Als junger Erwachsener mit Akne hab ich mich so für meine Haut geschämt, dass ich mich eine ganze Zeit lang nicht mehr unter Menschen und in die Uni getraut hab und meine Wohnung nur im Dunkeln verlassen habe.
Außer, wenn ich irgendwo noch einen kleinen Haufen Hoffnung zusammenkratzen konnte und in der Apotheke ums Eck die tausendste Hautcreme gekauft hab (am besten geholfen hat übrigens die 437.).
Je härter ich dafür kämpfte, alles zu verstecken, wofür ich mich schämte, also zum Beispiel meine Haut, umso verschlossener wurde ich, und umso einsamer.
Ich schämte mich so sehr, für die Pickel, mein Aussehen … und auch dafür, dass ich mich so schämte, mich von meiner Angst, angreifbar zu sein, so sehr habe unterjochen lassen. Es gibt doch kaum etwas Peinlicheres, als mit rotem Kopf ertappt zu werden. Dafür, dass ich so abhängig von der Meinung anderer war, dass ich mich lieber selbst einsargte.
Falls Du Dir jetzt Sorgen um mich machst: Inzwischen geht’s mir längst viel besser. Ich geh unter Menschen, sogar im Tageslicht. Womit ich Vampiren schon mal einen Schritt voraus wäre – und zwei Schritte den Vampiren mit Hautproblemen.
Aber auch heute gibt’s noch einige Dinge, für die ich mich schäme, auch wenn einiges davon schon deutlich besser geworden ist:
- In den letzten Jahren hing meine Stimmung oft davon ab, wie sich die Leserzahlen auf auf myMONK entwickelt haben … das ist zum Glück wirklich nicht mehr ganz so.
- Ich schreib für Hunderttausende Leser im Monat über innere Ruhe und stress mich oft selbst mit totalem Scheiß bis zur Verzweiflung.
- Ich urteile regelmäßig zu schnell über Menschen – und liege dann auch noch meistens daneben.
- Ich bin zum Teil extrem faul, zum Beispiel im Haushalt: Ich kaufe immer die größten Mülltüten, die’s gibt, und schleppe dann kurz bevor er platzt einen Sack runter, der so groß und schwer ist, als würde ich da zweimal im Monat ne Leiche zu den Tonnen runter buckeln.
- Ich habe lange Zeit an meinen Fingernägeln gekaut – und tue es phasenweise noch immer. Okay, meistens. Aber inzwischen nur noch an einem Daumen. Auf den kann ich dann ein Pflaster kleben, wenn’s sein muss … auch wieder Scham.
Warum teile ich das mit Dir?
Nicht als Selenstriptease, weil ich im Big Brother House oder bei Frauentausch nicht genommen wurde (wobei, falls ein Verantwortlicher zuschaut und noch einen Kandidaten sucht: Hey, ich bin Blogger und Schmuckdesigner!).
Sondern um Dir zu zeigen, dass die meisten von uns sich schämen für irgendetwas
und weil ich mir wünsche, dass zwischen Dir und mir eine echte Beziehung entstehen kann. Und das geht nur, wenn man Dinge von sich preisgibt.
Wir Menschen können uns für alles schämen. Oft, obwohl es dafür überhaupt keinen Grund gibt. Es gibt nichts, was nicht irgendwem oder ganz vielen von uns peinlich oder unangenehm ist.
Ein Autor, der sichtbar und fühlbar für alle noch nicht den großen Durchbruch geschafft hat schreibt im Internet:
„Ich schäme mich, dass ich meiner Frau und meinen Töchtern oft nicht das kaufen kann, was sie wollen. Ich schäme mich, wenn ich sagen muss: „Nein, das können wir uns nicht leisten“ … denn genau das müsste ich als guter Ehemann und Vater sein: ein guter Versorger.“
In Japan geht das sogar noch weiter. Da gibt’s eine ganze Klasse von Männern, die jeden Morgen duschen, ihren Anzug anziehen, ihre Tasche packen … und dann den ganzen Tag in der U-Bahn rumfahren, weil sie ihren Job verloren haben aber sich nicht trauen, das zu offenbaren und ihr „Gesicht zu verlieren“.
Japan hat auch eine der höchsten Suizidraten der Welt, so weit geht die Scham, wenn man nicht mehr gebraucht wird oder nicht genügend leistet.
Oder wie in diesem Foreneintrag einer jungen Frau:
„Ich schäme mich für meinen Egoismus. Als meine Mutter vor 24 Jahren einen schweren Autounfall hatte und behindert und sprachgestört war, war ich mehr an meinen Hobbies interessiert als daran, mich um sie zu kümmern. Sie lebte noch drei Jahre unter schwierigsten Bedingungen … drei Jahre, in denen ich kaum bei ihr war. Ich träume noch heute von ihr. In meinen Alpträumen vergesse ich sie irgendwo, und dann finde ich den Weg zu ihr nicht mehr. “
Die junge Frau war vielleicht überfordert, konnte es einfach nicht besser.
Jedenfalls:
Scham ist zutiefst menschlich. Unnötig ist sie häufig (und unnütz sowieso), aber allein sind wir damit nie. Schon uns daran zu erinnern kann dieses Gefühl lindern.
Diese Text ist ein Auszug aus der Folge des myMONK-Podcasts mit dem Titel „Ich schäme mich so “. Hör Dir die ganze Folge an, wenn Du wissen willst, was Dich von Scham befreien kann:
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Photo: Shame von cheapbooks / Shutterstock
Hi Tim,
bislang fand ich Deine Artikel ziemlich erleuchtend. Mir hat viel von dem, was Du da geschrieben hast geholfen, mit mir selbst ins Reine zu kommen, aber hier dieser Artikel über Scham ist falsch.
Scham ist für mich etwas, das mich zutiefst klein macht aber gleichzeitig auch auf einen Fehler hinweist. Jedesmal wenn ich tiefste Scham empfinde, dann habe ich gegen irgendwelche tief verwurzelten Regeln, gegen meine eigene, innerste Überzeugung verstoßen, oft dazu noch in der Hoffnung, nicht ertappt zu werden. Das blöde an der Scham ist letzten Endes nur das Gefühl, ertappt worden zu sein, etwas aus eigener Sicht total verwerfliches, schreckliches, verbotenes, unerlaubtes getan zu haben.
Aus meiner Perspektive kann ich nur sagen – Scham ist gut und notwendig. Sie festigt Deinen Standpunkt und macht Dir bewußt, was wirklich falsch und richtig ist. Zumindest ist Scham ein Augenöffner für alle, die mal nicht nachdenken und dann genau das falsche tun. Ich jedenfalls Danke Gott, dass ich eine schamhafte Person bin, auch wenn das manchmal in der Seele schmerzhaft ist
Viele Grüße
Rainer