Unabhängig wollen wir uns fühlen. So lese ich etwas wie das Folgende immer öfter:
„Also ich bin ja sooo frei, ich brauche niemanden, ich kann mir alles selbst geben!“
Unabhängig sollen wir uns auch fühlen, ohne große Bindungen kann uns die Wirtschaft auf ganzen Welt rumschicken und verheizen, die Wirtschaft will uns einsam und leer machen, damit wir noch mehr Scheiße kaufen, unsere Verzweiflung in Konsum ertränken.
Aber: In Wahrheit sind wir nicht unabhängig. Nie.
Du bist nicht unabhängig und ich bin’s auch nicht. Nicht mal ansatzweise.
Lust auf ein kleines Experiment?
Hör auf zu atmen. Ernsthaft. Atme einfach ein paar Sekunden lang nicht. Schau, wie sich das anfühlt.
Schon mit dieser kleinen Übung spüren wir die tiefe Wahrheit, wie unheimlich abhängig wir sind. Unser Leben hängt ab von Sauerstoff, der Sauerstoff hängt ab von den Pflanzen, die ihn produzieren, wir sind abhängig von Pflanzen, ein paar Minuten ohne Luft, und wir sind hirntot. Auch von Nahrung und Wasser sind wir abhängig, wir verhungern oder verdursten sonst. Im Winter sind wir von Energie abhängig, die uns wärmt, oder wir erfrieren. Viele von uns brauchen Medizin, ohne die sie bald am Ende wären.
Das sind nur die Dinge, von denen unser körperliches Überleben abhängt. Für unseren Geist und unser Herz und unser Glück sind es zehntausende, hunderttausende weiterer Bedingungen.
Die Straßen, die Autos und Züge, die Schulen und Bibliotheken und Gesetze und Polizisten, die Müllabfuhr, die Kanalisationen, sonst wäre die Kacke aber wirklich am Dampfen, die Kommunikationsmittel, die finanziellen Mittel.
Und die Beziehungen – zu anderen Menschen, die uns helfen, umarmen, zuhören, Zeit schenken, mit uns ein kleines oder großes Stück der Strecke gehen, lachen und feiern und weinen, uns Liebe geben, uns versorgen, wenn wir es nicht oder nicht mehr können. Wir brauchen andere Menschen. Von der Geburt ganz zu schweigen, wie viele Dinge mussten dafür zusammenkommen, dass es uns gibt.
Der Glaube an die tolle, große „Unabhängigkeit“ ist nicht Heilung, sondern Krankheit.
Das können wir akzeptieren oder uns einreden, wie unabhängig wir doch seien, der Realität ist das egal. Aber für uns macht’s einen Unterschied, ob wir mit irrsinnigen Vorstellungen durchs Leben gehen oder nicht.
Ich sag’s, wie’s ist, und das ist nichts, wofür ich mich schämen müsste:
Ich bin Tim und ich bin abhängig.
Siehe auch Die große Lüge von der Selbstliebe.
Inspiriert von: wildmind.org, Photo: Dickson Phua
Hallo Tim,
ja, in diesem Sinne bin auch abhängig. Vor allem von anderen Menschen. Von meinen Freunden und meiner Familie, ohne die mir mein Leben ziemlich trostlos erscheinen würden. Aber wenn man von „Unabhängigkeit“ redet, ist ja viel mehr gemeint, dass man sich nicht zwanghaft an jemanden klammert, sondern auch wunderbar alleine sein kann und im Leben selbst für sich bestimmt, wo es langgeht.
LG – Anja
Schön gesagt Anja. Das sehe ich ähnlich.
Hallo Tim,
Sehr interessanter Gedanke. Und ja wir sind alle abhängig. Wir sind nämlich soziale Wesen! Von der Geburt an brauchen wir andere Menschen um zu wachsen und zu gedeihen. Und auch jetzt und hier brauchen wir sie. Wir Menschen funktionieren besser in Gemeinschaften. Unsere Stimmung ist besser wenn wir in Gessellschaft sind. (Klar ist Einsamkeit auch mal hilfreich). Es gibt Studien, die zeigen können, dass je größer dein soziales Netz, desto länger lebst Du.
