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Es folgt ein Gastbeitrag von Andreas Gauger, Autor des neuen myMONK-Buchs Wie man die richtigen Entscheidungen trifft sowie des Buchs Selbstwertgefühl – Wie es entsteht und wie Du es stärken kannst.

Beziehungen sind stets von zwei entgegengesetzten Kräften bestimmt. Die eine stellt die Nähe und Verbindlichkeit zwischen beiden Partnern her, die andere ist darauf ausgerichtet, die Unabhängigkeit und Autonomie der einzelnen Partner zu gewähren. Eine Kraft bindet, die andere löst.

Zwischen diesen beiden Polen pendeln Beziehungen hin und her. Dabei sind diese Kräfte meist zwischen den Partnern leicht verschoben. Während der eine Partner mehr die Verbindlichkeit der Beziehung im Auge hat und somit bindet, überwiegt beim anderen der Drang nach Autonomie und er tendiert zum Lösen.

Je mehr der eine Partner löst, desto mehr versucht der andere durch vermehrtes Binden gegenzusteuern. Wer im Verlauf der Beziehung mehr löst und wer mehr bindet, wird meist in den ersten Momenten des Kennenlernens unbewusst festgelegt und oft über die Dauer einer ganzen Beziehung beibehalten. Selbstverständlich löst der eine Partner nicht nur, sondern bindet auch, nur überwiegt das Lösen hier mehr oder weniger.

Beim anderen Partner verhält es sich ebenso mit der entgegengesetzten Kraft. Dieses Verhältnis zwischen Nähe und Distanz, zwischen Abhängigkeit und Autonomie wird in vielen Beziehungen immer wieder in neuen Kämpfen ausgefochten. Bei anderen sind und bleiben sie in der einmal gefundenen Form bestehen. Dabei kann es im Blick auf die Beziehung manchmal so wirken, als würde eine Kraft überwiegen, doch ist dies meist nur für eine begrenzte Zeit. Im Hintergrund formiert sich die Gegenkraft dann neu und wird in der Ausgleichsbewegung ebenfalls für eine Zeit die Oberhand gewinnen.

Gesunde Beziehungen pendeln zwischen Nähe und Distanz

Diese Kräfte gleichen sich also, sofern man die Komponente der Zeit mit einbezieht, in funktionierenden Beziehungen immer aus. Dieses Kräftespiel macht eine Beziehung lebendig und ist Teil der Paardynamik, die uns auch immer wieder vor Herausforderungen stellen kann. Sodass wir persönlich wachsen und unsere Komfortzone verlassen müssen, um unserer Beziehung weiterhin gerecht zu werden.

Findet dieses Auspendeln der beiden Gegenkräfte immer wieder neu auf gesunde Art und Weise statt, ermöglicht es nicht nur persönliches Wachstum, sondern auf partnerschaftlicher Ebene auch echte „Ko-Evolution“. Das gemeinsame Reifen als Paar. Denn jede Veränderung des einen macht eine Mit-Veränderung des anderen nötig, damit die Beziehung weiter funktionieren kann. Deshalb führt es auch oft zu Problemen, wenn nur einer der beiden Partner an persönlichem Wachstum interessiert ist und der andere so bleiben will, wie er ist und am liebsten alles beim alten belassen.

Dann kann es passieren, dass der sich weiter entwickelnde Partner ihm „entwächst“. Entwickeln sich jedoch beide in gleicher Form weiter, so kann das Wachstum des einen den Impuls für das Wachstum des anderen geben. Dann kann die Beziehung sich durch Verlieren und Wiederfinden des Gleichgewichts auf einer höheren Ebene neu konstellieren.

Zu viel Nähe, zu viel Distanz

Das Geheimnis liegt also, wie so oft im Leben, im richtigen Maß. Dem richtigen Maß zwischen der Kraft, die Verbindlichkeit und Gemeinsamkeit herstellt und der Gegenkraft, die Autonomie und Unterschiede betont. Ist dieses Gleichgewicht stark beeinträchtigt, wird eine Beziehung oft pathologisch und alle Beteiligten leiden.

