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Wenn man den Weg verliert, lernt man ihn kennen.
– Volksmund

Träumst Du auch davon, einmal auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu pilgern, oder auf dem Traumpfad von München über die Alpen nach Venedig, oder nach Mekka oder Jerusalem?

Wann ist es denn so weit, wann bist Du so weit? Nächstes Jahr, übernächstes, in fünf oder fünfunddreißig Jahren, wenn Du pensioniert bist?

Warum warten, warum nicht heute schon starten … und zwar, ohne Geld dafür ansparen, sechs Wochen Urlaub nehmen und all Deine Verantwortlichkeiten hinter Dir zu lassen?

„Pilgern“ stammt vom lateinischen Wort „peregrinari“ ab, welches bedeutet: in der Fremde sein. Der Pilger ist Einer, der aus spirituellen wie religiösen Gründen in die Fremde geht. Und die “Fremde“, so denken wir, liegt mindestens ein paarhundert Kilometer weit weg von unserer Wohnung und die Menschen sprechen dort eine andere Sprache.

Wenn wir die Fremde, das Neue, das Unbekannte, den Wandel aber nur in weiter Ferne sehen, dann unterstellen wir: hier, zuhause, ist alles immer derselbe Scheiß, der Weg zur Arbeit und zum Supermarkt, die Wege in der Arbeit und wieder heim, tagein, tagaus, einer wie der andere.

Ist das wirklich so, ist der Ort, an dem wir leben, immer derselbe und nie neu und unbekannt und fremd?

Sind die Wolken am Himmel dieselben wie gestern?

Sind die Blätter an den Bäumen und die Gräser und Blumen auf der Wiese noch genau die, die sie gestern waren?

Sind die Menschen, die Du triffst und mit denen Du arbeitest und zusammenlebst, dieselben wie gestern?

Bist Du derselbe wie gestern?

Wir richten uns gern ein im Glauben, unsere Heimat sei in Stein gemeißelt und sicher, und mit ihr alles was dazu gehört, die Straßen, die Wohnung, die Mitmenschen, wir selbst. Dabei ist nichts fixiert und alles im Wandel, immer. Das Leben lässt sich nicht wie ein Irrer in der Anstalt oder ein unbequemer Altersheiminsasse mit Fesseln zur Bewegungslosigkeit verdammen.

Und während wir uns so einrichten, in diesem Glauben an das Unveränderte, fesseln wir uns selbst, sperren uns ein in Gedankengebäude und Wahrnehmungsgefängnisse, sehen und hören und riechen und schmecken nicht mehr, was um uns herum passiert und wie viel heute ganz anders ist, als es gestern war.

Pilgern bedeutet, in die Fremde zu gehen, und wenn sich alles immerzu wandelt, ist alles viel fremder, als wir im Alltag annehmen. Allein das Wort Alltag! Als wären ein Tag exakt wie alle oder alle Tage wie einer. Manche Dinge mögen tatsächlich so sein, wie gestern, die Preise beim Bäcker, bei dem wir unser Frühstück einkaufen, oder die Uhrzeiten, zu denen der Bus oder die U-Bahn kommt.

Aber so viel ist anders, die Leute, die mit uns im Bus oder in der U-Bahn sitzen, ihre Kleidung und ihre Gesichtsausdrücke, die Farbe des Himmels, die Vögel auf den Bäumen, diese neue Baustelle ums Eck, selbst der Schmutz auf den Autos …

Sobald wir uns für das Neue, das Andere öffnen und uns fragen: „Was passiert hier gerade, was ist anders als gestern?“ beginnt unsere Reise in die Fremde, unsere Pilgerung.

Ich möchte nicht warten mit dem Pilgern, bis ich vielleicht mal alles organisiert habe und den Rucksack packe, ich will meine spirituelle Reise durch die Fremde bereits hier und heute bewusst erleben.

Wenn Du dabei bist, werden wir uns begegnen.

Wie Saint-Exupéry schrieb: „Wir sind Pilger, die auf verschiedenen Wegen auf einen gemeinsamen Treffpunkt zuwandern.“

 

Photo: Carmen Escobar Carrio