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Wir sollen unsere Vergangenheit aufarbeiten, sagen die Einen. Wir sollen unsere Zukunft planen und Ziele setzen, sagen die Anderen. Dann gibt es die, die uns raten, immer im „Hier und Jetzt“ zu leben und den Rest zu vergessen. Und zuletzt noch ein paar Verrückte, die uns alles gleichzeitig und damit einen Widerspruch aufbürden wollen, der uns in Fetzen zerreißen kann.

Die Verrückten sind oft wir selbst. Ich bin einer von ihnen. Oder war es. Hab’ mich lange damit rumgeschlagen, immer voll präsent im Hier und Jetzt zu sein und dabei weder meine Herkunft, noch den Weg vor mir zu vernachlässigen.

Inzwischen halte ich die Idee vom ständigen Leben im Moment für unsinnig und fürchte, dass man zum Scheitern verdammt ist, jagt man ihr hinterher.

Lass’ uns das Problem genauer anschauen und verstehen, wie wir ein Maß an „Hier und Jetzt“ für uns finden, dass uns nicht frustriert, sondern hilft und wirklich mit uns und unserem Leben verbindet.

Gestern und morgen und das, was dazwischen liegt

Ein kurzer Blick zurück, nach vorn und ins Auge des Moments:

Gestern

Der, dessen Gedanken sich ständig in der Vergangenheit suhlen, kann kaum glücklich und lebendig sein. Wenn er immerzu an das Schöne denkt, das zurückliegt, an die guten alten Zeiten, dann verpasst er die (vielleicht ja auch gute) neue Zeit. Denkt er immer an das Leid, das ihm widerfahren ist, ohne die Verantwortung für sich und sein Leben in der Gegenwart zu übernehmen, so gibt er das Bild eines Erwachsenen ab, der in einer vor Jahren oder Jahrzehnten vollgemachten Windel steckt – und bringt sich ebenso um die Chance, heute ein leidloseres, ja vielleicht auch gutes Leben zu leben.

Morgen

Wer hingegen überwiegend morgen wartet, auf die Erlösung im oder nach diesem Leben, auf den nächsten Abschluss oder Karrieresprung, die nächste Beziehung, den nächsten Urlaub oder die Rente, das Paradies oder Nirvana, der opfert seine gewisse Gegenwart einer ungewissen Zukunft, die er wahrscheinlich nicht mal dann genießen kann, wenn sie komplett nach seinen Wünschen eintritt. Denn schon bald kämen die nächsten Wünsche, die er verwirklichen will und ihn den heutigen Tag erneut als Zwischenstufe sehen lassen, die ihm nur im Weg ist.

Ich hing schon immer eher im Morgen als im Gestern fest. Ich weiß noch, wie sicher ich war, dass nach dem Abi alles besser werden würde, ohne stundenlang in der Schule herumhocken zu müssen. Dann kam der Zivildienst … und man, wie großartig wohl die Freiheiten des Studiums sein würden, das mich erwartete: keine viel zu frühen Frühschichten und viel zu nächtlichen Nachtschichten. Dann kam das Studium, und mit ihm fiel ich erst einmal für zwei Jahre in ein tiefes Loch. Wann immer ich mich an meine Hoffnung auf die Zukunft klammerte und damit aus der Ist-Zeit zog – was die Zukunft brachte war nie gut genug, um mich in der Gegenwart niederzulassen.

Das, was dazwischen liegt

Das Jetzt, der Moment ist jedoch auch kein Allheilmittel.

Aber hat nicht unter anderem Buddha gesagt, dass es so ist? Ja, Buddha liebte die Gegenwart, aber er liebte auch den mittleren Weg und nicht die Extreme. Ein solches Extrem ist auch, sich ununterbrochen auf das Jetzt konzentrieren zu sollen.

