Teile diesen Beitrag "Wenn der Atem fließt, fließt auch das Leben (Gastbeitrag v. Katja Steinkellner)"
Als Entspannungstrainerin weiß ich, wie viele Strategien Menschen oft anwenden, in der Hoffnung, dadurch ein freieres, weniger stressiges Leben führen zu können.
Ganz konkret wünschen sich diese Menschen mehr Gelassenheit, mehr innere Ruhe, mehr Harmonie in ihren Beziehungen, ruhigeren Schlaf, weniger Gedankenrasen, mehr Lebensfreude und mehr Energie für die Dinge, die ihnen wirklich wichtig sind.
Die Suche nach der Erfüllung dieser Wünsche führt oft über zahlreiche Kurse, Selbsthilfe-Bücher, Workshops oder Psychotherapien – nicht selten wird alles auf einmal ausprobiert. Dann bekomme ich Sätze zu hören wie: „Ich verstehe nicht, dass ich mich immer noch so gestresst fühle – was soll ich denn noch alles machen!?“
Zweifellos ein sehr frustrierendes Gefühl, das den Stress nur weiter verstärkt.
Diesen Menschen sage ich dann: „Du hast doch alles, was du brauchst. Schließ einfach die Augen und beobachte, wie der Atem in deinen Körper hinein und wie er wieder aus deinem Körper hinausströmt. Das kannst du immer tun, überall, denn es kostet kaum Zeit und du musst auch kein Geld dafür ausgeben.“
Oft löst dieser Ratschlag Skepsis aus. Für die meisten Menschen ist es schwer vorstellbar, dass es so leicht sein könnte. Der Atem ist sowieso immer da – glauben sie. In Wahrheit vergessen wir im Lauf der Zeit meist, was freier Atem bedeutet und wie er sich anfühlt. Meiner Erfahrung nach atmen die meisten Menschen zu flach, zu kurz, zu unregelmäßig und vor allem: sie atmen viel zu wenig aus.
Dazu ein kleines Rechenbeispiel:
- Ein erwachsener Mensch verwendet pro Minute durchschnittlich 15-20 Atemzüge, wobei ein Atemzug Ein- und Ausatmen bedeutet. In stressigen Situationen steigt diese Zahl beträchtlich, nämlich auf bis zu 30 Atemzüge und mehr. Hinzu kommt, dass in Zuständen hoher Konzentration oder großen Ärgers der Atem unwillkürlich angehalten und dadurch sehr unregelmäßig wird.
- Im Gegensatz dazu sinkt bei bewusster Entspannung das Atemtempo auf bis zu 6-8 Atemzüge pro Minute.
- Wenn man nun bedenkt, dass ein Tag 1440 Minuten umfasst, wird wohl deutlich, wie viel Einfluss unser Atemtempo auf das Tempo unseres Lebens hat.
Wir können uns also über unser eigenes Atemtempo beträchtlich entschleunigen, und zwar nicht nur in gedanklicher, sondern auch in körperlicher Hinsicht. Ruhiger, entspannter Atem wirkt blutdrucksenkend, sorgt für besseren Sauerstoff-Austausch in der Lunge und belebt den Kreislauf. Das ist aber nur ein Aspekt im Zusammenhang mit Atem und Entspannung.
Entscheidend für unser Wohlbefinden ist auch das Zusammenspiel von Ein- und Ausatmung. Wer ein eher hektisches Leben führt, neigt dazu, mehr ein- als auszuatmen. Dieser Mechanismus ist im Körper seit Urzeiten gespeichert. Man nennt ihn Angriffs- oder Fluchtverhalten.
Wenn sich ein Mensch der Steinzeit von wilden Tieren bedroht fühlte, reagierte sein Körper, indem er sich blitzschnell auf die lebensbedrohliche Situation einstellte. Vereinfacht dargestellt bedeutete das: erhöhter Puls, angespannter Nackenbereich, Einstellung des Verdauungsprozesses und reflexartiges Einatmen, um sehr rasch mehr Luft in die Lungen zu pumpen. Solchermaßen hochgefahren und aktiviert war das Körpersystem unseres steinzeitlichen Vorfahren optimal auf Flucht oder Kampf vorbereitet.
Wir werden zwar heute selten von wilden Tieren angegriffen, aber es gibt doch vor allem im Stadtleben genug Faktoren, die uns bedrohlich scheinen können. Straßenverkehr, aggressive Menschen, anhaltender Lärm, Großraum-Büros, scheinbar nicht zu bewältigende Aufgaben und vieles mehr.
