„Leben ist kein Stilleben.“
– Oskar Kokoschka
Meine erste Nachtschicht hatte gerade begonnen, ich stand in der Notaufnahme und trug die hellblaue Zivi-Kleidung. Der Rettungswagen kam an, lud einen Mann um die Fünfzig aus, briefte das Team der Notaufnahme und fuhr wieder ab. Der Mann sei ein bekannter Trinker gewesen und in der Vergangenheit schon einige Male eingesackt wurden, er sei auf den Kopf gestürzt, wohl direkt auf eine Bordsteinkante. Er wirkte zwar benebelt, doch er konnte sich noch mit den Ärzten austauschen.
Eine halbe Stunde später war er tot.
Fast tot.
Seine Pupillen waren unterschiedlich groß als eingeliefert wurde, das hatten die Ärzte bereits festgestellt, ein Hinweis für schwere Schäden im Kopfbereich, wenn ich mich richtig erinnere. Nach ein paar Minuten auf der Trage wechselten sich Kammerflimmern und Defibrillieren, Beatmen und Herzdruckmassage ab, der Mann pendelte zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten. Bald darauf gab es keine Hoffnung mehr. Die Sache war entschieden. Nur sein Herz, das flimmerte und schlug hin und wieder noch. Um den Tod des Verunglückten festzustellen, musste er am EKG-Gerät angeschlossen sein und sich eine konstante Nulllinie auf dem Display zeigen, aber die Nulllinie wollte und wollte nicht konstant bleiben, immer wieder schlug sie leicht aus. Es war bizarr. Wir standen am EKG neben einem Toten oder fast Toten und warteten und warteten darauf, dass endgültig Schluss ist, dass der totale Stillstand eintritt. Ich hatte meinen Zivildienst erst kurz zuvor angetreten und wurde davor in meinem verhältnismäßig gemütlichen Leben als Schüler kaum mit dem Tod konfrontiert, und dann sowas.
Diese Szene fiel mir ein, als ich von den „8 todsicheren Regeln für den totalen Stillstand“ las, verfasst von Prof. Peter Kruse, einem bärtigen Universitätslehrenden, Unternehmensberater und Netzphilosophen. Seine Regeln richten sich zwar an Manager, doch ich denke, sie können für uns alle gelten, denn Stillstand ist privat und beruflich ein weit verbreitetes und leise quälendes Phänomen, das aus ähnlichen Ursachen resultiert.
Die Regeln Prof. Kruses haben auch viel mit dem zu tun, was ich als kleiner Zivi in der großen Notaufnahme erlebt habe, in diesen Minuten, in denen ich halb geschockt dastand und sah, wie das Leben einen etwa Fünfzigjährigen verließ.
„Todsicher“.
Leben wir nicht manchmal in einer Phase, in der nichts passiert, in der das Leben gleichförmig und unlebendig an uns vorbeizieht?
Ein Morgen gleicht dem anderen, ein Mittag, Nachmittag, Abend, eine Nacht der anderen, es gibt weder große Ausschläge nach oben, noch nach unten – und dann erinnern wir uns irgendwann an Zeiten, in denen alles pulsierte, unsere Träume und Vorhaben den Körper und den Geist beben ließen, in denen alles möglich schien und wir vieles möglich gemacht haben. Kein bedrohliches Kammerflimmern und keine tote Linearität, sondern ein Leben in kräftigen Herzschlägen.
Woran wir uns dann oft nicht erinnern können, ist, wie es dazu kam, wie wir uns von jubelndschreiendweinendleidenschaftlichen Menschen womöglich entwickelt haben in eine Richtung, in der unser äußeres und inneres Leben uns manchmal so betäubt vorkommt wie das Gehirn des Mannes nach dem Trinken und vor dem Sturz auf die Bordsteinkante.
Die 8 todsicheren Regeln für den totalen Stillstand verschaffen Klarheit darüber, wie es dazu kommen konnte und zeigen, was man ändern muss, damit sich etwas ändern kann.
Sie sind, wie gesagt, an Manager gerichtet, lassen sich aber auf alle Menschen und alle Lebensbereiche übertragen (wir sind ja auch die „Manager unseres eigenen Lebens“).
