Teile diesen Beitrag "„Ach, wäre ich meinen Träumen doch nur eher gefolgt“"
Regelmäßig schreiben mir myMONK-Leser, dass sie zwar inzwischen ihren Träumen folgen und ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht haben (oder dabei sind, es zu tun), es jedoch bereuen, dass sie erst so spät damit angefangen haben.
„Ach, hätte ich mich nur eher getraut, ich hätte mir quälende Jahre sparen können in Jobs, die ich hasste … ich könnte mit meiner jetzigen Aufgabe (z.B. als Heilpraktiker, Autor, Coach oder Yogalehrer) schon so viel weiter sein. Ich hätte schon diese und jene Weiterbildung, einen großen Kundenstamm, ein stabiles und ordentliches Einkommen.“
Mir ging’s in den letzten Monaten auch immer mal wieder so. Von einer Seite wie myMONK träumte ich schon vor sieben oder acht Jahren. Wie viele Leser hätte sie inzwischen, hätte ich nur damals schon begonnen und nicht erst Anfang 2012? Wie viele Menschen hätte ich darüber kennen lernen und damit schon helfen können … und hätte ich nicht längst Bücher geschrieben und Kurse veranstaltet, die einen gewichtigen Teil zu meinem Einkommen beitragen können? Welche Erfahrungen hätte ich in dieser Zeit machen können, wie hätte ich mich entwickeln können, hätte ich nicht über Jahre festgehangen in einem Studium, in dem ich nichts gelernt und in Jobs, die mich meistens mehr Nerven gekostet als mir Geld eingebracht haben?
Die Wahrheit ist:
- Reue ändert nichts. Nur Taten ändern etwas. Reuevolle Gedanken halten uns dabei jedoch nur auf. Sobald wir uns auf den Weg gemacht haben, kann uns Reue über die „verlorene Zeit“ nicht mehr als Antrieb dienen. Nur noch als Kette.
- Du könntest in derselben Zeit, in der Du etwas Vergangenes bereust, dankbar sein dafür, dass es heute anders ist … dass Du es geschafft hast. Du betrügst Dich um ein gutes, wohlverdientes Gefühl.
- Ohne die Erfahrungen, die wir gemacht haben, könnten wir nicht so schreiben, heilen, lehren, coachen, wie wir es heute tun. Ob wir es besser oder schlechter könnten, kann niemand sagen, nur dass wir es nicht so könnten, wie wir es heute tun. Unsere Schmerzen, auch über die „verlorene Zeit“, haben uns mit zu denen gemacht, die wir heute sind.
- Die Zeit war damals einfach noch nicht gekommen. Wäre Deine Zeit früher gekommen, dann hättest Du die Chance ergriffen. Vielleicht gab es Gelegenheiten, aber Du warst noch nicht bereit für sie.
- Wir bewerten zurückliegende Entscheidungen oft nach unserem heutigen Kenntnisstand. Das ist Quatsch. Wenn wir zurückdenken und uns fragen, ob wir uns richtig entschieden haben oder nicht, so dürfen wir das nur aus unserer damaligen Lage heraus beurteilen.
- Reue ist höchst unspirituell: ein Anhaften an die Vergangenheit und mehr noch: ein Anhaften an eine Vergangenheit, die eben nicht so war, wie man sie gern gehabt hätte. Reue ist das Gegenteil von Akzeptanz und vom Leben im Jetzt. Ganz besonders dann, wenn unser Job eine spirituelle Komponente hat, sind wir aus meiner Sicht dazu verpflichtet, uns mit dem Gefühl auseinander zu setzen und es aufzulösen.
- Reue führt zu Rheuma. (Okay, das stimmt nicht, aber ich wollte schon immer mal so was wie „Wichsen macht blind“ in die Welt setzen …)
- Und zuletzt: Reue ist menschlich. Wir brauchen und sollten nicht bereuen, dass wir bereut haben.
Ich hätte nicht am eigenen Leib erfahren, wie es ist, den Job als Fremdkörper oder sich selbst als Fremdkörper im Job zu erleben, hätte nicht erfahren, wie schwer es sein kann, trotz aller gelesenen und gehörten „Lebensweisheiten“ sein eigenes Ding zu machen, anstatt sich auf gewöhnlichen Karrierepfaden nach oben oder wohin auch immer trieben zu lassen. Ich hätte keine Ahnung davon gehabt, wie es wirklich ist auf dieser Seite des Lebens, auf der so viele Menschen stehen.
Wie ein Minimalist wäre ich, der nie etwas besaß, das er hätte loslassen müssen. Wie ein Mönch hinter sicheren Klostermauern, der anderen erzählt: stresst euch nicht so und lasst euren Job sausen, ist doch egal.
Ja, ich habe – wie die meisten oder vielleicht auch alle Menschen – Scheiße gefressen, nicht nur beruflich, und sie hat echt nicht gut geschmeckt, aber all diese Erfahrungen haben mich kämpfen lassen und zu dem gemacht, der ich heute bin und der heute so (mit)fühlt, wie er (mit)fühlt, so denkt, wie er denkt und so schreibt, wie er schreibt.
Ganz sicher ist es in Deinem Fall genauso.