Unser Körper reagiert, wie er es immer getan hat: mit Angriffs- oder Fluchtverhalten – und das oft mehrmals hintereinander und ohne ausreichende Erholung zwischendurch. Das bedeutet, unser Körpersystem ist oft über einen langen Zeitraum überaktiviert, ohne dass es uns bewusst wird. Was wir allerdings sehr wohl wahrnehmen, sind die daraus resultierenden körperlichen Beschwerden. Muskelverspannungen, Kreislaufbeschwerden, Verdauungsprobleme, Kurzatmigkeit oder Schlafstörungen.
Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, hilft es bereits, sich die Tatsache bewusst zu machen, dass bei Stress unser Atem auf reflexartiges Einatmen programmiert ist. Wir brauchen also nur das Gegenteil zu tun, nämlich bewusst und genussvoll ausatmen – so richtig Dampf ablassen – und schon reagiert der Körper mit ein bisschen mehr Entspannung. Ich sage bewusst „ein bisschen“, weil es natürlich Zeit braucht, um einen Mechanismus umzukehren, der oft schon jahrzehntelang vom Körper gut geübt und gespeichert worden ist. Wenn wir uns diese Zeit nehmen und geduldig mit uns selbst umgehen, dann geschieht die Veränderung in kleinen Schritten.
Und so könnte der erste Schritt aussehen:
Machen Sie sich Ihren Atem bewusst. Atmen Sie! Sie können das bereits jetzt, in diesem Moment tun. Lassen Sie den Atem fließen, während Sie diesen Text zu Ende lesen.
Wenn Sie ein paar Minuten Zeit übrig haben, suchen Sie sich ein ruhiges Plätzchen, schließen Sie die Augen und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Atem. Spielen Sie dabei ein bisschen Detektiv. Beobachten Sie, wie schnell oder wie langsam Ihr Atem ist, wo sie den Atem im Körper spüren können und ob sie eher ein- oder eher ausatmen.
Wenn Ihnen das Stillsitzen schwerfällt, dann probieren Sie folgendes: Toben Sie sich aus, bis Sie außer Atem sind. Sie können tanzen, Schnur springen oder jede andere Bewegung machen, die Sie wirklich außer Atem bringt. Danach legen Sie sich ruhig auf den Boden und beobachten Ihren Atem wie oben beschrieben. Jetzt sollte das leichter gehen.
Wann immer Sie das Gefühl haben, vor Ärger die Wände hochzulaufen oder Ihren Ärger still in sich hineinzufressen, atmen Sie tief und bewusst aus!
Sie können beim Einatmen die Hände über den Kopf heben und sie beim Ausatmen wieder fallen lassen. Atmen Sie durch den geöffneten Mund aus und achten Sie darauf, dass Sie dieses Ausatmen auch hören können, es sollte wie ein tiefes, lautes Seufzen klingen.
Diese Übung wirkt auch sehr gut, wenn Sie während der Arbeit müde werden oder sich energielos fühlen.
Geben Sie nicht gleich auf, wenn Ihnen die Atemübungen am Anfang schwer fallen. Betrachten Sie Ihren Atem wie einen Freund, den Sie lange nicht gesehen haben. Sie müssen erst wieder Kontakt aufnehmen und sich langsam aneinander gewöhnen.
Wenn Sie die Anfangsschwierigkeiten überwinden können, wird Ihr Atem zu einem wichtigen und hilfreichen Begleiter auf dem Weg zu mehr Gelassenheit werden. Er wird Sie direkt in Ihre Körpermitte bringen und Sie so von innen heraus stärken. Er wird dafür sorgen, dass Sie die nötige Distanz zu belastenden Emotionen wie Ärger, Eifersucht oder Ängstlichkeit bekommen.
Bedenken Sie, dass Ihr Atem die einzige Funktion des vegetativen Nervensystems ist, die Sie willentlich jederzeit verändern können. Sie können Ihren Stoffwechsel nicht beschleunigen oder Ihren Blutdruck nicht auf direktem Wege senken – aber Sie können jetzt sofort damit beginnen, langsamer, bewusster und ruhiger zu atmen.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei!
© Katja Steinkellner, www.bewusstentspannt.at
Herzlichen Dank, liebe Katja!
Photo: Emdot
Toller Beitrag! Vielen Dank
Auch wenn ich nicht weiß, ob Katja sich manchmal hier noch herumtreibt … auch von mir nochmals Danke! an sie!