#1 Sorge dafür, dass sich das Management aus allem raushält oder alles im Griff haben will
Manchmal denke ich, die Dinge lägen außerhalb meiner Kontrolle, dann lehne ich mich zurück und jammere, anstatt zu tun, was möglich ist. In anderen Fällen kämpfe ich gegen Windmühlen, schlage und trete und trotzdem passiert nichts – weil wir vieles auch einfach nicht ändern können.
Wie in dieser Buddha-Geschichte:
Als Buddha zu seiner spirituelle Suche aufbrach, führte er ein Leben voller Entbehrungen und strenger Askese. Eines Tages gingen zwei Musikanten an dem Baum vorüber, unter dem er meditierend saß. Einer sagte zum anderen: „Spann die Saiten deiner Sitar nicht zu fest, oder sie werden reißen. Und lass sie nicht zu locker hängen, denn dann kannst du darauf keine Musik machen. Halte dich an den mittleren Weg.“
Gibt es Bereiche in Deinem Leben, wo Du feststeckst, weil Du zu wenig Verantwortung übernommen hast? Durchhängst wie eine schlaffe Saite?
Verausgabst Du Dich damit, Dinge kontrollieren zu wollen, die überhaupt nicht in Deiner Macht liegen? Dich so sehr verkrampfst, dass nichts mehr geht?
Dann wäre ich zumindest nicht mehr allein damit :).
#2 Fördere die Diskussionen über informelle Inhalte durch Streuung von Gerüchten
Was uns weiterbringt, sind nicht Klatsch und Tratsch, sind nicht nebulöse Vermutungen und wirre Gerüchte … sondern Wissen.
Wissen ist der natürliche Feind des Stillstands. Denn wenn wir wissen, welcher Schritt als nächster zu gehen ist, dann stehen die Chancen gut dafür, dass wir loslaufen.
Könntest Du Dich von Ängste und Sorgen befreien und damit wieder optimistisch und handlungsfähig werden, indem Du Dich ernsthaft erkundigst? Zum Beispiel darüber, welche Voraussetzungen Deine Wunsch-Weiterbildung hat oder (durch den Gang zum Arzt) ob – das komische Gefühl in Deiner Brust wirklich etwas Ernstes ist, oder nur ein vorrübergehendes, normales Symptom von Stress?
#3 Sorge für operative Hektik und stoße gleichzeitig mehrere neue Projekte an
Der Vierfrontenkrieg funktioniert nicht. Man ist so gut wie zum Scheitern verurteilt, wenn man versucht, gleichzeitig vom Fastfood verschlingenden Couchpotatoe zum veganen Triathleten zu werden und gleichzeitig noch ein Business starten, einen Verein gründen und Schachweltmeister werden will.
Meine Meinung: voran kommt, wer seine Energien bündelt.
Ein Projekt auf feste Beine stellen, und dann erst das nächste.
Ein Schritt, und dann der nächste.
Kraftvoll und fokussiert, ruhig und bedacht.
#4 Rufe den totalen Wettbewerb aus und mache klar, dass nur die Besten eine Chance haben
Du willst, wenn Du schon etwas beginnst, extrem gut dabei sein – am besten schon auf den ersten Metern?
Dann kennst Du bestimmt das Gefühl, schon vor dem Start so erschöpft zu sein von den eigenen übertriebenen Erwartungen. Oder spätestens irgendwann am Anfang oder in der Mitte der Strecke, wenn Du gerannt bist wie ein gedopter, ausgehungerter Windhund auf der Jagd, um dann zusammenzubrechen – lange vorm Ziel?
Perfektionismus und übertriebene Wettbewerbseinstellung sind ein Rezept für Überanstrengung und Burn-out oder absolute Demotivation und Bewegungslosigkeit.
Vielleicht würdest Du ja viel weiter kommen, wenn Du Dich nur an Dir selbst misst?
Siehe auch: Wie man aufhören kann, sich ständig mit anderen zu vergleichen
#5 Suche unbedingt und fundiert nach dem Schuldigen, bevor Du irgendetwas änderst
Die Psychoanalyse des Lebens-Managements.
