Teile diesen Beitrag "Die Zeit >dazwischen< ... oder wie wir unser Leben verpassen"
„Leben ist das, was passiert, während du andere Dinge im Kopf hast.‘‘
– John Lennon
Bist Du schnell genervt, wenn Du irgendwo anstehen musst oder auf den Bus warten oder auf eine Verabredung, die sich verspätet hat?
Hast Du manchmal das Gefühl, Dein Leben zu verpassen?
Würdest Du Deine Zeit gern intensiver auskosten?
Dann gibt es da eine Geschichte, die Dir helfen könnte.
Und die geht so:
Kleine feine Zeitreisen
Ein junger Mann war für ein Date in einem Park verabredet. Was freute er sich darauf, schon seit Tagen! Nichts hielt ihn mehr zuhause, obwohl noch einige Stunden vergehen mussten, bis er seine neue Flamme sehen konnte. Er machte sich auf den Weg. Im Park angekommen breitete er die Decke an einer schönen Stelle nahe des Bachs aus, setzte sich drauf, schaute auf die Uhr. Noch ganze zwei Stunden bis zum Date, verdammte Axt. Er trommelte mit den Fingern, wackelte mit den Füßen, schaute immer wieder auf die Uhr. Doch die Zeit schien sich gegen ihn verschworen zu haben, so langsam zog sie vorüber. Der junge Mann wurde ganz fahrig.
Plötzlich kam ein Kobold aus dem Gebüsch gesprungen, der den Mann schon eine Weile beobachtet hatte. Der Kobold sprach: „Hier ist ein Ring, wenn Du an ihm drehst, kannst Du die Zeit vorspulen. So musst Du nicht länger warten. Zurückspulen geht übrigens nicht, aber das macht ja nichts“ und reichte dem Mann den Ring, der sich diesen sofort überstülpte und ausprobierte. Ja, ein bisschen am Ring gedreht und schon war die lästige Wartezeit vorgespult – seine Verabredung tauchte gerade in einiger Entfernung auf. Noch einmal drehte er ein kleines Stück am Ring und schon saß sie mit ihm auf der Decke. Endlich. Sie plauderten und aßen etwas von den leckeren Weintrauben, die er mitgebrachte hatte. Bis dunkle Wolken am Himmel aufzogen. Wie ungemütlich. Was machen? Ach ja, der Ring! Ring gedreht, Wolken verzogen, alles wieder gut. Das Date war durch das Vorspulen leider ziemlich kurz geworden, aber hey: auf das nächste Treffen musste der Mann dank des Ring ja kaum lange warten.
Auch im Alltag erkannte der junge Mann immer mehr die Vorzüge seines Schmuckstücks. Der Weg zur Arbeit, die langweiligen Meetings, die Warteschlange in der Kantine, der Weg zurück von der Arbeit, die Warteschlange im Supermarkt, das Kochen der Kartoffeln daheim, die Werbepausen im Fernsehen, die Einschlafzeit … all das und mehr konnte er einfach vorspulen. Und das tat er auch. Nie wieder musste er auf etwas warten. Nie wieder nervige oder unspektakuläre Zeiträume durchleben.
Nur einen einzigen Nachteil hatte es, dass der Mann sich so oft seines Zauberrings bediente: schon nach kürzester Zeit war er alt. Im Altersheim drehte er weiter an seinem Ring, um sich die lange Wartezeit aufs Abendessen um 15:30 Uhr zu sparen. Naja, und wenig später war er tot (immerhin war auch das Sterben schnell erledigt).
Die >Zeit dazwischen<
Das alles, was der Mann mit dem Ring verneinte und auslöschte, das alles ist pures, wertvolles, heiliges Leben. Aufgeregt auf das Date warten, dunkle Wolken, die kommen und gehen, der Weg von A nach B und zurück, die Meetings, der kochende Topf, die Pausen und Werbepausen und die Zeit, die wir zum Einschlafen brauchen. All das hat er verpasst.
Wir haben zwar keinen solchen Ring … aber verneinen wir nicht auch ohne ihn so viel >Zeit dazwischen<?
… wenn wir an der Haltestellen stehen und ungeduldig auf den Bus warten.
… wenn wir im Büro hocken und ungeduldig auf den Feierabend warten.
… wenn wir an der Supermarktkasse stehen und ungeduldig warten, bis wir endlich dran sind.
… wenn wir ungeduldig den nächsten Urlaub herbeisehnen und uns der Rest gar nicht schnell genug vorbei sein kann.
Wenn wir uns abhetzen, um die all „schlechte Zeit“ hopphopphopp (her)umzubringen, auf dass die nächste wenige „gute Zeit“ hoffentlich ganz bald wieder erreicht ist.
