Matthias Dhammavaro Jordan, den ich im letzten Jahr interviewt habe (siehe Begegnungen mit Mönchen, der Stille und dem Tod) lebte zwölf Jahre als buddhistischer Mönch in Asien und inzwischen wieder in Deutschland, wo er Seminare zur Meditation und Achtsamkeit anbietet. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, das ich euch inklusive eines sehr lesenswerten Auszugs vorstellen möchte: „Ruheloser Geist trifft Achtsamkeit – Aus der Zeit in den Moment„.
Es folgt der Auszug aus dem Buch:
Die Trilogie des Loslassens
„Woran auch immer wir Festhalten, wird zur Quelle des Leidens. Das ungeschickte Festhalten aufzugeben, ist der Schlüssel zur buddhistischen Praxis“. (Ajahn Buddhadasa)
Wir haben es alle schon gehört, das große Wort „loslassen“: oft als gutgemeinten Rat, etwas Unangenehmes wegzuwerfen, wegzuschieben, loszuwerden, um einfach nichts mehr damit zu tun haben zu müssen. Es eben loslassen. Vielleicht haben Sie auch schon diesen Rat bekommen, aber bald gemerkt, dass das, was Sie gerne los wären, einfach nicht loszubekommen ist. Vielleicht sind es unangenehme Gedanken, Gefühle oder Schmerzen, körperlicher oder seelischer Art, vielleicht Erinnerungen an schlimme Ereignisse. Aber was auch immer es sein mag, so einfach ist es mit dem Loslassen leider nicht. Im Gegenteil: Je mehr Widerstand Sie dem entgegenbringen, was Sie gerne los wären, desto mehr scheint dieses Ding bei Ihnen bleiben zu wollen.
Aber wie geht das eigentlich, das Loslassen?
Nach meiner Sicht besteht das Loslassen aus drei Schritten.
Der erste Schritt: Kommenlassen
Viele kennen den Scheinriesen aus der Geschichte von Lukas und Jim Knopf. Ein Mann mit langem Bart, erscheint sehr bedrohlich und groß, solange er in der Ferne ist. Aus Angst laufen die Menschen vor ihm davon und lernen ihn so nicht kennen. (Es ist nur ein Scheinriese.)
Aus Angst vor ihm nehmen die Menschen sich die Möglichkeit, zu erleben, wie etwas Bedrohliches, Riesiges und Überwältigendes auch auf eine normale Größe herunter schrumpfen kann, wenn man ihm die Erlaubnis gibt, näher zu kommen. So ist es auch mit verschiedenen Themen unseres Lebens. Kaum meldet sich etwas Unangenehmes, wollen wir weglaufen, es loswerden, wenn es schon da ist, und nichts damit zu tun haben. Aber so funktioniert das leider nicht, oder nur zeitweise. Auch nicht mit Ablenkungen oder verschiedenen Drogen: Sie überlagern unser Problem nur, vielleicht für den einen gewissen Zeitraum, wenn wir diese Mittel genommen haben. Ist die Wirkung vorbei, müssen wir feststellen, dass dieses Thema wieder mit seiner vollen Wucht neben uns, wenn nicht gar in uns steht.
Kommenlassen ist eine innere Haltung des Erlaubnisgebens: Das Thema, das wir eigentlich loslassen wollen, laden wir in unseren Bewusstseinsraum ein, und zwar vollständig. Vielleicht mit einem Interesse, es kennen lernen zu wollen. Ganz freundlich und ohne Widerstand. Es darf sich Raum nehmen, da sein, sich melden, sich fühlen lassen mit allem, was es mitbringt. Wir lassen alles an diesem Thema kommen. Dann ist es da.
Der zweite Schritt: Seinlassen
Hier ist eine innere Haltung gefragt, die mit einem Thema sein kann.
Es wird vorerst nicht bewertet. Wir sind weder zugeneigt noch abgeneigt, sondern lassen es so sein, wie es gerade ist, genau so. Was ist das Ding und wie heißt es? Was ist seine Bedrohlichkeit? Hat es mir etwas zu sagen? Ist es immer gleich oder ändert sich etwas daran, wenn es einfach nur da sein darf? Sehe ich die Grenze dieses Themas? Kann ich auch sehen, dass es um dieses Thema herum Raum gibt? Dass ich dieses Thema zwar habe, aber es nicht bin?