Ursachenforschung kann unheimlich wertvoll sein, aber wenn wir uns darauf konzentrieren, immer nur zurückzublicken um jemanden zu finden, auf den wir mit dem Finger zeigen können, dann bringt das nichts als Stillstand.
Im Zweifelsfall scheint es immer das Beste und die meiste Kraft für Veränderung Spendende zu sein, volle Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Heißt nicht, dass das immer leicht ist, aber zumindest bleiben wir todsicher still stehen, wenn wir es nicht tun.
#6 Verhindere, dass über den Sinn und Unsinn Deiner internen Regeln diskutiert wird
Wonach wählst Du Deine Ziele aus?
Wonach entscheidest Du, ob Du stolz auf Dich, glücklich und zufrieden sein kannst?
Diese internen Regeln sind uns oft unbewusst. So lange wir jedoch nicht wissen, warum wir uns so entscheiden und nicht anders und warum wir so denken und fühlen, so lange ist jede Handlung, die uns dem Glück näherbringt nur ein Zufallstreffer.
Ein Beispiel:
„Ich will 100.000€ im Jahr verdienen!“
Warum denn eigentlich?
Soll nicht heißen, dass ich dieses Ziel unsinnig finde, überhaupt nicht. Aber wenn Du Dir nicht darüber klar bist, warum Du diese Summe verdienen willst, geschieht eines dieser zwei Dinge:
- Du erreichst Dein Ziel nicht, weil Dich bald die Motivation verlässt oder anderweitig blockiert bist.
- Du erreichst Dein Ziel, und bist womöglich kein Stück zufriedener als vorher, weil Du es nicht mit Deinen „internen Regeln“, Deinen Werten und wahren Wünschen abgeglichen hast.
Beide Fälle bedeuten Stillstand.
#7 Beschließe so schnell wie möglich alles Formelle, um es danach sofort informell in Frage stellen zu können
Stehen Dein Verstand (das Formelle) und Dein Herz (das Informelle) in Einklang, wenn Du etwas verändern willst?
Wenn nicht, dann setzt Du Dir vielleicht immer wieder Ziele, die auf dem Blatt Papier vernünftig und nach „Ja, das wäre doch gut und richtig“ aussehen – Dein Herz aber entweder kalt oder protestieren lassen?
Siehe 5 Gründe, auf Deine innere Stimme zu hören
#8 Ziele ab auf maximale Beschlussdynamik bei minimaler Umsetzungsdynamik
Wie viele Vorsätze und Vorhaben hast Du in den letzten Jahren beschlossen, und wie viele davon wirklich umgesetzt? Den meisten von uns fehlt es nicht an Zielen – ganz im Gegenteil. Sie pendeln nur so sehr zwischen den Zielen hin und her, dass sie sich ständig den Kopf anstoßen und dadurch so benommen sind, dass sie kein Ziel ernsthaft und ausdauernd verfolgen. Und somit gar nichts ändern. Was hältst Du davon, Dir ein großes Ziel zu setzen, es glasklar für Dich zu definieren, in allen Einzelheiten und Konsequenzen, und Dich dann an die Umsetzung zu machen und so lange dabei zu bleiben, bis Du und Dein großes Ziel eine Dynamik entwickeln, die sämtliche Widerstände niederreißt?
Siehe Wie Du ein Feuer in Dir entfachen kannst, das sämtliche Widerstände niederbrennt
Hast Du Dich – wie ich mich – in einer oder mehreren dieser Regeln wiedererkannt?
Und gibt es Träume in Deinem Leben, die schon viel zu lange zombiehaft in der Ecke liegen und die Du gern wiederbeleben möchtest?
Mir hilft es, mir vor Augen zu führen, wie schnell und wie früh das Leben doch vorbei sein kann, es zeigt mir:
Warte nicht mit dem, was Dir wichtig ist.
Disclaimer: nichts davon ist natürlich jemals so oder anders passiert, und wenn dann war ich nicht dabei, Photo: martinak15
Hi Tim, schade dass du eine Schreibpause machst aber so komme ich dazu die alten Texte noch mal zu lesen – sind ja auch beim zweiten und dritten Mal noch gut. LG Birgit
Hi Birgit,
schön, von Dir zu lesen! Und Danke, dass Du trotz meiner Pause ab und an noch vorbeischaust. Wobei mir das schon fast ein schlechtes Gewissen macht, dass Du manche meiner Texte noch mal lesen musst. 😉
Hab gerade gesehen, dass Du auch eine Pause bei Deinem Blog machst??
