Teile diesen Beitrag "Warum wir uns selbst schaden, wenn wir andere verurteilen"
Es gab Zeiten, da hielt ich die meisten Leute für Feinde. In meinem Kopf herrschte Krieg. Egal, wo ich war. Im Supermarkt, in der Uni, beim U-Bahnfahren. Diese Leute, ich verurteilte sie, ich verurteilte sie alle. Mit einer Härte, dass es selbst Henkern mit internationaler Berufserfahrung kalt den Rücken runter gelaufen wäre.
„Wie der aussieht! Muss die noch im Bus fressen, wenn sie schon so fett ist! Diese Frisur ist einfach nur lächerlich! Der Idiot ist bestimmt gerade unterwegs zur Nachkontrolle beim Arzt wegen seiner Gehirnentfernung! Zu blöd zum Scheißen! Versager!“
Echt übel, ich gebe das auch nur ungern zu. Und heute noch verurteile ich Menschen zu oft und zu schnell, wenn auch bei weitem nicht mehr so krass. Ich nehme an, dass viele von uns sie kennen – diese nörgelige Stimme im Kopf, die andere oft abwertet, Freunde wie Fremde und alles dazwischen. Versuch‘ nur mal zehn Minuten lang durch die Stadt zu gehen und über niemanden zu urteilen. Gar nicht so leicht.
Warum tun wir das? Was macht das mit uns? Und wie können wir uns davon befreien?
Hier ein paar Antworten, die besagter Stimme im Kopf nicht gefallen werden.
Warum wir verurteilen
Eine Reihe von Gründen:
- Wir sind soziale Wesen. Und in sozialen Gruppen muss es eine Ordnung geben. Das ist biologisch programmiert. Leute die oben, und Leute, die unten stehen, Leute, die herrschen, und Leute, die dienen. Fängt schon im ganz Kleinen an: Wenn zwei Menschen auf einem schmalen Weg aufeinander zulaufen, wer von beiden macht dem anderen dann Platz? Darüber entscheiden wir nicht bewusst. In uns läuft ein permanenter Vergleich in Sachen Status ab. Und bei dem wollen wir möglichst gut abschneiden. So wollen wir uns erhöhen, indem wir andere herabsetzen.
- Wir sind uns unsicher mit uns selbst und unserem Wert. Dann verschärft sich dieses Statuskampf im Kopf. Ruhen wir nicht in uns, bejahen wir uns nicht, dann fühlen wir uns angreifbar und bedroht von anderen. Umso mehr versuchen wir, sie abzuwerten oder ihnen Schmerz zuzufügen. Ein Extremfall: Jugendliche, die vermeintlich auf „Ey-was-guckst-Du-so-blöd“-Weise angeschaut werden und sofort zuschlagen. Oder: „Bevor der mich Scheiße findet, finde ich schon ihn Scheiße“ – so kann ich nicht verletzt werden. Denk an den 45-jährigen Mann, noch Jungfrau, der „all diese Bitches“ hasst, weil ihn bisher keine wollte. Oder: Wir sind neidisch auf den beruflichen Erfolg des Kollegen und zum Schutz unseres Egos unterstellen ihm, er hätte sich nur nach oben geschleimt oder geschlafen.
- Wir lehnen Teile von uns ab und unterdrücken sie. Schieben sie aus dem Bewusstsein in den Schatten. Kommt dann jemand mit genau so einer Eigenschaft und hält sie uns als Spiegel vor, werden wir wütend. Weil wir an etwas erinnert werden, an das wir nicht erinnert werden wollen, und dem wir nur mit Aggression begegnen können.
- Wir sind einsam. Denken wir über andere nach, und sei es auch nur negativ, beziehen wir uns auf jemanden, eine Beziehung entsteht oder ein Band, unser womöglich unangenehm leeres Bewusstsein sättigt sich mit diesem Menschen und der negativen Energie, kann die Einsamkeit zunächst ein bisschen verdrängen.
- Wir erwarten zu viel von den Mitmenschen. Und werden dadurch ständig enttäuscht und frustriert und dieser Frust schürt die Abwertung.
Wie wir uns selbst schaden
Verurteilen ist ein sicherer Pfad zum Leid. Ein Rezept, das immer misslingt, und immer zum Kotzen schmeckt, und das immer wir selbst aufessen müssen.
Es passiert in unserem Kopf, in unserem Körper, in unserem Herzen.
Das Ziel unserer Attacken weiß oft nicht mal was davon – es ist frei von unseren Gedanken. Den Schaden haben wir.
