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Es folgt ein Gastbeitrag von Andreas Gauger, Autor des myMONK-Buchs Selbstwertgefühl – Wie es entsteht und wie Du es stärken kannst und des brandneuen Buchs Wie man die richtigen Entscheidungen trifft.

“Emotionale Entfremdung” ist ein Zustand, bei dem wir aus Selbstschutz Ersatzgefühle entwickeln, die sich über die ursprünglichen Gefühle schieben, wenn unsere Bedürfnisse wiederholt unerfüllt bleiben. Dies geschieht, um den Schmerz und die Hilflosigkeit über die wiederholte Nichterfüllung eines ursprünglichen Bedürfnisses nicht spüren zu müssen. Diese Ersatzgefühle verselbstständigen sich irgendwann und werden zu unserer gewohnten Art auf bestimmte Belastungen zu reagieren.

Wenn wir immer wieder emotionales Leid erfahren müssen, erklären wir irgendwann unsere Gefühle zum Feind. Durch unsere Ersatzgefühle werden wir uns selbst fremd. Wir sind dann nicht mehr in Kontakt mit den Gefühlen des aktuellen Augenblicks, sondern leben emotional in der Vergangenheit. Was wir dann im Hier und Jetzt fühlen, aktiviert den alten Schmerz und  die alten Bewältigungsstrategien.

In diesem Sinne sind Ersatzgefühle nicht echt und haben für Außenstehende oft etwas Befremdliches. Sie wirken in der aktuellen Situation unangemessen und sind deshalb für andere schwer einfühlbar. Und darin liegt auch ein Kern Wahrheit, denn unsere Ersatzgefühle haben mit der aktuellen Situation meist auch nichts zu tun. Sie werden durch diese nur angetriggert. In schlimmeren Fällen werden sie zu einer Art Lebensgefühl, auch dann, wenn uns eigentlich gerade nichts zu schaffen macht.

Wenn wir uns als Kinder den Angriffen oder Unterlassungen unseres Umfeldes nicht entziehen können (und welches Kind kann das schon), bleibt eben nur der innere Rückzug. Ein Außenstehender bewundert dann vielleicht unsere Stärke, während wir innerlich längst zerbrochen sind. Manchmal wirken wir immun gegen die Attacken anderer, doch in Wirklichkeit trennen wir uns nur von unserem Erleben der Wirklichkeit. Wir vernebeln uns, um den unerträglichen Schmerz nicht fühlen zu müssen.

Viele, die so etwas erleben müssen, verzichten sogar irgendwann darauf, eigene Ansprüche an ihre Mitmenschen zu stellen oder etwas vom Leben an sich zu erwarten. Sie geben sich dann mit einem Minimum zufrieden und glauben daran, mehr hätten sie nun einmal nicht verdient. Dahinter steckt die Schutzhaltung: “Wenn ich nichts erwarte, kann ich auch nicht (mehr) enttäuscht werden.”

Selten sind es einmalige Erlebnisse, die uns in die emotionale Entfremdung führen. Meist dauert es sehr lange, bis wir innerlich aufgeben. Verstärkt wird dieser Vorgang noch durch Lernerfahrungen. Wenn wir wiederholt erleben, dass unsere Bedürfnisse erst dann wahrgenommen werden, wenn wir wütend werden oder in Tränen ausbrechen, hinterlässt das Spuren.

Es wird zu einem unbewussten Muster, mit dem wir durch unser späteres Leben gehen. Dafür kann uns niemand einen Vorwurf machen, doch wir zahlen einen Preis dafür. Unser Umfeld auch. Wir haben gelernt, dass das, was wir brauchen, nur auf eine bestimmte Weise zu bekommen ist. Solche Muster sind einfach Spiegelungen unserer frühen Prägeerfahrungen.

Um diese Muster zu überwinden, müssen wir wieder Zugang zu den darunter liegenden wahren Gefühlen bekommen. Wir müssen den ursprünglichen Schmerz stillen und heilsame neue Erfahrungen machen. Dann erlangen wir die nötige innere Sicherheit, um uns mit unseren wahren Bedürfnissen wieder direkt an die wichtigen Menschen in unserem Leben zu wenden, ohne den Umweg über die Ersatzgefühle und die daraus hervorgehenden Verhaltensweisen gehen zu müssen.

Wie emotionale Entfremdung entsteht

Ist eines unserer (emotionalen) Bedürfnisse unerfüllt, empfinden wir ganz allgemein einen Schmerz. Als Kinder zeigen wir dies deutlich in unserem Verhalten und appellieren damit an unser Umfeld, unser Bedürfnis zu stillen. Wird auf dieses Bedürfnis von unserer Umwelt wiederholt angemessen reagiert, reduziert sich unser innerer Stress und wir beruhigen uns. Es gibt keinen Grund zur emotionalen Entfremdung. Geschieht dies jedoch nicht, durchlaufen wir nach und nach einen Prozess, in dem unser innerer Stress immer weiter steigt.