Versuchen beide Partner in einer unguten Symbiose innerhalb der Paarbeziehung miteinander zu verschmelzen und zu einem gemeinsamen größeren ICH zu werden, indem sie versuche, alle Unterschiede und Freiräume zwischen den Partnern zu negieren, geht die Lebendigkeit verloren und die wertvollen Individualitäten des Einzelnen müssen zugunsten eines überhöht und überfordernden  „Wir-Gefühls“ unterdrückt werden. Dahinter stecken oft „kindliche“ Verlustängste.

Gehen die Unterschiede verloren, fehlt auch die Auseinandersetzung mit dem „Andersartigen“ des Partners, sodass keine Entwicklung mehr stattfindet. Das Wasser fließt nicht mehr und von stehenden Gewässern wissen wir, dass sie früher oder später umkippen.

Werden auf der anderen Seite die Unverbindlichkeit der Beziehung und die Freiheiten der einzelnen Partner überbetont, ist alles zu locker und vage, sodass man sich nicht wirklich mit dem anderen auseinandersetzt. Denn schließlich ist man ja immer schon mit einem Fuß raus aus der Beziehung. Bei Problemen wird dann eher der Absprung genommen und die Beziehung aufgelöst, sodass man mit dem nächsten hübschen Paar Augen genauso weitermachen kann, wie vorher. Dahinter stecken meist Ängste vor zu viel Abhängigkeit und davor, sich im anderen zu „verlieren“.

Dann ist man vielleicht sogar stolz auf die eigene gefestigte Persönlichkeit und darauf, sich nicht verbiegen zu lassen und übersieht, dass man im Grunde nur anstehenden Wachstumsschritten aus dem Weg geht. Und wundert sich nach einiger Zeit, dass die neue Beziehung plötzlich anfängt, genauso zu verlaufen, wie die vorherige. Irgendwann neigt man dann zu Verallgemeinerungen. Dann sind eben „die Männer“ oder „die Frauen“ schuld. Nach dem Motto: „Kennste eine(n), kennste alle.“ Als wären alle gleich und man selbst hätte keinen Eigenanteil am Verlauf der eigenen Beziehungen.

Sensibles Kräfteverhältnis

Das Kräftegleichgewicht zwischen Nähe und Distanz, zwischen Abhängigkeit und Autonomie, zwischen Gemeinsamem und Individuellem, ist immer sehr sensibel. Werden die Grenzen zu sehr überdehnt, gerät die Beziehung zwangsläufig in Schieflage. Das kann in der Praxis sehr tragisch sein, denn jeder Ausschlag in die eine Richtung wird beim Partner eine ebenso starke Gegenkraft hervorrufen (müssen), damit die Beziehung weiter Bestand haben kann.

Möchte der eine Partner, der eher für die Verbindlichkeit der Beziehung steht, immer noch mehr Nähe und Gemeinsames und überschreitet das gesunde Maß hierfür, fühlt sich der eher nach Autonomie strebende Partner immer mehr in der Beziehung gefangen und hat das Gefühl, vor lauter Nähe nicht mehr atmen zu können. Dann wird er seinerseits seine Bestrebungen nach Autonomie, Unabhängigkeit, persönlichem Freiraum und Distanz zwischen beiden Partner ebenfalls verstärken. Dies merkt der andere natürlich und fordert seinerseits aus einer Verlustangst heraus nun noch mehr Nähe und Verbindlichkeit, usw. Auf diese Weise entstehen wahre Teufelskreise, die, wenn sie nicht durchschaut und rechtzeitig unterbrochen werden, nicht selten das Ende der Beziehung einleiten können.

Wenn der „Starke“ plötzlich Verlustangst bekommt

Wie bereits gesagt sind die Rollen normalerweise von Beginn an klar verteilt. Manchmal geraten Beziehungen jedoch an den Punkt, an dem das gut eingespielte System zu kippen droht. Wenn derjenige, der ursprünglich für die Verbindlichkeit der Beziehung „zuständig“ war, plötzlich mehr Unabhängigkeit und Raum für Eigenes einfordert oder umgekehrt der Partner, der bisher eher für Autonomie stand auf einmal mehr Nähe und Gemeinsames wünscht, können die Positionen in der Beziehung wechseln. Dies kommt sehr selten vor und kann auch nicht als Manipulationsversuch gestaltet werden.

