Teile diesen Beitrag "Über die innere Mitte – Interview mit Jürgen Pirker"
Jürgen Pirker ist systemischer und Wellness-Coach. Im myMONK-Interview teilt er seine Erfahrungen mit gestressten Klienten, berichtet über die „innere Mitte“ und gibt und Tipps für mehr Entspannung im Altag und die Lebensgestaltung, die uns entspricht.
Hallo Herr Pirker, schön, dass Sie dem Interview zugestimmt haben. Möchten Sie sich zunächst kurz vorstellen?
Sie möchte vermutlich mehr über meinen Arbeitsbereich erfahren: Ich bin Wellness-Coach und Systemischer Coach und arbeite als Trainer in der Erwachsenenbildung für verschiedene Institutionen. Persönlichkeitsentwicklung, Veränderungsprozesse und Gesundheit sind Schwerpunkte in meinen Seminaren, die vom „Zeitmanagement“ über „Stressmanagement“ und „Zielsetzungstraining“ bis hin zu „Arbeit und Alter“ reichen.
Was macht ein Wellness-Coach? Und was ist „systemisches Coaching“?
Ein Wellness-Coach ist – wie der Name schon sagt – ein Begleiter bei Veränderungen hin zu mehr Ausgeglichenheit und einem Leben in Balance. Das Portfolio eines Wellness-Coaches ist ein breites: Ob Sie entspannter leben möchten, mehr Bewegung in den Alltag integrieren wollen oder auf der Suche sind nach ganzheitlichen Ansätzen, die Bewegung, Ernährung und Entspannung verbinden – dafür ist der Wellness-Coach ausgebildet.
„Systemischen Coaching“ ist der Schlüssel zu individuell passenden Lösungen. Lassen Sie es mich mit einem Beispiel verdeutlichen: Kennen Sie das? Jemand kommt mit einem Problem zu Ihnen und will eine Lösung dafür haben. Sie zerbrechen sich den Kopf und geben einen gut gemeinten Ratschlag. Kurze Zeit später kommt der/diejenige wieder, erzählt Ihnen, es hat nicht funktioniert und erbittet erneut Ihre Hilfe – Sie sind jetzt für die Lösung dieses Problems verantwortlich. Eigentlich verständlich – es wäre schön, wenn andere unsere Probleme lösen. Nur leider funktioniert das nicht.
„Systemisches“ Coaching setzt daher anders an. Es geht davon aus, dass jeder Mensch sich seine Welt selbst konstruiert und folglich in seiner Welt auf Probleme stößt, für die er nur selbst Lösungen finden kann – Lösungen, die ihm/ihr auch entsprechen. „Systemisches Coaching“ unterstützt bei dieser Suche, indem der Coach Fragen stellt und Interventionen anbietet – stets jedoch ohne Ratschläge zu erteilen – als „Beratung ohne Ratschlag“ (Sonja Radatz). Es ist eine Form der Kurzzeittherapie, eine Gesprächstechnik wenn sie so wollen, die maßgeschneiderte Veränderungen ermöglicht.
Gibt es einen gemeinsamen Nenner derer, die zu Ihnen kommen?
Ob der Wunsch besteht, entspannter zu leben oder persönliche Ziele zu verwirklichen: Es geht immer wieder darum, sich selbst zu erkennen, seine eigenen Ziele zu entwerfen, persönliche Bedürfnisse ernst zu nehmen und im Leben umzusetzen.
Warum suchen die Menschen heute mehr denn je nach Wellness?
Wir leben in einer Zeit, die uns suggeriert: Wir müssen immer mehr haben, immer schneller – „Zeit ist Geld!“ Dieses unsägliche Credo, das Benjamin Franklin zugeschrieben wird, regiert das Wirtschaftsleben und wir haben in den letzten Jahren gesehen, wohin das führt. Viele Menschen sind verstrickt in eine Vielzahl von Ansprüchen: Sie wollen gute Arbeit leisten, Etwas erreichen, sich ins Unternehmen einbringen, für die Familie sorgen, und und und. Die Ansprüche, die von innen und außen an uns gestellt werden, sind oft enorm. Zusätzlich wird das Leben immer schneller. Eigentlich ein Paradoxon: In unserem Leben geht alles schneller als vor 100 Jahren und trotzdem haben wir das Gefühl, weniger Zeit zu haben. Die Soziologie erklärt das so: je höher der Wohlstand und der Bildungsgrad einer Gesellschaft, umso größer auch das Zeit-Unwohlsein. In dieser sich immer schneller drehenden Welt mit ihrer Vielzahl an Ansprüchen sehnen wir uns häufig nach Ruhe und Entspannung – ein Bedürfnis, auf das die Wellness-Branche reagiert. Sie kommt natürlich auch nicht ohne wirtschaftlichen Antreiber daher und suggeriert uns: dieser Urlaub, jene Behandlung oder Sportart und du bist entspannt. In Wirklichkeit geht es darum, seine persönlichen Bedürfnisse und Ziele zu erkennen, und sie in den Alltag optimal zu integrieren – da kann dann der Wellness-Urlaub genauso dazugehören, wie die einmal durchgearbeitete Nacht. Solange man es selbst entscheiden kann und das Gefühlt hat, das zu tun, was einem entspricht.