Manchmal verändert sich meine Sicht auf dieses Thema, durch das einfache Seinlassen. Es bekommt vielleicht neue Gesichter, die ich noch nicht kannte. Hat es wirklich diese Bedrohlichkeit? Gibt es andere Wege, damit umzugehen, außer ihm Widerstand entgegenzubringen? Wie fühlt es sich an, wenn ich es einfach mal so sein lasse? Es gibt vielleicht keine Lösung dafür, aber vielleicht finde ich einen Platz, wohin ich es für eine Weile stellen kann, damit es nicht meinen ganzen Bewusstseinsraum einnimmt.
Und erst jetzt kommt das Loslassen
Dies ist keine aktive Handlung. Es ist das Sichlösen von einem Thema. Es hört sich komisch an, aber manchmal wollen Dinge einfach nur Ihre Beachtung und Aufmerksamkeit und dann lassen die Themen Sie los. Vielleicht nicht sofort oder komplett, aber sie lockern ihre Eisenhand und Sie können etwas Erleichterung verspüren. Manche Themen brauchen das Versprechen, dass Sie sich zur gegebenen Zeit damit auseinandersetzen. Manchmal bedarf es noch einiger Zeit oder weiterer Informationen, bis Sie sich diesem Thema zuwenden können.
Aber zunächst geben Sie ihm einen Platz.
Und versäumen Sie es nicht, auch die Leichtigkeit zu spüren, wenn ein Thema kleiner geworden ist oder Sie verlassen hat.
In der thailändischen Sprache wird Loslassen mit Bleu Waang übersetzt. Bleu heißt lassen und Waang frei oder leer.
Also freilassen statt loslassen. Oder den geistigen Raum leer machen und leer halten, um sich auf die Stille des Zwischenraums zu beziehen …
Ergänzung vom 20.03.2013: Ich habe das Buch mittlerweile bis zum Ende gelesen und ich kann es euch sehr empfehlen. Wenn euch der Buchauszug gefällt, wird euch der Rest mindestens genauso zusagen. Es ist ein ungewöhnliches Buch. Ungewöhnlich tief gehend und berührend auf nur 150 Seiten. Ich habe die Frage nach dem „Wer bin ich?“ bisher nirgendwo besser beantwortet gesehen. Zudem gibt es reichlich Übungen. Dieses Buch tut gut. Und es hat mich weiter gebracht. |
„Ruheloser Geist trifft Achtsamkeit – Aus der Zeit in den Moment„
Einfachheit und Tiefe sind die Qualitäten dieses Buches. Der ehemalige buddhistische Mönch spricht aus eigener Erfahrung, verständlich, unterhaltsam, lehrreich, inspirierend und mitten im Leben stehend. Nicht das theoretische Wissen, sondern die praktische Erfahrung und Unmittelbarkeit macht den Nutzen der Achtsamkeit aus. Sofort findet der Leser sich selbst wieder und wird behutsam und fundiert an essentielle Weisheiten heran geführt. Vor allem aber zeigt das Buch, sowohl bei den Betrachtungen über die Wirkungsweise des menschlichen Geistes, als auch bei den Meditationsanleitungen, wie man durch bewusstes Üben der Achtsamkeit lernen kann, ein entspanntes und erfülltes Leben zu führen. Zeit ist kostbar und dieses Buch zeigt einen Weg, wie wir den Reichtum des Augenblicks neu erleben und wertschätzen können. Via Nova Verlag, ISBN 978-3-86616-252-5 Preis: EUR 9,95 |
Der Autor:
Matthias Dhammavaro Jordan, lebte zwölf Jahre als buddhistischer Mönch in Asien. Er praktizierte und studierte die Meditation des Buddhismus in der Theravada Waldtradition. 2001 kehrte er zurück ins „weltliche Leben“, wurde Heilpraktiker für Psychotherapie, Hospizhelfer und Vater. Seit über 10 Jahren bietet er Seminare zur Meditation und Achtsamkeit in Deutschland an. |
Photo oben: Abdel Rahman
Ein schöner Artikel zum Thema „Loslassen“. Endlich mal eine verständliche Erklärung des so viel zitierten Begriffs. Loslassen ist eben nicht verdrängen, los werden, ignorieren… Loslassen hat eine „aktive“ Komponente oder eher eine „bewusste“, sich einem Thema zu stellen, es achtsam zu betrachten und sich dann davon zu lösen, es sein zu lassen…
3 Schritte die es zu üben gilt… aber sicher lohnenswert, um das Gedankenkarusell anzuhalten.
Danke für den wertvollen Beitrag 🙂
Hi Monika,
ja, ich find‘ den Beitrag von Matthias auch sehr wichtig und hilfreich. Danke für Dein Feedback, freut er sich sicherlich auch drüber!