Dabei gibt es eigentlich nur eine einzige >Zeit dazwischen<. Die zwischen Geburt und Tod. Die einzige, die uns zum Leben zur Verfügung steht.
Innerhalb dieser Zeit ist jeder Moment gleichermaßen kostbar. Wir müssen ihn wichtig nehmen.
Sonst verpassen wir ihn und damit unser Leben.
Moment für Moment für Moment.
P.S.: Hier findest Du 10 Wege, den Alltag und jeden einzelnen Moment mehr auszukosten.
Photo: Hartwig HKD
Hey Tim , was für eine tolle Geschichte und so lehrreich , ganz lieben Dank dafür
Dankeschön Stefanie!
Ich hab mir irgendwann angewöhnt, an Supermarktkassen etc. einfach abzuschalten. „Ein paar Minuten Zeit für mich“, denke ich mir und dümple gemütlich in Gedanken. Es gelingt natürlich nicht immer, wenn ich zu schlecht drauf bin, dann bin ich auch leichter genervt. Erstaunlich dabei ist, wie gestresst die Menschen beim Einkaufen sind. Das sieht man vor allem dann, wenn man es von außen betrachten kann.
Was mich speziell an schlecht gelaunten Einkäufern beschäftigt: Da gehen die Leute zur Arbeit, wo sie womöglich auch nicht so glücklich sind, und dann wenn sie ihr Geld endlich ausgeben können, dann macht das auch noch unglücklich?!
Spannend ist, dass wir diese kleinen freien Zeitscheibchen im Alltag immer mehr mit Action füllen. Fast alle glotzen in ihr Smartphone, telefonieren oder sind sonst wie aktiv. Ich weiß nicht, ob das so gut ist. Ich denke, diese kleinen „Zwangspausen“ haben (bzw. hatten) auch was sehr Gutes. (Das ist ein alter Gedanke aus einem sehr langen essayartigen Post von mir selber: http://zwei.drni.de/archives/1232-Willkommen-in-der-Sofortzeit.html)
Hi Toc4 (unglaublich, neulich wars doch erst der 3fach-Toc? 🙂 ),
der Kreislauf, von dem Du schreibst aus Unzufriedenheit im Job -> Dinge kaufen (auf unzufriedene Weise), der trifft vermutlich wirklich für viel zu viele Menschen zu.
Ich denke es fällt dann auch einfach nach einem stressigen 12-Stunden-Tag sehr schwer, im Supermarkt schon runterzufahren.
LG
Tim
Ich liebe solche „Zwischenzeiten“, ich konnte aber auch schon immer gut warten (zum grossen Unverständnis vieler Menschen).
Ich habe zum Beispiel dieses „Warteschlagenoptimierspiel“ nie verstanden. Das Spiel geht ungefähr so – es sind unzählige Varianten möglich:
1. Genervt sein, dass sich bei IKEA an einem Samstag lange Schlangen vor den Kassen bilden.
2. Sich unbedingt in die Schlange anstellen wollen, bei der es am schnellsten geht (was so ungefähr der Garant dafür ist, dass man in der langsamsten Schlange steht).
3. Noch einmal schnell die Schlange wechseln, weil es doch so aussieht, als ob es wo anders schneller geht.
4. Sich ärgern ärgern ärgern, dass man trotz alledem ausgerechnet in der Schlange steht, bei der es zu Verzögerungen kommt. Lippen resigniert aufeinander pressen, Augen rollen, Hände in die Hüften stemmen, genervt den Kopf schütteln, den Kopf nach vorne recken und darüber schimpfen, wie unfähig die Kassiererin ist oder der Kunde, der gerade dran ist oder die Markt-Leitung, weil sie keine zusätzlichen Kassen aufmacht, … Natürlich darf das Selbstmitleid und die Frustration nicht fehlen „Immer stehe ich in der Schlange, in der es am längsten dauert / die Idioten stehen / …“).
Dabei sind solche Warte- und Zwischenzeiten gut geeignet, um Wertvolles über sich zu erfahren oder um einfach nur durchzuatmen und um so zu sein, wie man gerade ist.
Ich gehe gerne in meinen Körper und spüre einfach nach: Wie fühlt sich mein Körper an? Gibt es Stellen die verspannt sind? Ist mir heiss oder eher kalt? Kann ich die Atembewegung spüren? Wo?
Es gibt zahlreiche Achtsamkeitsübungen, die sich eignen.
Oder ich urteile bewusst über die Menschen, die ich sehe. Ich kenne eine kleine Übung, mit der man seine eigenen Urteile über andere Menschen dafür nutzt, um seine eigenen Bedürfnisse besser kennen zu lernen. So komme ich in den Kontakt mit mir und meinen Bedürfnissen.