Die emotionale Entfremdung durchläuft normalerweise verschiedene Stufen, die aufeinander aufbauen. Wir steigen diese Leiter so weit höher, bis wir eine entsprechende Reaktion bekommen oder aufgeben. Haben wir dabei wiederholt erlebt, dass man auf einer bestimmten Stufe emotionaler Entfremdung auf uns reagiert hat, wird diese Stufe meist unsere typische Reaktion auf ähnliche Situationen in unserem Leben. Wir überspringen dann die unteren Stufen und gehen gleich auf “unsere”.

Stufen emotionaler Entfremdung

1. Stufe emotionaler Entfremdung: Ärger und Wut

Ärger und Wut sind sehr aktive und machtvolle Gefühle, die von der Ohnmacht und Hilflosigkeit ablenken, wenn wir mit einer Umwelt konfrontiert sind, die auf unsere Bedürfnisse nicht angemessen reagiert. Durch diese eher aktiven Gefühle fühlen wir uns stärker und machtvoller, als wir eigentlich in diesem Moment sind. Diese Form der Aggressivität hat auch den Sinn, das Verweilen in der Verweigerungshaltung für unser Gegenüber unattraktiver erscheinen zu lassen, da derjenige sich so mit unserem Ärger auseinandersetzen muss.

2. Stufe emotionaler Entfremdung: Trauer

Kommen wir mit Ärger und Wut nicht weiter, werden wir traurig. Auch in der Traurigkeit steckt ein Appell an den anderen, diesmal zielt er auf das Gewissen. Viele können die Traurigkeit eines anderen nur schwer ertragen und reagieren entsprechend. Dennoch ist diese Traurigkeit in sofern echt, dass sie unseren Schmerz über die Nichterfüllung unseres Bedürfnisses und unserer mit ihr verbundenen Hilflosigkeit ausdrückt.

3. Stufe emotionaler Entfremdung: Resignation

Hilft alles nichts, geraten wir in einen Zustand der inneren Kündigung. Dann entfremden wir uns völlig von uns selbst und unserem emotionalen Erleben. Wir hören auf, Ansprüche an andere und das Leben zu stellen. Dafür stellen wir manchmal umso höhere an uns selbst und werten uns dafür ab, dass wir ihnen nicht gerecht werden können. Menschen, die auf dieser Stufe der emotionalen Entfremdung gefangen sind, verstecken ihre tiefe Resignation oft hinter kompensatorischem Verhalten wie übertriebene Betriebsamkeit, immer gut drauf zu sein oder in permanentem Selbstmitleid um sich selbst zu kreisen.

4. Stufe emotionaler Entfremdung: körperliche Symptome

In einigen Fällen werden die Probleme aus dem “psychischen Apparat” in den Körper verschoben, damit sich die Psyche nicht weiter mit ihnen auseinandersetzen muss. Auch dies kann eine Art von Abwehrmechanismus sein, wie ihn schon Sigmund Freud beschrieben hat. Daraus können zum Beispiel chronische Rückenschmerzen oder Muskelverspannungen, Verdauungsprobleme, Nervosität usw. entstehen.

P.S.: Hier geht’s zum myMONK-Buch von Andreas Selbstwertgefühl – Wie es entsteht und wie Du es stärken kannst. Und hier findest Du Andreas‘ letzten Text auf myMONK:  Wie Deine „inneren Eltern“ Dich gefangen halten – und wie Du Dich endlich befreien kannst.

Autor:

Andreas Gauger arbeitet als Heilpraktiker für Psychotherapie, NLP Master-Coach und ROMPC®- Coach & Therapeut in eigener Praxis. Er hilft Menschen, einschränkende Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu überwinden und Frieden mit der eigenen Kindheit und den inneren Eltern zu schließen.
Web: andreas-gauger.de
Auf Facebook: facebook.com/AndreasGaugerCoachingBeratung

Anmerkung: Das hier vorgestellte Konzept der emotionalen Entfremdung basiert im Wesentlichen auf den Ausführungen von Thomas Weil und Martina Erfurt-Weil (Selbstwirksamkeit und Performance – ROMPC®-Kompendium Theorie- und Trainingshandbuch, MEW Medienedition Weil e.K., Ausgabe 2010) und wurde von mir nach meinen Erfahrungen geringfügig modifiziert.  | Photo (oben): Lies Thru a Lens