Es ist jedoch oft in Trennungsphasen zu beobachten. Besonders dann, wenn der „Binder“ in der Beziehung seine Bemühungen aufgrund vorangegangener Frustrationen aufgibt. Wenn der Binder selbst aus der Beziehung strebt, führt das beim ursprünglichen Löser oft zu einem Gegenverhalten, und aus dem Löser wird ein Binder, aus dem Versuch heraus, den Bestand der Beziehung zu retten. Diese neu gefundenen Rollen sind jedoch, sofern sie überhaupt dazu führen, dass die Beziehung weiter bestehen bleibt, selten stabil. Denn die treibende Kraft ist hier selten nur die unverfälschte Liebe, sondern mehr die Angst vor Verlust des Partners. Nimmt diese Angst im Laufe der Beziehung wieder ab, lässt sich oft beobachten, dass nach einiger Zeit wieder alles beim Alten ist. Dieser Rollentausch braucht also die Angst im Hintergrund, um aufrecht erhalten zu bleiben. Daraus ergibt sich nur selten eine gesunde Paardynamik. Höchstens dann, wenn die Trennungskrise zu wirklichen Wachstumsschritten bei den betreffenden Partnern geführt hat, aber das ist dann auch ein ganz anderer Fall.

Nochmals: Vor Manipulationsversuchen an dieser Stelle möchte ich ausdrücklich warnen. Abgesehen davon, dass dies moralisch fragwürdig wäre, haben Menschen sehr feine Antennen für derartige Verhaltensweisen und würden den Schwindel und die Unaufrichtigkeit dahinter schnell bemerken. Dann wäre sowieso mehr verloren als gewonnen, denn es geht in der Liebe nicht um Macht und Kontrolle

Gute und schlechte Grenzen in Partnerschaften

Ergänzend zu dem oben Gesagten kann es interessant sein, einen Blick auf die wichtigsten Grenzen innerhalb einer jeden Partnerschaft und deren verschiedene Ausgestaltungsformen zu werfen. Grundsätzlich gibt es zwei wichtige Grenzen in einer Partnerschaft. Das eine ist die Grenze zwischen beiden Partnern und das andere die Grenze des Paares nach außen. Darüber hinaus gibt es drei Qualitäten jeder dieser Grenzen. Zu starr, zu durchlässig und halbdurchlässig.

Bei beiden Grenzen gilt es als gesund, wenn sie halbdurchlässig gestaltet werden. Das bedeutet, sie sind klar erkennbar jedoch nicht undurchdringbar. Was die Abgrenzung des Paares nach außen angeht, so ist der Idealfall, dass das Paar für Außenstehende klar als Paar erkennbar ist, gleichzeitig aber auch Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Paarbeziehung pflegt. Beispielsweise zu Freunden und Bekannten. Wird die äußere Grenze zu starr gestaltet, so grenzt sich das Paar gegen alle Außeneinflüsse ab und isoliert sich fast vollständig. Das mag auf den ersten Blick sehr romantisch wirken, überfordert aber alle Beteiligten im Alltag ziemlich schnell.

Wird die Außengrenze des Paares zu durchlässig gestaltet, so ist für das Umfeld manchmal gar nicht klar, ob ein Paar wirklich ein Paar ist. Ein klassisches Beispiel wäre hier die „offene“ Beziehung, die für freiheitsliebende Geister manchmal wie ein tolles Konzept klingt, in der Praxis aber doch die meisten Paare erfahrungsgemäß an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinaus bringt.

Was die Abgrenzung der einzelnen Partner gegeneinander angeht, so bedeutet eine zu starre Grenze, dass eigentlich keine richtige Paarbeziehung besteht und jeder nur auf seine eigene Freiheit und Unabhängigkeit bedacht ist. Dann hat die Beziehung mehr die Form einer WG, sofern bei diesem „Beziehungstyp“ überhaupt gemeinsamer Wohnraum besteht.