Was ist die „innere Mitte“? Woran erkennen wir, dass wir nicht mehr im Gleichgewicht sind?
Ich verwende die „innere Mitte“ als eine Metapher für Ausgeglichenheit und Balance. Damit meine ich aber nicht, dass man dauernd tief entspannt ist. Das ist ein unrealistischer Anspruch und würde in unserem Leben auch gar nicht funktionieren. Wenn man dieses Bild der „inneren Mitte“ hat, läuft man Gefahr, sich wieder Druck zu machen, weil man jedes Mal, wenn man nicht entspannt ist, denkt: „Jetzt bin ich schon wieder nicht entspannt!“
Mit Balance meine ich vielmehr den optimalen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Beides erfüllt in unserem Leben eine wichtige Funktion – Denken Sie zum Beispiel an die Schirennläufer kurz vor dem Start: Sind die entspannt? Nein. Das wäre völlig kontraproduktiv. Aber sie bemühen sich um die optimale Spannung.
Es geht also darum, beide Pole – Spannung und Entspannung ins Leben zu integrieren und so auszugleichen, dass wir Herausforderungen gewachsen sind und immer wieder zu Ruhe kommen können.
„In der Mitte“ sein heißt also im Einklang sein mit sich, sich seiner Fähigkeiten bewusst sein, seine Ziele kennen und zu wissen, wie die persönlichen Entspannungsbedürfnisse sind und ihnen Raum zu geben, um aus der Ruhe Kraft zu schöpfen.
Woran man erkennen kann, dass dieser Zustand fehlt? An Unausgeglichenheit, innerer Unruhe, Angst, grundloser Wut, Gedächtnisproblemen, Verdauungsschwierigkeiten und vielen anderen Stresssymptomen. Aber auch an Glaubenssätzen, die man sich selbst immer wieder sagt – wie „Das schaffe ich nie.“, „Immer ich.“, „Ich muss.“, „Ich kann nicht.“, „Das muss ich noch erledigen und dann, später, gönne ich mir Erholung.“, aber dieses „später“ kommt nicht. Stattdessen geht es immer weiter.
Wie gelangen wir zu inneren Mitte? Was können wir dabei aus der Zeit der Antike lernen? Gibt es Übungen, die uns dabei helfen können?
Die antiken Lehren, von denen wir am meisten lernen können, wenn es um innere Ruhe und Ausgeglichenheit geht, stammen aus der Zeit von Alexander dem Großen. Diese Zeit hat mit unserer einiges gemeinsam: Durch die Eroberungen von Alexander entstand ein riesen Reich von bisher ungekannten Dimensionen, der Horizont wurde weit und reichte über die Grenzen der Stadtstaaten hinaus, mit denen sich die Menschen zuvor identifizierten. Dieses Auflösen von Grenzen – wie in der Globalisierung heute – führte zu Unsicherheit. Daher wandte sich die Philosophie nach innen, zum Menschen hin, und erkannte: Stabilität ist nicht im außen, sondern im Inneren zu finden – in der inneren Ruhe. Die Stoa nannte diesen Zustand „Ataraxia“ (Unerschütterlichkeit), Epikur bezeichnete ihn als „Apathia“ (Leidenschaftslosigkeit). Man könnte es mit Gelassenheit übersetzen und daraus kann man viel für unsere Zeit lernen: Erkennen, was mir wirklich wichtig ist und Freude bereitet; sich bescheiden auf das, was man wirklich braucht; nicht nach Dingen verlangen und streben, die man nicht erreichen kann und die nur Unruhe mit sich bringen (Reichtum, Macht, Ansehen); sich nicht ärgern und grämen, bevor etwas Schlechtes eingetroffen ist – wenn wir noch gar nicht sagen können, was überhaupt passieren wird; und wenn wir auf Probleme stoßen, diese als Erfahrung annehmen und daraus lernen, ohne emotional über zu reagieren.
Übungen gibt es viele. Schon ein Teil der griechischen Philosophen gab praktische Tipps für den Alltag. Klar war, dass Ernährung und Bewegung unseren Entspannungsgrad beeinflussen und auch die Atmung eine wichtige Rolle spielt.
Als kleiner Tipp für zwischendurch:
Atmen Sie immer wieder bewusst in den Bauch. Bei dieser Atmung kommen Sie zur Ruhe, es ist die natürliche Atmung, die dem Körper hilft, sich zu entspannen. Wenn man sich aufregt, heißt es nicht umsonst: „Erst mal Durchatmen!“.
