Teile diesen Beitrag "Schluss mit Frust: Prüfe Deine Ziele wie ein stoischer Philosoph"
Ich war so kurz vorm Ziel. Ich konnte es schon sehen. Mann, ich konnte es schon riechen. Mit richtig langen Fingernägeln hätte ich es vielleicht sogar berühren können.
Und dann bin ich aufgewacht. Es war nur ein Traum. Wieder mal hatte ich ein schönes Bild von meinem Ziel. Aber mehr auch nicht.
So geht’s uns oft, denke ich, wir träumen von den Millionen auf dem Konto, dem eigenen Business oder vom Aussteigen. Oder von einem Körper, der uns begehrenswert erscheint und schmerzfreie Blicke in den Spiegel erspart. Oder von richtig langen Fingernägeln.
Die meisten der Ziele, die wir uns setzen, hinterlassen jedoch nur eins: Frust.
Weil wir sie nicht erreichen, schon wieder nicht. Trotz aller anfänglichen Anstrengung und Begeisterung.
Und selbst wenn wir sie erreichen, stellen wir hinterher oft fest: „Äh, joah, pffff … ist jetzt doch nicht so toll wie ich dachte, ist eigentlich ziemlich Kacke – jetzt hab ich zwar die langen Fingernägel, aber leider den geliebten Hamster damit aufgespießt.“
Dieses Phänomen ist so alt wie die Menschheit.
Der stoische Philosoph Epiktet (55-135 n.Chr.) hat einen guten Rat dazu auf Lager:
„Bei allem, was Du tun willst, achte auf das, was vorangeht und was nachfolgt. Sonst wirst Du anfangs lustig darangehen, weil Du nicht bedacht hast, was nachkommt; danach aber, wenn sich etliche Schwierigkeiten zeigen, wirst Du mit Schanden davongehen.
Du willst in Olympia siegen? Auch ich, bei den Göttern, denn das bringt Ehre! Aber achte auf das, was vorangeht und was nachfolgt. Du musst geordnet leben, nach Vorschrift essen, Dich den Leckerbissen enthalten, üben, nach fester Regel, zur vorgeschriebenen Stunde, in Hitze und Kälte; kein Wein zur belieben Zeit; kurz, Du musst Dich dem Lehrmeister übergeben. Beim Kampf selbst musst Du Dich mit Sand überschütten lassen. Möglich auch, dass Du Dir die Hand verzerrst, den Knöchel verrenkst und viel Staub schluckst; möglich, dass Du durchgeprügelt und nach all diesem noch besiegt wirst.
Glaubst Du, Du könntest, während Du solche Dinge treibst, ebenso viel essen, ebenso viel trinken, ebensolche Begierden haben und ebenso missvergnügt sein? Wachen muss man sich und zurückziehen, sowie in allem anderen zurückstehen, in der Achtung, im Amt und in jedem Geschäftemachen.
Das überlege Dir gut, und wenn Du dann noch Lust hast, so gehe zum Kampf.“
Wir sollten über diese notwendigen Mühen und möglichen unangenehmen Folgen, bevor wir aufbrechen, über den Schweiß, über das Blut, über die Tränen – die uns bis zum Ziel und danach erwarten. Sonst, so Epiktet geschieht etwas, das mir bestens bekannt ist, und Dir vielleicht auch:
„Sonst wirst Du Dich wie die Kinder betragen, die bald die Rolle eines Ringers spielen, bald die eines Fechters, das eine Mal Trompeten blasen, dann wieder ein Schauspiel aufführen. So auch Du! Bald bist Du ein Athlet, bald ein Fechter, dann ein Redner, dann ein Philosoph, aber nichts von ganzer Seele, sondern wie ein Affe ahmst Du jeden Auftritt, den Du siehst, nach; und bald gefällt Dir dies, bald das. Denn Du bist nicht mit Überlegung an eine Sache gegangen und nicht mit Umsicht.“
Unsere Ziele sind oft nur Fantasien, denn sie klammern das Unangenehme aus, was zum Erreichen nötig ist und welche Folgen es hätte.
Denk an die gefeierte, beneidete Superstar-Sängerin, der sich am Anfang ihrer Karriere von wer weiß wem begrapschen lassen muss („Ich bring Dich groß raus, Baby!“) und hinterher, selbst wenn sie’s nicht nur in die Porno-Industrie, sondern auf die große Bühne schafft, auch einen hohen Preis dafür zahlen muss. Mit all dem Dreck über sie in der Presse, mit den Kameras, die ihr ständig ins Gesicht gehalten werden. Damit, niemandem mehr trauen zu können, weil alle nur was abhaben wollen von ihrem Ruhm und der Kohle. Mit den Drogen, die womöglich einfach nötig sind, um all das auszuhalten, die Einsamkeit hinter der Bühne.
Wenn wir an unser Ziel denken, ist die Frage: Sind wir bereit, den entsprechenden Preis zu zahlen?
In unsere Überlegungen sollten natürlich auch unsere Eigenschaften, Bedürfnisse, Stärken und Schwächen mit einfließen, wenn wir unsere Ziele prüfen:
„Zuerst überlege, wie die Sache beschaffen ist; dann prüfe auch Deine eigene Natur, ob Dir die Last nicht zu schwer ist. Willst Du ein Zehnkämpfer sein oder nur ein Ringer? Betrachte Deine Arme, Deine Schenkel, prüfe Deine Hüften; denn der eine ist von Natur zu diesem, der andere zu etwas anderem bestimmt.“
Dann haben wir eine echte Chance, es zu erreichen und am Ende auch glücklich damit zu sein.