Wie Buddha sagte:
„An Zorn festzuhalten ist wie Gift trinken und erwarten, dass der Andere dadurch stirbt.“
Wenn wir verurteilen, dann übernehmen wir nicht genug Verantwortung für uns, unseren Selbstwert, unsere Einsamkeit, unsere verdrängten Eigenschaften und unser eigenes Leben.
Wir vergeben die Chance, für uns selbst zu sorgen.
Außerdem schaden wir uns noch auf eine zweite Weise.
Statt neutral wahrzunehmen, was ist, erfinden eine Geschichte dazu. Statt zu beobachten: „Sie redet sehr viel“, denken wir: „Die kann ja gar nicht mehr aufhören, ist doch krank, anscheinend ist ihr egal, das andere auch mal zu Wort kommen wollen, das geht ihr doch alles am Arsch vorbei! Sie sollte sich dringend ändern!“.
Wir nehmen die Menschen nicht, wie sie sind, und damit nehmen wir auch die Realität nicht an. So schüren wir unser Verlangen, dass jemand anders sein sollte als er ist, und stärken auf diesem Weg auch das Verlangen, dass auch andere Bereiche unseres Lebens anders zu sein haben als sie sind. Immer weiter öffnen wir damit die Tür für Verurteilung und Unzufriedenheit. Über das Wetter, die Politik, das Geld, die Gesundheit, die Wohnung, das ganze Leben.
Der Riss zwischen unseren Erwartungen und der Realität wird größer und größer, und irgendwann verschluckt uns das aufklaffende Unglück.
Wie wir damit aufhören können
Vier Schritte helfen, um uns nach und nach von dem Gift in uns zu befreien und immer mehr Frieden in uns zu finden:
- Bewusst werden, wenn wir verurteilen. Wirklich gar nicht so leicht. Aber jedes einzelne Mal, wenn wir merken: „Oh, ich verurteile gerade“, hilft. Mit jedem Mal wird es etwas leichter.
- Durchschauen, warum wir verurteilen. Wir brauchen uns auch nicht selbst fürs Verurteilen verurteilen. Es macht uns nicht zu schlechten Menschen, es sind nur Verletzungen und Unsicherheiten, die uns dazu bringen.
- Daran erinnern, wie uns dieses Verhalten schadet.
- Die negativen Gedanken über den anderen loslassen. Dafür gibt es viele Hilfsmittel. Zum Beispiel können wir sehen, dass wir zu viel von ihm erwartet haben. Oder wir versetzen uns in ihn hinein, so gut es geht. Auch er sucht nur nach Glück sucht und will Leid vermeiden. Mit all dem persönlichen Gepäck, das jeder von uns hat (vielleicht steckten wir ja sogar mal in einer ähnlichen Situation?). Oder wir erinnern uns daran, dass auf der Welt genug Platz ist für alle von uns. Die Dünnen und die Dicken. Die Großen und Kleinen. Die Bedürftigen und weniger Bedürftigen. Die Quasselstrippen und stillen Wasser. Für die, die sich leicht tun, und die, die sich schwerer tun. Oder wir fragen uns: Ist das wirklich wichtig? Oder: was kann ich selbst tun, wo kann ich mehr Verantwortung übernehmen?
Am Schluss können wir Gedanken wie diese einladen:
„Ja, ich akzeptiere diesen Menschen wie er ist. Ich lasse ihn so sein.“
„Ja, ich akzeptiere das ganze Leben wie es ist. Ich lasse es so sein.“
Wird dadurch nicht vieles leichter?
Mehr dazu unter Was Leute über Dich verraten, die Dich aufregen, Verletzte Menschen verletzten Menschen und im myMONK-Buch für mehr echtes, teifes Selbstwertgefühl.
Photo: Konrad Lembcke
Hallo Tim,
sehr schön! Bringt es sehr klar und gut auf den Punkt.
Ich finde Punkt 2 am wichtigsten.
Wenn ich mir im Klaren bin, dass ich oftmals verurteile, was oder wer mir den Spiegel vorhält, bekommt das Ganze eine ganz andere Qualität.
Neugierig beobachten, worauf ich immer wieder anspringen und was das wohl mit mir zu tun hat: wirkt Wunder.
Am Ende findet man auf diesem Weg sehr gut heraus, welcher innere Wunsch hier wohl noch unerfüllt ist.
Einen lieben Gruß
Dirk
Klare und verständliche Worte, du du hier aufschreibst. Ist es nicht oft so, dass die eigene Unzufriedenheit unser Handeln bestimmt? Innere Wünsche die unerledigt bleiben und an die Oberfläche wollen lassen oftmals anderer Orts das Handeln von Menschen missgünstig darstellen.
Ich bin froh, dass du hier auf der Webseite so viele Weisheiten teilst, von denen wirklich alle Besucher profitieren können. Man muss sich etwas einlesen und auch selbstreflektieren, dann geht es ganz einfach.