LG
Tim
ja – ich freue mich über Dein feedback Monika – Danke dafür 🙂
Schon mal ein kurzer Zwischenstand: hab am Wochenende begonnen, das Buch von Matthias zu lesen, ich hab etwa 1/3 durch. Und ich kann es jedem absolut empfehlen, der sich und das Leben noch besser verstehen möchte. Es ist wunderbar geschrieben und hat mir schon eine ganz fundamentale Sache näher gebracht, als es andere Bücher bisher vermochten – und zwar die Antwort auf die Frage nach dem Ich.
LG und ein herzliches Dankeschön an Dich Matthias,
Tim
Das freut mich sehr – lieber Tim – Danke für die Rückmeldung 🙂
Hallo Tim… dein Kommentar zum Buch von Matthias macht meinen ruhelosen Geist neugierig 🙂 Da werde ich mir doch schon wieder ein neues Buch gönnen!
Hey Monika, kann ich Dir wirklich empfehlen! Bin gespannt, wie Du’s findest!
Das ist ein Thema, bei dem ich ohne Frage noch viel, viel Potential habe…
Aber wie soll man auch etwas „Seinlassen“ und „Loslassen“ das man um jeden Preis auf der Welt verabscheut…
Vielleicht ist auch das ein Prozeß, der sich länger hinzieht… Man wird sehen 🙂
Na damit bist Du auf jeden Fall nicht allein, geht mir nicht anders, so grundsätzlich mit dem Loslassen. (Was genau Du so verabscheust weiß ich natürlich nicht.)
Hi Tim, du schreibst „Ich habe die Frage nach dem „Wer bin ich?“ bisher nirgendwo besser beantwortet gesehen. Zudem gibt es reichlich Übungen.“ – aber diese Frage steht doch nicht unbedingt im Zusammenhang mit loslassen – oder? Das Loslassen habe ich inzwischen auf schmerzhafte Zeit lernen müssen. Es war ein langer Prozess aber jetzt geht es mir gut – und ich kann von mir behaupten, dass ich die Dinge, Gefühle oder Situationen gut sein lassen und damit auch loslassen kann. Aber die Frage „wer ich bin“ hat sich dadurch für mich nicht beantwortet. Kannst du das Buch auf diese Fragestellung hin auch empfehlen?
LG Birgit
Hi Birgit,
ja das kann ich auf jeden Fall.
Dieser Auszug zum Loslassen ist nur ein kleiner Teil des Buchs – wenn er Dich grundsätzlich überzeugt hat (auch wenn Du vielleicht nicht viel Neues für Dich mitnehmen konntest, weil Du schon loslassen kannst), dann greif zu :).
LG
Tim
Sehr gutes „drei-Schritte-Programm“.
..vorallem bedeutet Loslassen für mich: Dinge,Situationen,Ereignisse anzunehmen
so wie sie im Moment sind ohne diese zu bewerten, zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Jedes Lebewesen (Mensch) handelt und urteilt nur nach seinem gegenwärtigem Bewusstseinszustand.
Wenn ich etwas nicht Loslassen kann, lebe ich nicht in der Gegenwart und somit nicht mein Selbst, ich lebe noch immer in der Vergangenheit oder projektiere sogar, was alles noch schlimmes passieren kann und wird, in die Zukunft.
Kurz gesagt: ich identifiziere mich mit meinem Ego!!!
Also ist jeder Schritt, wo ich etwas Loslassen kann, auch ein Schritt weiter hin (zurück) zu mir Selbst.
LG Andre
Ich musste mich die letzten Wochen sehr mit dem Thema loslassen beschäftigen. Ich habe selbst sehr gelitten unter einer Trennung. Es war für mich die Liebe meines Lebens. Die Person hat mich die ersten Monate sehr hoch gehoben und mir immer wieder versichert wie gut alles währe. Leider kam dann ein Paukenschlag, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Für mich war die ganze Zeit alles Gut! Ich hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt das irgendwas nicht Stimmen könnte. Jedoch war alles anderes. Und nein, ich hatte meine Augen nicht verschloßen oder einfach nur durch die Rosabrille geschaut. Ich habe einfach nur immer wieder die Bestätigung von der Person bekommen das ja schliesslich: „alles Gut“ sei.