Eine zu durchlässige Abgrenzung bedeutet hier hingegen, dass beide versuchen, in einer unguten Symbiose miteinander zu verschmelzen. Dann gehen zwei Ichs in einem Wir auf und die durchaus wichtigen Unterschiede zwischen beiden werden versucht, zu leugnen und zu ignorieren. Sie werden dem Ideal der völligen Verschmelzung geopfert. Der beste Fall liegt auch hier wieder in einer halbdurchlässigen Grenze zwischen beiden Partnern, sodass es ebenso viele gemeinsame Bereiche gibt, obwohl jeder auch seinen eigenen persönlichen Bereich hat (z.B. eigene Hobbys, etc.).

Vor diesem Hintergrund lässt sich also sagen, dass derjenige Partner, dessen Rolle mehr die Verbindlichkeit des Paares betont, dazu neigt, die Außengrenze des Paares möglichst undurchlässig und die Grenze zwischen den Partnern möglichst durchlässig zu halten. Wohingegen der Partner, dessen Rolle eher die Unterschiede und die Freiräume sucht, die Innengrenze des Paares undurchlässiger und die Außengrenze offener halten möchte. Gemeint ist hier natürlich nur die Tendenz, nicht die Extremfälle, die ja nicht mehr zu einer gesunden Beziehung sondern schon in den Bereich der „Nähe-Distanz-Konflikte“ gehören.

Sonderfall: Nähe-Distanz-Konflikte durch Traumata und emotionale Verletzungen

Bei Nähe-Distanz-Konflikten liegen beim betroffenen Partner oft schwerwiegende Bindungstraumata und emotionale Verletzungen in der Vergangenheit vor. Ein Betroffener erlebt es als gefährlich, sich über einen gewissen Punkt hinaus emotional einem anderen zu nähern. Er pendelt innerlich zwischen seinem auch bei ihm vorhandenen Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung und der großen Angst vor Verletzungen, die dies bei ihm auslöst. Diese Ängste sind oft diffus und nicht greifbar. Sie können von den Betroffenen selten konkretisiert werden und doch wirken sie erkennbar aus dem Unbewussten heraus. Sie lassen die Betroffenen in der Bewegung auf den Partner hin einfrieren.

Oder sie rufen in dem Moment, in dem die eigene „Sicherheitsgrenze“ in der Bewegung auf den Partner hin überschritten wurde, eine ebenso starke Gegenbewegung vom Partner weg aus und führen so oft sprichwörtlich zum Einfrieren der Bewegung. Es ist, als würde man einen Muskel und seinen Gegenspieler gleichzeitig und gleich stark anspannen. Obwohl eine ungeheure Muskelspannung vorliegt, findet keinerlei Bewegung statt, da beide Kräfte sich gegenseitig aufheben.

Bei Nähe-Distanz-Konflikten liegen also beide Kräfte (das Lösen und das Binden) in übersteigerter Form in nur einem der beiden Partner vor, was das Kräftegleichgewicht insgesamt in der Beziehung durcheinander bringt. Für die Beteiligten besonders paradox und schwer einfühlbar ist es, dass die Gefahr hier von stärker werdenden Gefühlen ausgeht. Je mehr Zuneigung im Spiel ist, als desto gefährlicher erlebt der betroffene Partner die Beziehung und desto heftiger fällt dann die Gegenbewegung aus.

Die Einsicht in dieses Verhalten allein löst leider wenig, solange die alten Bindungstraumata im Hintergrund weiterwirken. Diese gilt es zuerst aufzulösen, was oft nur über den Weg einer professionellen Therapie gelingt. Als Partner eines Betroffenen steht man dem Geschehen meist völlig hilflos gegenüber und kann selten wirkliche Veränderung einleiten, solange die beim anderen vorhandenen Bindungstraumata nicht entsprechend aufgearbeitet wurden.

Die Angst vor „gefährlicher“ Nähe

Partnerschaften mit Nähe-Distanz-Konflikten gehören zu den tragischsten Formen von Liebesbeziehungen und können die Beteiligten schier verzweifeln lassen. Deshalb gehen Menschen mit einer Nähe-Distanz-Problematik oft auch nur (noch) Beziehungen mit anderen ein, die ihnen emotional nicht zu „gefährlich“ werden können, da die zugrunde liegenden Themen nicht so stark aktiviert werden, wenn allgemein nicht allzu starke Gefühle im Spiel sind.