Photo: Zach Dischner
Das kann ich aus meiner Hospizarbeit noch unterstreichen und bestätigen.
„Du stirbst… fang an zu leben“ v. Lindlau
Tara
Hi Tara, danke für Deinen Kommentar. Ich bewundere Menschen wie Dich, die dem Tod so ins Auge schauen und die Kraft haben, Menschen auf ihren schweren letzten Metern zu begleiten. Hut ab, und die Haare gleich noch mit dazu! 🙂 Im Ernst: danke für Deine wichtige Arbeit und Deinen Mut!
Gratulation für diese wunderschöne Seite, deinen Mut und dein Tun!
Es ist doch schön zu sagen, hätte ich doch früher damit angefangen … denn dann tue ich es ja im hier und jetzt. Was soll den ein Mensch im Hospiz sagen ? Er wird niemals mehr die Chance dazu haben etwas in seinem Leben zu ändern, denn er steht vor dem Ende seines Lebens … Ich glaube Tara wird des öfteren damit konfrontiert. Wenn uns der Satz in den Sinn kommt, hätte ich doch früher damit begonnen … erfreuen wir uns daran, dass wir es jetzt tun 🙂
Ja, dieser „Ach, ..“-Satz kann uns daran erinnern, auf die Dankbarkeit umzuschalten.
Alle Momente aus unserer Vergangenheit haben dazu beigetragen wer wir heute sind! Also warum verteufeln oder bereuen? Nur in diesem Moment kann man proaktiv etwas bewegen, verändern.
Gruß
Matthias
Hey Matthias,
so seh ich’s auch!
LG
Tim
das mit dem rheuma…..grandiose begründung:-)..und nicht soweit hergeholt. anhaften macht krank und wenns nicht rheuma ist, dann was anderes..depressionen und vieles mehr.
Danke Andrea, hab ich lange für forschen müssen! 😉
Und ja, da hast Du sicher Recht, auf Dauer kann Reue bestimmt krank machen.
Die ganze gestaute Energie, die man immer und immer wieder zurückgehalten hat, setzt sich im Körper fest. Wo auch immer, und macht einen unbeweglicher und schmerzvoller. Erst wenn man sie fließen lässt, kann es sich wieder auflösen.
Auch ich habe Jahre „verschwendet“, durch nachdenken, zweifeln, ängstlich sein. Seit Jahren träumte ich davon, mich einfach auf den Weg nach Spanien zu machen, um zu sehen was passiert wenn ich alleine dort unterwegs bin. Ich wußte nie woher diese Sehnsucht kommt. Gestern habe ich die Flüge gebucht, in 2 Tagen geht’s los. Ich bin voller Zweifel, voller Ängste und doch voll Neugier und Freude. Auf einmal ging alles so schnell, die Entscheidung für 5 Wochen „auf die suche nach mir selbst“ zu gehen, in einem fremden Land was mich anzieht seit ich denken kann, hab ich vor einer Woche getroffen. Plötzlich geht alles so schnell und doch weiß ich, dass ich mich fallen lassen kann, dass ich dem leben vertrauen kann, dass es richtig ist.
Irgendwann kam der Tag, an dem es unerträglich wurde, dass alles ist wie es war, der tag an dem ich nicht mehr anders konnte als aufzustehen und meinem Traum zu folgen. Ich bin gespannt wo es hinführt, ich kann kein spanisch und ich habe Angst, aber ich weiß dass es jetzt nur noch nach vorn geht.
Danke für deine Seite, ich wollte das nur mal loswerden. Alles gute! 🙂
Hallo Butterfly, das hört sich toll an. Ich wünsche dir eine gute Zeit und viele interessante Eindrücke. Es ist toll die Angst zu überwinden – ich habe vor ein paar Jahren auch meine Ängste beiseite geschoben und danach einen wunderschönen Urlaub mit ganz vielen einmaligen Eindrücken. Also noch mal eine gute, eindrucksvolle Zeit.
Hi Butterfly,
das klingt wirklich toll – wie schön, dass Du dieser Sehnsucht jetzt nachgibst.
Du wirst sicher eine ganz tolle Zeit haben, auch ohne Spanischkenntnisse. 🙂
Paulo Coelho erzählte mal in einem seiner Bücher von einem Erfahrung, die er in Italien machte, an einem bitterkalten Wintertag. Er ging gerade mit seiner Frau spazieren, als er einen Fotographen traf, der Häuser in der Altstadt ablichtete. Coelho wunderte sich darüber, dass der Mann keine Handschuhe traf und sprach ihn an und fragte unter anderem, was er denn an einem solchen kalten Tag dort mache. Der Fotograph antwortete, er liebe diese Gebäude und die Ruhe an so kalten Tagen, an denen die meisten Menschen daheim die Beine hochlegen. Sie unterhielten sich einige Minuten lang, bis ihm auffiel: sie hatten sich ohne Worte unterhalten, denn Coelho versteht kein Wort Italienisch. Und dennoch waren sie in einen Austausch vertieft, hatten sich bestens verstanden ohne Worte, aber mit Händen und Füßen.
Also mach’s gut und berichte wenn Du wieder da bist und Lust aufs Berichten hast!
Liebe Grüße
Tim