Hi Marianne,
oh ja, ein schöner Begriff, das Warteschlangenspiel (das ich manchmal auch mitspiele, ungewollt, wenn mich der Stress oder was auch immer doch mal gepackt hat, zum Beispiel wegen der zu vielen Menschen um mich herum).
Zu 4. kann ich noch ergänzen:
Brüllen: MACHEN SIE WEITERE KASSEN AUF!!
„Oder ich urteile bewusst über die Menschen, die ich sehe. Ich kenne eine kleine Übung, mit der man seine eigenen Urteile über andere Menschen dafür nutzt, um seine eigenen Bedürfnisse besser kennen zu lernen. So komme ich in den Kontakt mit mir und meinen Bedürfnissen.“
Das klingt spannend. Hast Du da ein Beispiel für uns?
LG
Tim
Hi Tim
Das mit dem „Vom Urteil zum Bedürfnis“ funktioniert so:
(Ich versuche mich mal an zwei verschiedenen konkreten Beispielen, die ich heute erlebt habe).
Entweder man verurteilt ein konkretes Verhalten
“ Sie hat die Tür nur einen kleinen Spalt weit aufgemacht“
–> Gegenteil von dem Verhalten: Sie macht die Tür auf und zeigt sich.
–> Welches Bedürfnis würde durch das gegenteilige Verhalten erfüllt? Direkter Kontakt und direkte Auseinandersetzung.
Oder man drückt ein Urteil aus
„Sie ist feige und lahmarschig, versteckt sich hinter der Trennwand“
–> Direktes Gegenteil ist das Bedürfnis: Integrität und Effizienz, Sich zeigen.
Es geht einfach nur darum, die Urteile sozusagen zurück zu nehmen und zu schauen, was diese mit mir zu tun haben, was ich daraus über mich lernen kann, was mir wichtig ist.
Ich hoffe, dies war verständlich.
Hi Marianne,
danke für die Erläuterung, das ist ein sehr interessantes Vorgehen! Da werd ich noch mal drüber nachdenken.
LG
Tim
Finde ich sehr schön gemacht. Führt uns doch die Geschichte deutlich vor Augen, wie wir ständig im Denken verhaftet sind. Das ist das Ego pur, das nichts weniger mag als den gegenwärtigen Augenblick, der der Illusion gegenübersteht. Und es kann unglaublich langweilig werden, wenn es gerade nicht nach dem Kopf geht. Doch hinter Langeweile verbirgt sich oft nur die unterschwellige Unruhe, die mit Denken ständig überdeckt oder eben doch mal angeschaut werden will …
LG Richard
Hi Richard,
„Ego pur, das nichts weniger mag als den gegenwärtigen Augenblick, der der Illusion gegenübersteht“
Das gefällt mir ausgesprochen gut, DANKE.
Ich wünsch Dir eine gute neue Woche!
LG
Tim
Tolle Geschichte, danke. Ich nehme inzwischen jede Wartezeit als Möglichkeit der Kurzmeditation bzw. des bewussten Atmens. Da versink ich teilweise so, dass die Verkäuferin mich wieder „aufwecken“ muss 🙂
Hi Mischa,
DANN BIST DU DER, DER VOR MIR IMMER SO TRÖDELT, DAS DARF DOCH NICHT WAHR SEIN!! 😉
Nein, mal im Ernst, das find ich sehr gut.
Nur ein Gedanke: Wäre es nicht auch eine gute Form der Achtsamkeit, am Ende – wenn Du dran bist – gleich präsent zu sein?
LG
Tim
Ich arbeite dran 🙂
LG
Mischa
Hey Tim,
voll schön mal wieder. Dazu fällt mir ein sehr cooles Buch ein von Jeff Goins. „The in between“ heißt es – sehr lesenswert; da geht´s genau um das, was du hier beschreibst. (Hier bei amazon zu finden: http://www.amazon.com/The-In-Between-Embracing-Tension-Between/dp/0802407242).
Cheers,
Ben
Hi Ben,
schön mal wieder, von Dir zu hören! 🙂
Das Buch klingt super, danke für den Tipp, das hau ich gleich mal auf meine Liste.
LG!
Tim
Danke…
mehr kann ich dazu nicht sagen…!
DANKE!
Danke für diese schöne lehrreich Geschichte!
Toller Artikel, danke!
Erinnert mich an den Film Click! Mit Adam Sandler. Statt eines Rings bekommt er eine Fernbedienung zum vorspulen.
LG Ella
ich nehme mir jetzt einen Besonderen Ring der mich daran erinnert, genau in solchen Momenten inne zu halten, sozusagen als Einsteiger Hilfsmittel der Ruhe