Liebe Grüße
Tim
Hi Tim,
ich glaube ich kann da das eine oder andere richtig stellen 🙂
1. ich komme nicht nur ab und an vorbei
2. schlechtes Gewissen ist überflüssig – aber ist ja auch nur „fast“ – dann geht es ja 😉
3. ich muss deine Texte nicht noch mal lesen – ich bekomme die Gelegenheit
Und jetzt kommt der einzig ernst gemeinte Punkt:
4. ich mache keine Pause – ich glaube mein „Blog“ ist in dieser Form am Ende. Ich denke daran das Ganze offline zu nehmen und vielleicht noch mal neu zu starten…aber so macht es keinen Sinn.
LG Birgit
Guten Morgen Birgit,
danke für die Richtigstellung – schon geht’s mir viel besser! ;)) Nein im Ernst, ist schön, Dich noch hier zu wissen.
Darf ich fragen, was Du mit „so“ meinst? Die Art Deines bisherigen Blogs, oder die Menge an Zeit, die Du reinsteckst?
Liebe Grüße und einen sonnigen Tag!
Tim
Hallo Tim,
klar darfst du fragen: mit „so“ meinte ich eigentlich nur die Art des bisherigen Blogs – aber nachdem ich gerade noch mal reingeschaut habe, muss ich wohl auch die geringe Menge an Zeit nennen! (letzter Beitrag aus April!!)
Ich habe zu viele Ideen, die ich umsetzen möchte (neben dem Blog) – aber für keine kann ich mich so richtig begeistern. Die viel zitierte Leidenschaft für ein konkretes Thema fehlt mir. Ich begeistere mich für etwas, lese ganz viel darüber, probiere was aus und dann…dann kommt die nächste gute Idee, die umgesetzt werden will. Aber das Thema „bloggen“ ist noch nicht ganz tot. Ich hoffe im Herbst wieder mehr Zeit zu finden und dann den Blog noch mal neu zu starten – mal sehen was daraus wird 😉
Ich wünsche dir auch einen schönen Tag.
LG Birgit
Lieber Tim, habe deinen Beitrag eben gelesen weil ich wach liege und nicht schlafen kann. Ich sehe mich da in einigen Punkten 🙂
Genau wie du, vertrete ich auch die Meinung, dass das Leben so schnell vorbei sein kann und es deshalb keinen Grund gibt etwas nicht zu probieren!!
Danke für deine Gedanken!!
Finde es unglaublich schwierig, meine Energie nur auf ein einziges Projekt zu bündeln – komisch, aber mich langweilt ‚ein‘ Ziel – oder: Das eine Projekt musste so umfassend durch viele Bereiche meiner Interessen gehen, dass ich genug Abwechslung habe. Ein Tag kann bei mir kein gefühlt guter werden, wenn ich a. nichts Neues gelernt habe, b. keine Herausforderung angepackt habe, c. keine Musik gemacht, d. keinen Sport gemacht habe und e. keine stille Zeit gehabt habe.. dazu möchte ich driiingend hören, was meine Kinder heute bewegt hat, sie gekuschelt haben und.. und.. und..
Aber ich merke eben trotzdem auch, dass das auch ohne ausgebrannt zu sein, dennoch an der ein oder anderen Stelle hängt. Nicht, als würde mir die Kraft fehlen – mehr, als würden mich Menschen oder ‚höhere Mächte‘ ausbremsen wollen.
Kennt das auch jemand?
Hey liebe Marie,
wie geht’s Dir denn (kannst Du mir natürlich auch gern per FB schreiben)?
Bei dem, was Du schreibst, klingt für mich überhaupt nichts „Ausgebremstes“ durch. Zumindest nicht dabei, dass Du verschiedene Lebensbereiche pflegst, das halte ich für mehr als wichtig.
Wo genau ist denn der Stillstand in Deinem Fall?
LG
Tim