Die Idee dahinter ist, durch Verzicht auf Beziehung und / oder Nähe nicht mehr so angreifbar und verletzlich zu sein. Es handelt sich dabei also um Vermeidungsverhalten. Dafür zahlen die Betroffenen dann einen hohen Preis. Auch wenn sie die reale Verletzungsgefahr auf diese Weise vielleicht reduzieren, leben sie dennoch in einem permanenten Beziehungsdefizit und viele ihrer Beziehungsbedürfnisse bleiben unerfüllt. Wie der Religionsphilosoph Martin Buber schrieb: „Der Mensch wird erst am Du zum Ich.“ Wir brauchen ein Gegenüber, in dem wir uns spiegeln können.

Nicht immer sind diese Nähe-Distanz-Konflikte von vornherein in der Beziehung sichtbar. Manchmal ruhen sie bei einem Menschen mit entsprechenden Prägeerfahrungen im Verborgenen und werden durch ein bestimmtes Ereignis im Leben aktiviert. Dieses Erlebnis muss nicht immer äußerlicher Natur sein. Nicht selten geschieht dies, wenn die Gefühle für den Partner ein gewisses „kontrollierbares“ Maß übersteigen, sodass der Betroffene befürchtet, die Kontrolle über sein Gefühlsleben zu verlieren.

Kontrolle ist in diesem Zusammenhang sowieso ein großes Thema, denn das Ausmaß der Hinbewegung auf den anderen zu wird meist nur in dem Rahmen gestaltet, wie ich mich als Betroffener gerade noch sicher fühlen kann und keinen Millimeter weiter. Wann immer ich dann merke, dass meine Gefühle für den anderen zu stark werden und ein empfundener Kontrollverlust droht, ziehe ich mich zurück oder, was auch nicht selten ist, stoße sogar den anderen beiseite und verletze ihn.

Unterhält man sich mit Betroffenen, stellt man häufig fest, dass sie unter starken Schuldgefühlen leiden, denn sie können sich ihr Verhalten oft selbst nicht erklären. Meist hört man dann Sätze wie „Ich verstehe nicht, warum ich das immer wieder tue. Eigentlich liebe ich sie / ihn doch. Warum mache ich das nur immer wieder?“ Daraus lässt sich bereits die pure Verzweiflung über die weitestgehende Unfähigkeit, das eigene Verhalten in der akuten Situation entsprechend zu verändern, heraushören. Denn dieses Nähe-Distanz-Verhalten ist natürlich nicht absichtlich oder willkürlich.

Das Zurückweisen des anderen oder der eigene Rückzug finden im akuten Moment auch nicht wirklich bewusst statt. Es ist so gut wie nie eine bewusste „Entscheidung“, vielmehr ist es wie ein Reagieren aus einer tief sitzenden und plötzlich hochkommenden Angst heraus, die im gegebenen Moment keine andere Reaktion zulässt.

Verschiedene Formen auslösender Traumata

Zu den auslösenden Traumata gehören bei weitem nicht immer die großen und wirklich schlimmen Ereignisse wie Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und dergleichen. Obwohl selbstverständlich auch diese meist zu entsprechenden späteren Problemen führen. Oft sind es jedoch die so genannten „Unterlassungstraumatisierungen“. Wenn das, was eigentlich hätte da sein sollen, gefehlt hat. Haben wir frühe Verlassenheitserfahrungen in unserer Lebensgeschichte, verbindet unser „psychischer Apparat“ später häufig emotionale Nähe mit Gefahr und beschließt, lieber nicht mehr zu sehr zu lieben, damit es nicht so weh tut, wenn wir die geliebte Person wieder verlieren oder von ihr zurückgewiesen werden.

Besonders häufig entstehen spätere Nähe-Distanz-Konflikte auch durch das so genannte Hospitalisierungssyndrom. Wenn Kinder kurz nach der Geburt isoliert werden müssen und statt bei der Mutter zu sein, in einem hermetisch abgeschotteten Brutkasten ohne wirklichen Kontakt zur Außenwelt liegen müssen. Oder wenn eine Mutter an einer Wochenbettdepression leidet und ihr Kind nicht richtig annehmen kann, die Mutter bei der Geburt stirbt, etc.

