Nicholas Valesquez hatte sein ganzes Leben lang hart gearbeitet. Dann war es soweit. Endlich. Der letzte Arbeitstag im Job an einer Tankstelle bei Dallas, Texas. Noch ein paar Sachen fertig machen, und dann Feierabend und ab ins neue Leben.
Leider kam es dazu nicht. Denn kurz vor Dienstschluss fuhr der ehemalige Finanzanalyst Douglas Feldman mit seinem Motorrad an der Tanke vorbei, holte im Fahren eine Knarre raus und erschoss Valesquez. Eine Dreiviertelstunde vorher hatte Feldman bereits einen LKW-Fahrer in seiner Kabine erschossen, ebenfalls während der Fahrt. Warum? Der Fahrer wollte ihn angeblich von der Fahrbahn drängen. Aber warum das zweite Opfer? Feldmans Antwort: „Ich war einfach immer noch wütend.“
Die Leute drehen durch, auch hierzulande, auf den Straßen, in den Büros und Supermärkten und Schwimmbädern und in ihren Wohnungen. Und wer nicht durchdreht, ist wahrscheinlich mindestens ziemlich angespannt über weite Strecken des Tages. Hektisch beschäftigt. Immer in Eile, oft besorgt, selten wirklich gechillt und gelassen.
Wo ist sie hin, unsere Ruhe? Und wie können wir sie uns zurückholen?
Die Wurzel unserer Unruhe
Epiktet, ein antiker Philosoph aus der Gruppe der Stoiker, beschäftigte sich sein Leben lang mit der Gemütsruhe. Er hatte auch viel Zeit dafür, schließlich hat er selbst kein einziges Werk verfasst. Immerhin hielt er Vorlesungen an einer Philosophenschule. Sein Schüler Arrian zeichnete sie auf, und so ist doch noch einiges von Epiktet erhalten geblieben.
Im „Buch vom geglückten Leben“ heißt es:
Einige Dinge sind in unserer Gewalt, andere nicht. In unserer Gewalt sind: Meinung, Begierde, Widerwille, kurz alles, was unser eigenes Werk ist. Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz alles, was nicht unser eigenes Werk ist.
Und die Dinge, die in unserer Gewalt stehen, sind von Natur frei; sie können weder verhindert noch in Fesseln geschlagen werden. Die Dinge aber, die nicht in unserer Gewalt stehen, sind schwach und völlig abhängig; sie können verhindert und entfremdet werden.
Die „freien Dinge“ sind also keinem äußeren Zwang unterworfen, sind unantastbar. Sie gehören ganz uns selbst.
Niemand kann uns zwingen, bestimmte Meinungen zu haben, auch nicht solche, die uns unglücklich machen. Niemand kann uns zwingen, etwas zu begehren und ihm hinterher zu rennen, das uns im Grunde nicht weiterhilft.
Unsere Unruhe kommt, so Epiktet, von einer gefährlichen Verwechslung:
Sofern Du Dinge, die von Natur völlig abhängig sind, für frei hältst und Fremdes für Eigentum ansiehst, so vergiss nicht, dass Du auf Hindernisse stoßen, in Trauer und Unruhe geraten und Götter und Menschen anklagen wirst.
Denn wenn Du etwas von dem begehrst, was nicht in unserer Gewalt ist, oder wenn Du Krankheit, Armut oder Tod vermeiden willst, so wirst Du unruhig und unglücklich werden.
So machen wir uns abhängig. Und Abhängige sind immer unruhig. Ein Junkie dreht durch ohne neuen Stoff. Er wird sich nie über längere Zeit zurücklehnen und die Geschehnisse ihren Lauf nehmen lassen können.
Im Außen kann eine Menge passieren, aber:
Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen über die Dinge beunruhigen die Menschen. So ist zum Beispiel der Tod nichts Schreckliches, sondern die Meinung über den Tod, dass er etwas Schreckliches sei, das ist das Schreckliche.
Unser Erleben ist eben aus Meinungen gemacht. „Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen sie so, wie wir sind“, heißt es im Talmud.