Warum das Hier und Jetzt allein nicht ausreicht

Nach seiner Erleuchtung sprach Buddha in seiner ersten Predigt vom mittleren Weg:

„Zwei Extreme sind, ihr Mönche, von Hauslosen nicht zu pflegen. Welche zwei? Bei den Sinnendingen sich dem Anhaften am Sinnenwohl hingeben, dem niederen, gemeinen, gewöhnlichen, unedlen, heillosen; und sich der Selbstqual hingeben, der schmerzlichen, unedlen, heillosen. Diese beiden Extreme vermeidend, ist der Vollendete zum mittleren Vorgehen erwacht, das sehend und wissend macht, das zur Beruhigung, zum Überblick, zur Erwachung, zum Nirvana führt.“

Ob man an Erleuchtung, Wiedergeburten und Nirvana glaubt oder nicht, Buddha ist doch ein recht vertrauenserweckender Lehrer. In der zitierten Predigt warnt er davor, sich zu sehr oder zu wenig um die materiellen Bedürfnisse und Wünsche zu scheren. Ich denke, das lässt sich auch auf die Zeit übertragen: das Dach überm Kopf und das Essen auf dem Tisch tauchen nun mal nicht spontan auf, nur weil wir sie – im Hier und Jetzt – brauchen. Beides muss geplant und dann auf Basis von Gelerntem (Erfahrungen / Erinnerungen) angestrebt werden.

Erinnern wir uns nicht an Vergangenes und planen wir nicht die Zukunft, so sind wir nicht im Moment und im Leben angekommen – sondern komplett verloren.

Es gibt da einen makabren, düsteren Scherz, der die Sache ganz gut trifft:

Sagt der Doktor zum Patienten: „Es tut mir leid. Sie haben Krebs … und Sie sind leider auch noch an Demenz erkrankt.“ Und der Patient: „Ach, Gott sei Dank, wenigstens kein Krebs.“

Der kranke Mann muss sich nicht mehr mit seiner Vergangenheit befassen, aber er kann es auch nicht mehr. Gleiches gilt für seine Zukunft, vermute ich. Und das hat üble Folgen. Wie soll er sich etwa daran erinnern, dass er krank ist und regelmäßig wegen seiner Krebserkrankung zum Arzt gehen muss, also seine Zukunft so planen, um die besten Chancen auf Heilung zu haben?

„Aber Kinder, die leben doch immer im Moment und die sind soohoo lebendig und glücklich!“ kommt vielleicht auch Dir in den Sinn. Ja, das kann sein … aber wie viele Kinder ernähren und versorgen sich selbst? Leider gibt es in den zahlreichen Slums dieser Welt Kinder, die sich tatsächlich allein durchschlagen müssen und es irgendwie auch schaffen … aber die sind dann weder ständig im Moment (sie müssen z.B. planen, wie sie an essen kommen und wo sie schlafen sollen), noch besonders glücklich.

Selbst Tiere planen ihre Zukunft. Eichhörnchen zum Beispiel können erkennen, wann manche Bäume viele Samen produzieren werden und pflanzen sich mehr fort, wenn sie ein gutes Nahrungsangebot erwarten. Ein echter Hauswirtschafts- wenn nicht sogar Business-Plan (vielleicht aber auch nicht, da sind die Wissenschaftler sich uneins, siehe hier).

Wir brauchen alle drei Zeiten:

  • Die Vergangenheit, aus der wir lernen und die uns verstehen lässt, warum wir uns im Moment so fühlen, wie wir uns fühlen, denken, wie wir denken, und befinden, wo wir uns befinden. Wie sonst können wir angemessen auf die Ängste, Sorgen, Verletzungen, Bedürfnisse, Projektionen und Vorurteile eingehen, die wir mit uns herum tragen und die auch in der Gegenwart immer wieder aufpoppen? Die Vergangenheit ist kein Tabu: Sie gehört dazu. Zu uns.
  • Die Gegenwart, in der wir atmen, sehen, schmecken, hören, riechen, fühlen, denken und handeln.
  • Die Zukunft, auf die wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten vorbereiten, um in ihr eine angenehme Gegenwart erleben und uns bewusst weiterentwickeln zu können.

Weil wir alles drei Zeiten brauchen, sollten wir dem ständigen Leben im Moment genauso wenig blind hinterher rennen wie irgendwelchen Millionen Euros – und auch nicht enttäuscht sein, wenn unsere Gedanken in der Zeit zurück oder nach vorn reisen.