Die natürliche Bewegung des Säuglings zur Mutter hin geht dann ins Leere und das „Emotionsgedächtnis“ im limbischen System des Gehirns speichert, dass die Hinbewegung auf den anderen hin nicht beantwortet wird, wodurch enormes Leid und tiefste Verunsicherung entstehen. Man versetze sich mal in die Lage eines solchen Säuglings. Im späteren Leben bewegen wir uns dann vielleicht auf andere zu, frieren unsere Bewegung jedoch metaphorisch gesprochen, auf halber Strecke ein. Bert Hellinger, der aus dem Bereich des Familienstellens bekannt ist und Jirina Prekob, die sich mit ihrer „Festhaltetherapie“ einen Namen gemacht hat, nennen dies die „unterbrochene Hinbewegung“.

An diese frühen Traumata erinnern sich Betroffene auch nicht wirklich. Sie wissen davon meist, wenn überhaupt, nur aus Erzählungen. Das Nervensystem eines Säuglings und Kleinkindes ist ja noch nicht voll entwickelt. Während Stressmuster und Emotionen auch im Säuglings-und Kleinkindalter schon weit fortgeschritten sind, entwickeln sich die Teile des Gehirns, die für bewusste Erinnerungen zuständig sind, erst deutlich später. Ungefähr im Alter zwischen 3 und 5 Jahren. Deshalb haben wir auch so gut wie keine „echten“ Erinnerungen an die Zeit davor.

So kann bei emotionalen Verletzungen vor diesem Zeitpunkt ein Bindungstrauma aus dieser frühen Phase unserer Entwicklung durchaus in unserem Emotionsgedächtnis vorhanden und sehr aktiv sein, ohne dass wir uns dies erklären können oder eine bewusste Erinnerung damit verbinden.

Nähe-Distanz-Probleme lassen sich im Ansatz oft schon früh erkennen, wie aus den Forschungen der US-amerikanischen Entwicklungspsychologen John Bolwby und Mary Ainsworth hervorgeht. Aufgrund ihrer Forschungsergebnisse unterscheidet Mary Ainsworth bereits bei Kleinkindern drei unterschiedliche Bindungsmuster.  Die „sichere Bindung“, die „ambivalent-unsichere Bindung“ und die „unsicher-vermeidende Bindung“. Im Falle von Nähe-Distanz-Problematiken liegen bei den Betroffenen meist „ambivalent-unsichere“ Bindungsformen vor.

In den zugrunde liegenden Experimenten äußerte sich das Verhalten dieser Kinder so, dass sie, nachdem sie eine Weile von ihrer Mutter getrennt und sich selbst in einem Beobachtungsraum überlassen waren, auf die Wiederkehr der Mutter nach einigen Minuten mit ambivalenten Gefühlen und Verhaltensweisen reagiert haben. Sie konnten sich in ihrem Trennungsschmerz nicht entscheiden, ob sie zur Mutter hin oder von ihr wegstreben wollen. Annäherungsversuche seitens der Mutter wiesen sie oft ab und reagierten mit Gefühlen von Wut und Ärger. Sie schienen enttäuscht darüber, von der Mutter verlassen worden zu sein. Ihr Verhalten ließe sich als der Versuch erklären, weitere Verletzungen und Frustrationen durch das Vermeiden von zu viel Nähe zu verhindern. Sie pendelten zwischen ihrem Frust einerseits und dem Wunsch danach, durch die Nähe zur Mutter in ihrem vorherigen Trennungsschmerz aufgefangen zu werden.

Körperspannung und Inkongruenzen

Oft geben sich die Ambivalenzen zwischen Nähe und Distanz auch in Muskelverspannungen zu erkennen. Wenn wir unseren Partner oder unsere Partnerin in den Arm nehmen wollen und merken, dass unser Körper zu macht, dass sich unsere Muskeln unwillkürlich anspannen oder wir wie in einer Wegbewegung eingefroren sind. Wenn wir das Gefühl haben, „steif wie ein Brett“ zu werden oder „zu einem Eisklumpen zu erstarren“, wenn uns jemand in den Arm nimmt. Auch dies drückt auf körperlicher Ebene den Widerstreit zwischen unserem Bedürfnis nach Nähe und dem Wunsch nach Autonomie aus.