Wenn Du also das nächste Mal ein Ziel setzt:
Achte auf das, was vorangeht und was nachfolgt.
Siehe auch: Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Der Rat eines Skandalautors und 9 Prinzipien für stoische innere Ruhe.
Photo: Henadz Freshphoto.ru
Toll geschrieben Vielen Dank!
Dankeschön, Sven!
Tja und wenn man das alles bedenkt und beschließt dass man alle je geträumten Ziele nicht erreichen kann weil die Mühen dorthin zu schwer sind? Nicht mehr träumen? In der Leere bleiben? Niemand weiß das….
Hi Mag,
ich denke, das muss jeder für sich entscheiden. Ich denke aber auch, dass es sehr lohnenswerte Träume und Ziele für jeden gibt, die auch erreichbar sind (wenn man auch einen Preis dafür zahlen muss).
Ich persönlich möchte einfach nicht mehr diesem und jenem Ziel nachjagen und kurz nach einem flammenden Start schon wieder ausbrennen, weil’s mir die Anstrengung nicht wert war oder das Ziel einfach nicht zu mir gepasst hat.
Liebe Grüße
Tim
Diese Art des Abwägens der Vor- und Nachteile: Was kann ich gut, was liegt mir gar nicht usw., ist mühsam und führt letzten Endes nicht zum Erfolg, außer man arbeitet mit Ellenbogen, geht rücksichtlos mit seinem Umfeld um, beutet andere aus. Aber das will ich kann ich nicht.
Also was bleibt? Ich nutze meine Intuition, die sich gut entwickelt hat,und der ich vertrauen kann. Sie weist mir den Weg, berücksichtigt meine unbewussten Träume und Ziele, kennt meine Fähigkeiten und Anlagen viel besser als mein Verstand.
Hi Amelie,
das kann ich gut nachvollziehen (mehr zum Thema für alle Interessierten hier: mymonk.de/was-soll-ich-mit-meinem-leben-anfangen/ ).
Ich denke, dass der Ansatz des Philosophens eben gerade bei vom Verstand gesetzten Zielen sehr hilfreich sein und uns einiges ersparen kann.
Liebe Grüße Tim
Ein sehr passender Text zu meiner derzeitigen Situation.
Doch mit Verlaub möchte ich anmerken, dass der „Frust“ nur ein vorübergehender Moment ist. Die Erfahrung, dass manches nicht so toll ist, wie wir uns es erträumt haben, ist eine Bewertung, eine Entscheidung, die wir treffen. Die Probleme, die ich in der Vergangenheit bewältigt habe haben dazu geführt, dass ich nun ein weitaus besseres Leben habe als vorher. Doch es geht weiter mit neuen Problemen, die wieder bessere Situationen schaffen. Die Illusion, dass das mal ein Ende hat, dass es einen Zustand ohne Probleme gibt, diese Illusion halte ich für die Ursache des Frustes. Eine Täuschung, die beim Erreichen unseres Zieles zur Ent-Täuschung führt.
Das einfachste für mich war, den Gedanken loszulassen, dass es einen Zustand des Friedens auf der Welt gibt. Diesen Zustand gibt es nur in meinem Kopf, und ich nehme mir die Zeit, ihn regelmäßig zu besuchen.
Die Vorstellung, man könne das, was kommt absehen, halte ich für eine Illusion, denn mit meinem Handeln verändere ich die Welt. Und so auch die Reaktion der Welt. Nach Heinz von Förster: Die Welt ist ein komplexes System, kein Triviales!
Das Be-denken finde ich gut. Ist es doch ein Zeichen, dass ich trotz Wollen noch auf der Erde stehe. Das Bewusstsein erweitert sich und wir sehen wieder etwas mehr als die luftige Illusion allein.
Trotzdem darf ich auch alles für möglich halten. So sich Intuition und Stimmigkeit zeigt, fehlt nur noch das Folgen im Tun. Wobei unser Geist auch manchen Frust zu kürzeren Schritten auf dem langen Weg einordnen kann.
Hallo Tim,
dein Beitrag hat mich sehr zum Nachdenken angeregt und ich bin nach wie vor der Meinung dass wenn du wirklich etwas erreichen willst und ein festes Ziel vor Augen hast kannst du das auch erreichen. Ich bin auch gerade dabei mir was eigenes aufzubauen und merke es ganz genau dass so einiges auf der Strecke bleibt. Aber glücklicherweise habe ich eine Familie die das versteht und einen Freund der mitzieht. Denn ich möchte später nicht auf mein Leben zurück blicken und bereuen dass ich es nicht versucht habe.
Den einzigsten Zweifel der manchmal kommt ist das ich zurück blicke und es bereue, was ich alles aufgegeben habe um mein Ziel zu erreichen und wie egoistisch ich war. Aber ich hoffe das ich für uns den richtigen Weg gehe.
Lg Lin
Toller Text, echt klasse.
Super geschrieben, informativ auflschussreich. Weiter so