MfG
Hi Tim,
sehr inspirierend!
Der Plapper-Affe im Hirn kommt wirklich auf alle möglichen „bösen“ Ideen 😉
Ich finde Punkt 1 (bewusst werden) am wichtigsten, aber auch auch am schwierigsten, da das erst eine gewisse Vorbereitung und Meditationspraxis benötigt. Ich denke nämlich, dass man nur über das Meditieren Gedanken beobachten lernen (Distanz zu ihnen aufbauen) kann. So bekommt man dann auch in der jeweiligen Situation die richtige Distanz und wird sich ihnen bewusst. Davor wird man gerne in den Gedanken-Strudel der Verurteilungen gerissen, weil man sich noch mit ihnen identifiziert.
LG
Tobias
Hallo Tobias,
ja sehr spannend – ich war am Wochenende auf einem Retreat – und ich habe vorhin noch genau solche Gedanken gehabt – wie kann ich meine noch so kleinen Verurteilungen einfach „sein“ lassen. Und wie am Wochenende und sooft davor ist Meditation wahrscheinlich der einzige Weg da hinaus. Durch die Meditation verlieren Gedanken ihre Kraft – und nicht gegen sie zu kämpfen sondern sie da lassen.
ein schöner Beitrag – sowohl von Dir Tim und auch Dir Tobias.
Lieben Gruß
Ilka
Tim, eine Perle nach der anderen finde ich auf der Homepage. Sie ist für mich eine wahre Schatzkiste.
Dieser Artikel bringt es mal wieder ziemlich auf den Punkt. Es dreht sich sehr oft um unseren Selbstwert. Ruhen wir ins uns und nehmen uns so wie wir sind, dann ist es leichter das Leben zu nehmen wie es ist. Sind wir unzufrieden und sehen uns nicht als wertvoll, dann können das ja andere Menschen auch nicht sein.
Ich danke dir für diesen tollen Artikel.
Liebe Grüße
Melanie
Hallo an alle, die das lesen!
Ich finde das Zitat schön: „Verurteile nicht jemanden, bevor du nicht zwei Wochen in seinen Schuhen gesteckt hast.“ (oder so ähnlich).
Meine Tante sagte, immer wenn sie jemanden verurteilt hatte, dann war sie später in einer ähnlichen Lage und hat den Menschen dann verstanden.
Ich habe Ähnliches erlebt. Wie oft habe ich schon das Verhalten der Menschen als schlecht angesehen, doch später habe ich mich selbst so verhalten, und dann verstand ich, warum man sich so und nicht anders benimmt.
Mittlerweile danke ich „Verurteile nie jemanden, denn wenn du es tust, kommst du möglicherweise auch in eine ähnliche Lage wie er, was du ja nicht willst. Also denke lieber, daß der Andere seine Gründe hat, warum er sich so und nicht anders verhält; und kehre zum Eigenen zurück, also kümmere dich um deinen eigenen Kramm.“ Das tut gut, finde ich.
Grüsse, Regina
Hallo zusammen,
ich finde, man sollte auch zulassen dürfen, dass man urteilt – nicht VERurteilt. Es heißt ja, wir sind soziale Wesen, andere sind unser Spiegel, wir haben Dinge in uns die uns nicht gefallen, usw. Aber es ist doch unglaublich wichtig, daraus auch lernen zu dürfen, was wir sehen, was wir bemerken, was uns missfällt.
Ich muss zugeben, ich hab früher sehr viel geschimpft. Ich war so fest davon überzeugt, dass mein Weg der richtige war – schließlich hab ich ja (vermeindlich) ohnehin schon den schwierigsten Weg aller hinter mir.
Es hat mir viel genommen, als ich es geschafft habe, mich darin anzunehmen und ich bin gleich sehr viel ruhiger geworden. Ich darf urteilen, weil dadurch präge ich meine Werte. Ich VERurteile nicht den Menschen, sonder BEurteile die Situation.
Und außerdem, was gibt mir das Recht über einen Menschen alles zu wissen, sein ganzes Wesen zu begreifen, indem ich nur eine Situation von ihm mitbekomme? Aber ich darf mir doch sagen: „Hoppala, also das ist eine Aussenwirkung, die ich nicht haben will“.
Und schön, was ihr alle dazu schreibt.
Ich wünsch euch ein Lachen
Sebastian
Interessanter Artikel. Ich selber arbeite auch viel Psychologie zusammen und kann aus meiner Sicht nichts falsches erkennen, alles Top!! Und du hast mir noch was neues beigebracht. Dankeschön Grüße Christian L.