Atmen Sie durch die Nase ein, und durch den Mund wieder aus.
Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Luftballon im Bauch. Bei jedem Einatmen wird der Luftballon größer und füllt Ihren Bauchraum aus, bei jedem Ausatmen zieht er sich wieder zusammen.
Atmen Sie doppelt so lange aus, wie ein.
Stellen Sie sich vor, wie Sie bei jedem Ausamten alle Probleme und alles, was sie belastet, einfach wegatmen können.
Spüren Sie, wie sich Ihr Körper bei jedem Atemzug mehr und mehr entspannt.
Richten Sie nun Ihren Körper auf, sodass sie ganz gerade sind. Denken Sie sich einen Faden am Hinterkopf, der Sie nach oben zieht und Lächeln Sie! Lächeln Sie und schon nach kurzer Zeit werden Sie sich gut fühlen – Die moderne Hirnforschung belegt: Körperhaltung und Emotionen sind aneinander gekoppelt. Richten Sie sich also auf und tun Sie so als ob es Ihnen gut geht und sie ganz entspannt sind. Damit „bahnen“ Sie den Zustand, der sich kurz darauf einstellt. Kleines Gegenbeispiel, um es zu verdeutlichen: Versuchen Sie, in aufrechter Haltung und mit einem Lächeln auf den Lippen traurig zu sein. Und? Funktioniert nicht! Daher achten Sie auf Ihre Haltung und nutzen Sie sie.
Was zeichnet gutes Stressmanagement (sonst noch) aus?
Sie lernen, sich zu entspannen, Ihre Ressourcen optimal einzusetzen und einen Ausgleich zwischen Spannung und Entspannung herzustellen. Gutes Stressmanagement unterstützt Sie dabei, die Techniken auch im Alltag einzusetzen und erarbeitet mit Ihnen gemeinsam Lösungen, die Ihrer Lebenssituation und Ihren Bedürfnissen entsprechen.
Welche drei Erkenntnisse zählen Sie zu den wichtigsten in ihrem Leben?
- Veränderung beginnt im Kopf. Wir können alles erreichen, was wir wollen; aber nicht immer auf dem Weg, den wir uns vorgestellt haben – ein bisschen Vertrauen gehört auch dazu.
- Wir sind für unser Leben selbst verantwortlich: Nicht immer für die Umstände, aber dafür, wie wir damit umgehen.
- Das ganze Leben ist Entwicklung und Lernen. Jede Erfahrung ist wertvoll – auch wenn man oft erst viel später erkennt, wofür sie gut war und was man zu lernen hatte.
Es gibt einen wunderbaren Spruch, dass diese Erkenntnisse auf den Punkt bringt:
Drei Blicke tu‘ zu deinem Glück:
Nach vorne,
nach oben,
und zurück!
„Nach vorne“ bedeutet auf die eigenen Ziele blicken, einen Weg vor Augen haben; „nach oben“ heißt ein Vertrauen haben in den Gang der Dinge, Gott-Vertrauen und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten; „zurück“ meint auf den Weg bisher schauen, die vielen Erfolge, zwischendurch innehalten und dankbar sein für das, was einem im Leben geschenkt wurde.
Wie können die Leser Sie am besten kontaktieren?
Am besten über meine Homepage: www.pro-vitae.at bzw. per Mail an office@pro-vitae.at.
Und wer sich dafür interessiert, was man – aufbauend auf den Lehren der griechischen Philosphie – heute tun kann, um zu mehr Ausgeglichenheit zu gelangen, dem sei herzlich mein Buch empfohlen:
Pirker Jürgen: Lebe Deine Mitte, Lifebalance mit dem Wissen der Antike, Goldegg, 2007.
Herzlichen Dank für das Interview!
Photo (oben): Mark Robinson
Viele gute Informationen, in denen ich mich und meine (berufliche) Vergangenheit wiedererkenne!
Eine entscheidende Aussage für mich ist:
„… seine persönlichen Bedürfnisse und Ziele zu erkennen, und sie in den Alltag optimal zu integrieren … Solange man es selbst entscheiden kann und das Gefühlt hat, das zu tun, was einem entspricht.“
Die persönlichen Bedürfnisse und Ziele zu erkennen, und sie in den Alltag optimal zu integrieren ist nämlich gerade der Knackpunkt für viele Menschen.
Wie viele Menschen fühlen sich (gerade im Job) fremdbestimmt. Und wie viele Menschen wissen gar nicht (mehr) was ihre persönlichen Bedürfnisse und Ziele sind. Für viele heißt es nur noch „Durchhalten bis zur Rente!“. Egal, ob 35 oder 65 Jahre alt…
Die drei Erkenntnisse von Herrn Pirker können in diesem Fall helfen, aus diesem Kreislauf herauszukommen. Auf jeden Fall ist das mein Ansatz…