Wie wir stoische innere Ruhe finden können
Der Weg zur inneren Ruhe führt dem Stoiker nach über das Ende der Verwechslung und die Besinnung auf das Eigene:
Wenn Du nur das, was wirklich Dein ist, als Dein Eigentum betrachtest, das Fremde aber so, wie es ist, als Fremdes, so wird Dir niemand je Zwang antun, niemand wird Dich hindern, Du wirst keinen schelten, keinen anklagen, nichts wirst Du wider Willen tun, niemand Dich kränken, Du wirst keinen Feind haben, kurz Du wirst keinerlei Schaden leiden.
In uns selbst können wir also die innere Ruhe und Sicherheit finden, nach der wir uns sehnen.
Wie das geht:
Prüfe alles – vor allem das Unangenehme – nach den Regeln, die Du hast, und zwar besonders nach der, ob es etwas betrifft, das in unserer Gewalt ist oder etwas, das nicht in unserer Gewalt ist. Und wenn es etwas betrifft, das nicht in unserer Gewalt ist, so sprich nur jedes Mal zugleich: „Geht mich nichts an!“
Damit sagt er nicht, dass uns fast alles und jeder am Arsch vorbeigehen soll. Nur sollen wir uns nicht in Gedanken über Sachen und Begierden gegenüber Dingen verlieren, die außerhalb unserer Macht liegen. Stattdessen können wir sie immer wieder auf das richten, was wir kontrollieren können – unsere Gedanken, unsere Meinungen:
Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen oder beunruhigt oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen anderen anklagen, sondern uns selbst – oder vielmehr: unsere eigenen Meinungen. Es ist Sache des Unwissenden, andere wegen seines Missgeschicks anzuklagen (denn er hat erkannt, dass die äußeren Dinge an sich weder gut noch schlecht sind); Sache des Anfängers in der Weisheit, sich selbst anzuklagen; Sache des Weisen, weder einen anderen noch sich selbst anzuklagen.
Oder in den Worten von Seneca, einem weiteren Stoiker:
Es wäre dumm, sich über die Außenwelt zu ärgern. Sie kümmert sich nicht darum.
Es gehört heute noch mehr als damals zum Wahnsinn der Zeit, dass wir alles gleichzeitig wollen und dadurch am Ende gar nichts bekommen. Epiktet warnt vor solchen halben Sachen. Davor, dass wir den äußeren Erfolg und die innere Ruhe auf einmal anstreben, die Kuh gleichzeitig zu reiten, zu melken und zu essen versuchen.
Er empfiehlt, uns zu entscheiden, zumindest zweitweilig:
Wenn Du nun so Großes begehrst, so bedenke, dass Du nicht mit halben Eifer danach greifen, sondern einiges völlig verleugnen, anderes für jetzt aufschieben musst. Sofern Du aber sowohl innere Ruhe begehrst als auch herrschen und reich sein willst, so wirst Du letzteres nicht erlangen, gerade weil Du zugleich nach dem ersteren strebst. Gänzlich verfehlen wirst Du ebenso das, woraus allein Freiheit und Glückseligkeit entspringen.
Zwar strebt Epiktet damit ein Ideal an. Ich werde kaum von heute auf morgen mein ganzen weltlichen Wünsche, Hoffnungen und Ängste im Klo herunterspülen (nächstes Jahr ist ja wieder DSDS, vielleicht komm ich dann endlich in den Recall!). Trotzdem, in kleinen Schritten können wir dem Ideal näher kommen. Stück für Stück freier werden von dem, was jenseits unseres Einflusses geschieht oder nicht geschieht.
Außerdem ist seine Lehre weniger radikal und damit näher an unserem Alltagsleben als die von Buddha, die besagte, dass wir alles loslassen sollten, das vergänglich ist – also alles. Einschließlich unserer Meinungen.
Doch auch mit Meinungen können wir inneren Frieden finden, denke ich, wenn wir uns die aneignen, die hilfreich für uns sind. Dazu müssen wir uns mehr auf uns selbst besinnen als auf die stürmische See da draußen, die immer wieder hektisch Wellen schlagen und damit nie ein Ort der Ruhe für uns wird.
Siehe auch 9 Prinzipien für stoische innere Ruhe und Haben oder Sein – Was uns gefangen hält und was uns befreit sowie 13 Dinge, die mental starke Menschen nicht tun.