Ich habe dann viel Artikel im Internet dazu gelesen. Dort standen auch immer wieder Anleitungen wie man es um setzten könnte. Nur war das alles nichts für mich. Vielleicht war ich auch noch nicht auf der Ebene es zu verstehen.
Aber eine Hilfe habe ich gefunden in dem Artikel:
http://www.psychotipps.com/loslassen.html
Dort stand:
Wann immer Sie an das denken, was Sie loslassen möchten, unterbrechen Sie Ihre Gedanken mit einem STOPP und sagen sich „Ich bin bereit, loszulassen“.
Mir hat das sehr geholfen. So konnte ich meinen Verstand dazu bringen, das ich nicht ständig über das nachdenken musste was ich doch loslassen wollte!
Schnell noch ein Großes Lob an Tim! Super Seite! Hat mir bei anderen Dingen auch schon sehr die Augen geöffnet. Weiter so…
Viele Dank und Liebe Grüße, Micha
Hi Micha,
..ja das kenne ich auch. Hatte einen Partner gehabt mit Borderline.
Die Schmerzen, Gefühle und Emotionen vorallem Ängste die während der Partnerschaft und ganz besonders nach einer Trennung an die Oberfläche (ins Bewusstsein) kommen. Dieses sind unsere tiefst verdrängten Emotionen und stammen meist aus unserer Kindheit.
Eine Partnerschaft, auch der ganz normale Kontakt zu Menschen, aber eben besonders die Partnerschaft (und ganz besonders die Beziehung zu einem Borderliner) hat das potential und gibt uns die Möglichkeit diese tief verdrängten Emotionen noch einmal zu fühlen zu durchleben und schließlich Loszulassen.
Und das tut sehr sehr weh!!!
Deshalb verdrängen die meisten Menschen diese wieder ganz schnell oder geben den anderen für alles die Schuld.
Der Partner hat nur das bei uns ausgelösst was ohnehin schon immer in uns da war. Den ganzen „Mist“ schleppen wir schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten kurz das ganze Leben mit uns herrum. Der Partner oder generell die Menschen sind nur Auslöser dafür. Wir geben diese ja nur allzugerne die Schuld dafür und machen sie auch noch dafür verantwortlich das wir uns ja sooo schlecht fühlen.
Aber wenn wir den Kampf, den wir mit uns haben, annehmen durch ihn hindurch gehen JA zu unseren Gefühlen sagen diese annehmen und so sein lassen dann haben wir die Möglichkeit, nachdem wir das alles Losgelassen haben, stärker und vorallem Selbstbewusster aus dieser Situation herrauszutreten und zu sein als jemals zu vor.
Wir sind daran gewachsen, reifer geworden, wir haben Verantwortung für unsere (verdrängten) Emotionen übernommen..
..kurzum, wir sind Erwachsen geworden!!!
LG 😉
Andre
Das Loslassen ist nach meiner Meinung wohl ein sehr oft missverstanden Begriff und führt allzu oft nur in Verdrängung und böses Erwachen danach. Denn nicht wir halten meistens fest, sondern die Emotionen sind da, treiben Gedanken an und Gedanken schaffen neue Emotionen. Es gleicht einem unsichtbaren Wesen, das uns ergreift und oft auch vereinnahmt und besetzt. Das Wesen lässt uns nicht los, wenn wir nicht in der Lage sind, es zuzulassen, es entspannt und aufmerksam als Beobachter wahrzunehmen und ihm die Bedeutung zu entziehen, sodass es schließlich an Dynamik und Energie verliert.
An sich müssen wir eben nur beobachten, das loslassen kommt dann von ganz allein. Vor allem das kommenlassn wird gerne vergessen;)
Danke bislang für mich das beste was ich von dir lesen durfte. es hat mich darin bestätigt das ich mein leben ohne ziele richtig gelebt habe. denn ich dachte ich wäre der einzige der so lebt, und kam mir dabei falsch vor. Danke.
Hm komisch solle eigentlich unter leben ohne ziele stehen nun ist es hier gelandet 🙂