Linda Bremner rechnete mit allem, aber nicht damit, als sie mit den Ärzten sprach. Sie teilten ihr mit, wie schwer ihr achtjähriger Sohn Andy wirklich erkrankt war. Ein aggressiver Lymphknotenkrebs breitete sich in seinem Körper aus. Nach der ersten Behandlung kam Andy nach Hause. Viele seiner Freunde empfingen ihn dort. Andere schrieben ihm in den nächsten Tagen und Wochen Briefe. Linda sah, wie schnell die Tränen ihres Sohns einem Lächeln wichen, als der Briefträger neue Post von seinen Freunden brachte. Nach einigen Wochen wurden die Briefe seltener, kurz darauf blieb der Briefkasten leer. Dabei waren sie der einzige Lichtblick für Andy, boten sie die einzigen Momente, an denen er strahlte. Linda kam eine Idee. Sie schrieb von nun an selbst Briefe an ihren Sohn, anonym unterzeichnet mit „Dein geheimer Freund“. Auch diese Briefe wirkten Wunder. Eines Abends sah Linda ihren Sohn ein Bild mit zwei Einhörnern malen, er sagte, es sei für seinen „geheimen Freund“. Als Andy schlief, fand sie das Bild neben seinem Bett. Es war unterzeichnet mit „P.S.: Mama, ich liebe Dich“. Andy hatte die ganze Zeit gewusst, von wem die Briefe stammten, und sie hatten ihm deswegen nicht weniger bedeutet, ganz im Gegenteil.
Andy starb 1984 mit 12 Jahren, vier Jahre nach der Diagnose. Linda hatte zwar zwei weitere Kinder, doch auch sie konnten ihre tiefe Trauer nicht lindern. Monate nach Andys Tod fand seine Mutter eine Schachtel in seinem Zimmer. In ihr: ein Adressbuch mit den Anschriften aller Freunde, die er in einem Ferienlager für krebskranke Kinder kennengelernt hatte. Sie wusste, wie fröhlich ihre Briefe Andy gemacht hatten … warum nicht auch andere Kinder? Linda nahm sich vor, allen Freunden aus dem Adressbuch einen Brief zu schreiben, der ja vielleicht auch ihnen etwas Hoffnung schenkte. Ein Kind antwortete ihr: „Danke, anonymer Freund. Ich dachte schon, es würde niemanden mehr auf der Welt geben, der weiß, dass ich noch lebe.“ Schon bald erhielt sie weitere Antworten, manche von den Kindern selbst, andere von den Eltern. Allen gemein war der große Dank, der in ihnen zum Ausdruck kam. Lindas Idee hatte funktioniert. Für die Empfänger genauso wie für sie selbst. Sie gab Menschen Halt und fand darin Halt. Sie hatte ihre Bestimmung gefunden und war sich sicher: „ich werde bis an mein Lebensende kranken Kindern helfen“.
Schon bald schlossen sich Freunde und Nachbarn an, mit denen sie gemeinsam Briefe schrieb und jeweils einzigartige Postkarten bemalte und bedruckte. Um der Organisation einen festen Rahmen zu geben, gründete sie eine Firma und nannte sie „Love Letters, Inc.“. Sie schrieb vierzig große Unternehmen an und bat um Spenden, um bezahlte Mitarbeiter einstellen und neue Karten, Briefe, Stifte und Farben kaufen zu können. Alle Unternehmen sagten ihr ab. Doch davon ließen sich Linda und ihr wachsendes Team nicht abhalten. Irgendwie ging es immer weiter: mal organisierten sie einen Basar, mal kratzte ein Nachbar etwas Geld zusammen und spendete es. Zehn Jahre nach der Gründung versandte Love Letters, Inc. bereits 60.000 Briefe im Jahr an schwer kranke Kinder, dazu mehrere Tausend Geburtstagsgeschenke. Noch immer war das Geld knapp, obwohl Linda jede Woche 70 Stunden und mehr in das Vorhaben steckte. Aber Linda hatte jenseits des Geldes so viel zurück bekommen: die Briefe, ihren Mut, einen Sinn im Leben.
Linda ist inzwischen verstorben, doch ihre Idee lebt weiter. Heute führt die 19-jährige Kaitlyn Chana Love Letters: Random Cards of Kindness, Inc.
Ich denke nicht, dass jeder von uns eine Nonprofit-Organisation gründen oder die ganze Welt retten muss.
Aber ganz ehrlich: wenn Du seit Jahren in einem Job feststeckst, der Dich nur noch anödet bis ankotzt und an dem Du 10 Stunden am Tag an irgendwelchen sinnlosen Emails und Exceltabellen herumwichst, dann ist es vielleicht an der Zeit, jetzt von Deinem überbequemen Bürostuhl aufzustehen, herauszugehen und das zu tun, was Du Dir selbst schuldest: etwas aus Deinem Leben zu machen. Etwas mit Sinn, etwas, das Dich wirklich begeistert.
Photo: Ed Siasoco (aka SC Fiasco)
Traurige wie auch schöne und Mut machende Geschichte, Tim!
Und ja, im letzten Jahr traf wohl der Satz „wenn Du seit Jahren in einem Job feststeckst, der Dich nur noch anödet bis ankotzt und an dem Du 10 Stunden am Tag an irgendwelchen sinnlosen Emails und Exceltabellen herumwichst“ auf mich zu. Nun habe ich etwas gefunden, was mich begeistert, was meinem Arbeitsleben einen Sinn gibt.
Viele Grüße aus Franken,
Christof
Ich würde die Zeit noch nicht mal missen wollen. Irgendwie hat mir das ganze, kurze Elend der Angestelltenzeit schon auch vieles gezeigt – wie es anderen geht und wie sie ticken und warum ich auf dem richtigen Weg, wenn ich mich von dieser Welt ein gutes Stück weit abwende.
Dass Du nun begeistert arbeitest, das merkt man! Werde mir gleich mal Deinen aktuellen Artikel durchlesen (für alle, die auch daran interessiert sind: http://www.einfachbewusst.de/2013/04/aufbruch-zur-achtsamkeit/).
Liebe Grüße nach ins 1-Euro-Pro-Bier-Frankenland 🙂
Tim
Oh, das geht zu Herzen. Wunderschön.
Da sieht man aber auch, dass man manchmal nicht nach seiner Bestimmung suchen muss, sondern von ihr gefunden wird.
Ein schönes Wochenende.
Hey Dila,
ja, ich glaube auch, dass es oft weniger eine Suche als ein Finden oder Gefundenwerden ist. Das Suchen öffnet aber die Augen und das Herz und hat insofern schon oft auch seine Berechtigung, schätze ich.
LG
Tim