Als Partner eines Menschen mit Nähe-Distanz-Problemen empfangen wir hierdurch „Double-Bind-Botschaften“. Wir spüren, dass etwas nicht stimmt. Vordergründig nimmt uns unser Partner dann in den Arm oder lässt sich vielmehr von uns in den Arm nehmen und dennoch spüren wir diffus den Abstand und die Wegbewegung und wissen nicht, auf welches der beiden Signale wir nun reagieren sollen? Oft kommt noch hinzu, dass ein Betroffener gar nicht anders kann, als zu leugnen, dass er sich in einer Wegbewegung und auf Abstand befindet, wenn wir ihn darauf ansprechen, weil er es oft selbst gar nicht bemerkt. Denn vielfach hat er sich dann ebenfalls ein ganzes Stück weit von seinen Gefühlen abgespalten.

Was macht das mit mir als Partner(in) eines oder einer Betroffenen?

Neben den offensichtlichen Frustrationen und dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Hilflosigkeit darüber, das Verhalten des Partners nicht ändern oder Hilfestellung leisten zu können, verlieren Partner von Betroffenen oft auch ihrerseits mit der Zeit das Vertrauen, sich dem Partner unbeschwert nähern und öffnen zu können.

So entsteht schnell ein Teufelskreis und im Extremfall kann das Bindungstrauma, das sich im Nähe-Distanz-Konflikt des einen äußert über längere Zeit dazu führen, dass auch der andere Partner ein Nähe-Distanz-Problem bekommt. Im Extremfall findet kaum noch Bewegung aufeinander zu statt und beide verschanzen sich mehr und mehr in den Schützengräben ihrer Angst, Wut und Frustration.

Hinzu kommt, dass wir alle die gleichen Beziehungsbedürfnisse haben, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung. Die beiden Transaktionsanalytiker Richard Erskine und Rebecca Trautman haben die 8 wichtigsten davon definiert. Wenn bei unserem Partner eine Nähe-Distanz-Problematik vorliegt, werden immer wieder mehrere dieser Beziehungsbedürfnisse bei uns verletzt. Ganz besonders aber das „Bedürfnis nach Sicherheit“ und das „Bedürfnis nach Vergewisserung“.

Beim Bedürfnis nach Sicherheit geht es in Kurzform darum, dass ich mich auf den anderen verlassen können muss. Dass er zumindest in den wichtigen Dingen eine verlässliche Größe in der Beziehung ist. Ich muss mein Gegenüber und seine Reaktionen ein gutes Stück weit einschätzen können, damit ich ihm vertrauen kann. Wenn sich mein Partner jedoch einmal so und im nächsten Moment wieder ganz anders verhält, ist es mir fast unmöglich, das für mein Sicherheitsempfinden nötige Vertrauen zu entwickeln oder aufrecht zu erhalten.

Beim Bedürfnis nach Vergewisserung geht es darum, dass wir in wichtigen Beziehungen immer wieder die Bestätigung vom anderen brauchen, dass „zwischen uns“ und in unserer Beziehung noch alles „okay“ ist. Wenn wir diese Vergewisserung nicht erhalten oder im einen Moment schon und im nächsten wieder nicht, können wir ebenfalls nicht die nötige Sicherheit aufbauen oder erhalten, um uns selbst unserem Partner vertrauensvoll zu nähern und zu öffnen.

Eigene Sicherheit aufgeben, Sicherheit vom anderen schenken lassen

Das Zubewegen auf den anderen hin geht also immer mit dem Risiko nach Kränkung und Zurückweisung einher. Hier muss jeder sein Gleichgewicht finden, indem er bereit ist, es zweitweise zu verlieren. Ich muss auf mein eigenes Sicherheitsbedürfnis verzichten und in der Folge erfahren, dass die durch entstandene Lücke an Sicherheit von meinem Gegenüber gefüllt und aufgefangen wird. Dies geht nur über wiederholte gemeinsame Erfahrung. Dazu brauche ich es, dass ich immer wieder erlebe, dass ich es riskieren kann, einen Schritt auf den anderen zu zu machen, und der andere meine dadurch entstehende Verletzlichkeit nicht gegen mich verwendet.

