Gehängte des klassischen Tarot, kopfunter – mit dem Kopf nach unten am Baum des Lebens. Allein. Allein im Leben. Allein daheim. Allein in fremder Stadt, in fremder Welt – verdrehter Welt. Die Welt stand Kopf. Er hing auf dem Kopf. Ließ sich zermürbend hängen. Stand sich selbst im Weg. Nein, im Grunde wollte er nicht hinaus, um (s)ein Opfer darzubringen, wollte sich lieber für den Rest des gemeinen Tages faul, mit angewinkeltem Bein, im Kreise baumelnd, in seiner selbst geschaffenen Sackgasse um die eigene Achse drehen. Obgleich unterlag eben jene monochrome Momentaufnahme des emotionalen Gefühlschaos von einer Quarterlife-crisis erfahrungsgemäß einer zielstrebigen Suche nach dem ersprießlichen Lohn, der im absurden Paradoxon vom Wagnis selbst zu finden war. Sein tiefes, dunkel umhülltes, suchendes Herz, das drinnen schlug, war schon zahllosen Irrpfaden auf dem Wechselspiel von Täuschung und der Ent-Täuschung gefolgt. Ebenfalls jetzt, wo es die ordinäre „Gefährdung“ selbst gewählt hatte, musste es offen und ungebunden, ohne die Türschwelle mit Abschiedsküssen zu bedecken, auf den Abgrund der zweiten Seele in seiner Brust zusteuern. Frei nach dem banalen Tagesmotto »Spring und das Netz wird erscheinen auf einem zerfledderten Dortmunder Stadtteilkäsetitelblatt vor dem schwarz-weiß gekachelten Hausflurmuster, schloss sich erst die metallene Gürtelschnalle als biblisches Sinnbild zur Bereitschaft der Wanderschaft und dann die verwitterte Wohnungstür in einem Bekenntnis zur offenen Frage mehr denn zur präzisen Antwort. Ein oder gar zwei halbgare Schritte weiter, trieb es die trägen Knochen, das halbtote Leibgerüst, eingehüllt in Pilgertracht, zeitig aber unbedacht, hinaus ins belebte Straßengewirr des Beton-Dschungels, um jegliche Gewissheiten eines sozialen Netzwerks für geraume Zeit zurückzulassen. Scheu und schweigsam verließ seine Seele desgleichen kurze Augenblicke später wie eine unbescholtene Piratenkorvette auf der Jungfernfahrt in unerforschte Gewässer mit leicht aufgeblähten Segeln und doch zielbewusstem Mut der Überzeugung in der morgendlichen Dämmerung die sichere Hafenbucht. Das zusammengedrängte Gefühl einer schicksalsträchtigen Stunde erfüllte den inneren Leib auf dem Brückenschlag der ausgelegten Wahrsagerkarten, in die Einlaufspule der Hymne zum Untergang alles Bekannten. Jene mechanische Seilwinde zogen ihn, den müden Krieger, in den gähnenden Rachen des unterirdischen Nahverkehrs hinab. Er befand sich in einem fremdartigen Niemandsland, einer Welt zwischen den Welten, bestehend aus latent aggressiven Fußball-Hooligans, versoffenen Exbergbauarbeitern, eloquent zerkratzten Fensterscheiben, patent vollgepopelten und angekokelten Rückenlehnen sowie ausgeleierten Gummi-Greiflaschen zum schwankend-taumelnden Bodenbelag. Im verkaterten Eindruck inbegriffen: muffiger Tunnelgeschmack und abgestandener Untergrundbahnhofsgestank. Alles Dinge, die er während seines allwöchentlichen Daseins mied, so gut wie nur irgend möglich. Mit fokussiertem Scharfblick auf die karierten Streifen der hypnotisch schwankenden Subway-Sitzplanken ging der klammernde Kopf alles noch einmal pedantisch rechnend, heftig rudernd durch: »Das Fernglas, die Lupe, der Schlüssel, die Blumen, der Kühlschrank, die Reiseschecks, der Pilgerausweis, die Rollos, der PC, die Telefonliste, der Knoblauch, die Zwiebeln, der Karren, die Kalebasse, der Hut, die Muschel, das Bare für den Wegzoll …«
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[1] engl. „Rapid Eye Movement“;Schlafphase mit schnellen Augenbewegungen, niedrigem Muskeltonus der quergestreiften Muskulatur
(Herz, Zwerchfell und Augenmuskeln bleiben ausgespart); Thetawellen, langsame Alphawellen rege Betawellen-Aktivität; Blutdruck-/ Pulsanstieg
[2] Vgl., Buber, Martin, 1963, Schriften zum Chassidismus Bd. III – Die Erzählungen des Chassidim, Kösel, München, S. 707
[3] Vgl., Buber, Martin, 1983, Ich und Du, Lambert Schneider, Heidelberg, S. 57
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