Warum trotzdem alle vom Hier und Jetzt sprechen

Die Idee vom ununterbrochenen Fokus auf den Moment halte ich nicht nur für unsinnig, sondern für eine gefährliche und fiese Marketing-Lüge etlicher Anbieter Selbsthilfe-Industrie.

Fies, weil der Guru ein direkt oder zwischen den Zeilen ein Versprechen vom ewigen Seelenfrieden im Immer-Jetzt verkauft und dem Guru außerdem niemand sicher beweisen kann, dass er lügt und nicht wirklich ständig im Moment weilt.

Und gefährlich, weil dieser Zustand allein weder ausreicht, noch erreichbar ist für Nicht-Buddhas ist. Man beißt sich die eigenen Zähne daran aus, und anschließend die Dritten, bis(s) zum Tod. Der Guru kann behaupten: kauf und lies meinen Kram, da steht’s doch genau drin, wie Du’s machen musst, und wenn Dir die ersten 35 Produkte noch nicht geholfen haben, dann komm auf mein viermonatiges Intensiv-Retreat für 50.000€.

Warum, lieber Guru, brauchst Du überhaupt mein Geld, wenn Du im Hier und jetzt weder Hunger hast, Dir also was zu essen kaufen müsstest, noch Dir gerade sonst etwas fehlt? Ich finde es grundsätzlich absolut in Ordnung, dass Du für Deine Bücher und Retreats eine Gegenleistung verlangst, wenn sie gut sind, nur möchte ich nicht verarscht werden.

Das richtige Maß finden

Welchen Anteil der Konzentration man auf gestern, heute und morgen richten sollte, das kann ich nicht einheitlich definieren. Bisher noch nicht einmal klar für mich selbst.

Stattdessen nur ein paar Gedanken:

  • Schwerpunkt sollte die Gegenwart sein: Das Bewusstsein schulen, den Körper, die Gedanken, die Gefühle, die Sinneseindrücke von außen wahrnehmen, statt unsere Energie überwiegend in Erinnerungen, Träume und Sorgen zu investieren.
  • Bewusst machen, ob man gerade erinnert, den Moment wahrnimmt oder in die Zukunft denkt (z.B. durch den Gedanken „Ah, ich denke gerade über Vergangenes nach“).
  • Auf den Moment und die Handlung konzentrieren, sobald man sich für eine entschieden hat.
  • Die Zeiten nicht mischen: Wenn wir zwischen Erinnerungen und Zukunftsvisionen hin und her pendeln und dabei noch in der Gegenwart Auto fahren, eine Zigarette rauchen und eine SMS tippen, dann wird man eher mit dem Auto am Baum landen als bei neuen Erkenntnissen oder in bedingungsloser Erfülltheit. Besser entweder in Erinnerungen tieftauchen, volles Rohr in den Luftschlössern der Zukunft schweben oder sich eben der Gegenwart widmen, mit allem, was man hat.
  • Ein Geist wie die Jahreszeiten: es gibt Zeiten, in denen wir verstärkt zurück schauen, solche, in denen wir uns sehr viel damit auseinandersetzen, wohin wir gehen wollen, und solche, in denen gestern und morgen fast gar keine Rolle für spielen. Zeiten, in denen wir einfach die Sonne, den Regen und den Wind genießen und solche, in denen wir neue Blüten treiben. Diese Jahreszeiten des Geistes sollten wir respektieren, statt ihn immer zu einem gleichbleibenden Anteil des Tages in den Moment zu prügeln.
  • Vergangenheit, Jetzt und Zukunft in Einklang bringen: Gleichermaßen einbeziehen, woher man kommt, wo man ist und wo man hin will.
  • Offen sein: für den Schmerz aus der Vergangenheit, für alles, was gerade ist und für das, was die Zukunft bringt oder nicht bringt.

Mich entspannt der Gedanke ungemein, auch mal mit ruhigem Gewissen zurück und nach vorn schauen zu können.

Außerdem führt das Wort „Heilung“ zurück auf „Ein Ganzes werden“, und ein ganzes Leben ist nun mal mehr als eine Ansammlung getrennter, hauchdünner Ausschnitte aus der Zeit.

 

Photo: Patrik Jones