Photo: Franck Michel
Hallo Tim, ich danke Dir von Herzen für Deine Seiten…seit einem halben Jahr bin ich immer wieder da um
mir Anregungen zu holen. Es ist unglaublich…ich kann es gar nicht ausdrücken..
Ich versuche die Liebe und Kraft, die ich dadurch spüre, weiterzugeben..
DANKE.
Liebe Grüße
Simone
Hey Simone,
vielen lieben Dank für Dein großes Kompliment und Deine Wertschätzung!
Liebe Grüße und einen schönen Abend Dir
Tim
Ja klar ist das idealisiert. Ein jeder kann das zwar für sich auf seine Weise nutzen. Ganz praktisch lebe ich aber eben doch auch materiell und sollte wohl auch etwas verfolgen, das mich begeistert, ob ich darüber nun Macht habe oder nicht. Und wenn ich meine Meinung mit Emotionen belade, dann sehe ich auch nicht, dass mir das immer gut tut. Auf der anderen Seite ist auch fraglich, ob ich die Lehre von Buddha radikal sehen sollte. Schon die Tatsache, dass wir das Loslassen auch gelassen und angehen können, spricht dagegen. Loslassen bezieht sich aus meiner Sicht eher auf Emotionen und auf festgefahrenes oder illusionäres Denken. Im Grunde ist bei beiden Meistern alles erlaubt und kann mit Nachsicht gesehen werden. Nur, wenn ich zunehmend weniger bei bei mir selber bin, weil mich Emotionen vereinnahmen, ein Haben Wollen, oder Gefühle, die mich herunter ziehen, dann ist so ein Denken im anderen Extrem oft hilfreich, denke ich.
[…] Der stoische Philosoph Epiktet (55-135 n.Chr.) hat einen guten Rat dazu auf Lager: […]
Lieber Tim, die Artikel hier haben mir schon oft in schwierigen emotionalen und sozialen Situationen geholfen.
Und sie tun es noch.
Ein dickes vielfaches Danke an dich und die anderen Verfasser(innen)!
Mit ♡lichen Grüßen von Martina
Ich denke nicht, dass die Lehre von Buddha derart radikal gemeint war und auch Seneca kümmerte sich zuweilen um die Außenwelt, ohne sich dann für dumm zu halten. Auch die extreme Darstellung von Epiktet kann nicht derart absolut gemeint sein. Dies alles kommt nur absolut gemeint herüber, wenn einzelne Phrasen aus dem Kontext gezogen rezidiert werden.
Wir sollten zumindest heftiges Wollen abbauen auf unserem Weg. Also auch ein „radikales“ Loslassen nicht als sofortiges Gebot auffassen. Und auch ein Seneca hatte mit seiner Außenwelt zu tun und gelegentlicher Ärger war eben da, wenn er da war. Mit zunehmender Bewusstheit kann ich dem wohl aber generell die Bedeutung nehmen. Auch Epiktet war wohl klar, dass wir Meinung, Begierde und Widerwille nicht immer absolut in unserer Gewalt haben, wohl aber doch Einfluss auf Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, wenn auch nicht auf ewig. Es geht eher darum, dass wir uns vom Denken in Extremen (für das auch der Artikel ein Beispiel liefert) weg bewegen in Richtung Ausgeglichenheit. Die Phrasen wurden vielleicht so gesprochen, aber doch vielleicht mit der Absicht, durch Extrembilder mehr Bewusstheit und Aufmerksamkeit zu bewirken. Sie sollten nicht als absolut verstanden und rezidiert werden aus meiner Sicht.
In der Sprache unserer Zeit behandeln wir öfter das von Epiktet Angesprochene unter dem Begriff „dominierender Haben Modus“. Womit unsere oftmals dominierende Denkweise in mit fixierten Zielen, Übermotivation, Vermeidung und Flucht gemeint ist. Was dann mit Erwartungen und Vorstellungen, wie es sein soll oder sein wird, einhergeht. Auch mit Enttäuschung, Entmutigung und Mangel an Freude im Tun.
Der Sein Modus würde dem entgegenwirken und mehr Annehmen und Vertrauen bedeuten, wird aber offenbar in unserer Zeit weniger wichtig genommen. Wir wollen eher alles lösen, indem wir bekommen oder erreichen, was wir uns (schrittweise) mehr oder weniger fix in den Kopf setzen.