Je häufiger ich diese Erfahrung mache, desto sicherer kann ich mich in meiner Partnerschaft mit meinen Gefühlsäußerungen fühlen. Beruht dies auf Gegenseitigkeit, können beide Partner in der Beziehung ein hohes Maß an Gefühlen für einander ausdrücken. Voraussetzung hierfür ist jedoch fast immer, dass diesbezügliche traumatische Erfahrungen in der eigenen Vergangenheit, sofern sie bestehen sollten, zuvor therapeutisch aufgearbeitet wurden.

Die Angst vor (erneuten) Verletzungen, die mit der Nähe zum Partner einhergeht, ist sonst für die Betroffenen meist einfach zu stark, um sich wirklich darauf einzulassen gemeinsam mit dem Partner vertrauensbildende und heilsame Erfahrungen zu machen, indem mehr Nähe schrittweise zugelassen wird.

Was kann man tun?

Als Partner von Betroffenen hilft meist nur, das Gespräch zu suchen. Oft ist dies im Vorfeld bereits viele Male erfolglos geschehen. Die große Herausforderung liegt darin, den Partner, bei dem ein Nähe-Distanz-Konflikt besteht, so darauf anzusprechen, dass dieser sich nicht verurteilt oder in die Enge gedrängt fühlt. Ziel muss das offene und ehrliche Gespräch sein, auch darüber, was das Verhalten des Gegenübers bei einem selbst auslöst. Doch ohne Anklage und Vorwurf. Selbstverständlich ist dies keine leichte Aufgabe.

Eine Änderung der Situation kann meist nur von dem oder der Betroffenen selbst ausgehen. Als Partner kann man nur darum bemüht sein, diese Veränderung zu unterstützen, wo es geht. Da im Falle von Nähe-Distanz-Konflikten häufig mittlere bis schwere nicht verarbeitete Bindungstraumata aus der Kindheit und / oder Jugend vorliegen, ist diesen meist nur in einer geeigneten Therapie beizukommen. Besonders bewährt hat sich dabei ein Setting, bei dem die Betroffenen sowohl Hilfe bei der Aufarbeitung ihrer Bindungstraumata erhalten, als auch beide zusammen im Sinne einer Paartherapie oder eines Paarcoachings. Manchmal kann es auch sinnvoll sein, wenn sich zusätzlich der Partner oder die Partnerin eines oder einer Betroffenen Hilfe beim Umgang mit der Situation holt.

Zusätzliche Motivation, sich professionelle Hilfe zu suchen, kommt ins Spiel, wenn es eigene Kinder gibt oder Kinder geplant sind. Die Forschungen haben gezeigt, dass sich offene Bindungsstörungen meist von einer Generation auf die nächste übertragen oder zumindest das spätere Bindungsverhalten der Kinder beeinflussen. So können Kinder von Betroffenen selbst zu Betroffenen werden.

Das Internet bietet hier viele Möglichkeiten, sich über geeignete Therapeuten in der eigenen Umgebung zu informieren. Auch das Gespräch mit dem Hausarzt kann weiterhelfen.

Mehr über dieses Thema und wie es sich in einer toxischen Beziehung auswirkt, erfährst Du auf der Homepage des Autors in diesem ausführlichen Artikel über toxische Beziehungen.

P.P.S.: Hier geht’s zum neuen Buch von Andreas Gauger. Und hier findest Du Andreas‘ letzten Text auf myMONK:  Wie Deine „inneren Eltern“ Dich gefangen halten – und wie Du Dich endlich befreien kannst.

Text von und herzlichen Dank an:
Andreas Gauger

Andreas Gauger arbeitet als Heilpraktiker für Psychotherapie, NLP Master-Coach und ROMPC®- Coach & Therapeut in eigener Praxis. Er hilft Menschen, einschränkende Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu überwinden und Frieden mit der eigenen Kindheit und den inneren Eltern zu schließen.
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Photo (oben): Vinoth Chandar