Wir sind abhängig. Und ich umarme diese Abhängigkeit. Um frei zu sein von dieser Freiheitslüge 🙂
Alles Gute
Sandro
Und trotzdem fühle ich mich nicht abhängig. Eben im Kontext, in dem ich spreche. Wenn du das Lüge nennst, hast eher selbst du ein Problem, nicht ich. Es gibt auch keinen Anspruch, den Kontext erklärt zu bekommen. Natürlich würde ich ihn dir erklären, wenn du ihn nicht selbst erahnen würdest. Doch dies einzuschätzen ist wiederum meine Sache und nicht deine.
Sehr interessantes Thema ich denke ich werde darüber schreiben.
Ich glaube viele Menschen verwechseln Unabhängigkeit mit Unverbundenheit. Man kann sehr wohl frei und unabhängig sein und dabei viele Beziehungen zu anderen Menschen haben. Ja um wirklich frei zu sein, braucht man sogar solche, gute, Beziehungen. Problematisch ist es vor allem dann, wenn man sich selbst als ein Subjekt „an sich“ auffasst und dabei die wechselseitige Verknüpfung aller Menschen und Dinge unberücksichtigt lässt.
niemand ist eine Insel. In diesem Sinne bin ich auch abhängig 🙂 ich bin von meinen Freunden, meinen Bekannten und all den Menschen abhängig, die ich kennen lerne und mit denen ich schöne oder auch lehrreiche Momente erleben darf.
Ich bin abhängig von meinen Kindern, die viel nehmen aber auch viel geben, von all den Erfahrungen, Chancen und Prägungen die gut oder auch schlecht sein können. Ohne all das sind wir doch eine leere Hülle. Wie sollen wir wachsen und reifen, wenn wir keine sozialen Kontakte und damit verbunden auch Erfahrungen sammeln können?
Danke Tim, wieder mal ein Thema zum Nachdenken!
Grüße aus Wien!
Kathi
Ich benutze das Wort Unabhängigkeit eigentlich nicht, sondern benutze statt dessen eher Freiheit. Es ist viel schöner Freiheit mit anderen zu teilen als „unabhängig“ zu sein.
Liebe Grüße
Dario
Ich möchte gar nicht unabhängig sein. Ich glaube, ich wäre dann ziemlich einsam.
Wir leben miteinander und sind damit auch in der einen oder der anderen Form abhängig voneinander.
Das ist für mich nichts schlechtes. Gewisse Dinge brauchen wir einfach, um leben zu können. Gewisse Dinge können wir nicht ändern, nur akzeptieren und das beste daraus machen.
Ich persönlich versuche mir aber die Freiheit zu nehmen, Entscheidungen selber zu treffen. Selbstbestimmt zu sein. Das ist für mich Freiheit und macht mich bis zu dem Punkt unabhängig, als bis man einander einfach braucht und natürlich füreinander da ist. Oder etwas einfach nicht zu ändern ist.
Ich stimme Dario zu 100% zu.
LG Philippe
Lieber Tim,
liebe Alle,
danke für den Artikel und die nachvollziehbaren Kommentare. Zum einen glaube ich, ist es eine Definitionsfrage, was wir mit (Un-)Abhängigkeit meinen. Da gibt es wahrscheinlich unterschiedliche Sichtweisen. Geht es evtl. um Freiheit, entscheiden zu können, was mir und wenn möglich auch Anderen gut tut. Wenn ich atme, esse oder Verbundenheit zu anderen Menschen suche oder Erotik auslebe, dann sind das Dinge die ich brauche um ein erfülltes Leben zu führen. Davon bin ich bewusst und auch gerne abhängig.
Aber es gibt eben auch ungesunde Abhängigkeiten, wie Fixierung auf bestimmte Personen und deren Verhalten mir gegenüber, um mich glücklich zu fühlen, finanzielle Abhängigkeiten, welche dazu führen, das Du Dinge tust, die Dir und evtl. auch Anderen nicht gut tun. Und es gibt Abhängigkeiten aus Suchtverhalten, um eigene Defizite auszugleichen. Und das tut glaube ich keinem Mensch auf Dauer gut. Insofern mag die Wahrheit in diesem Artikel wie so oft in der Mitte zu liegen. Herzliche Grüße an Alle Mymonk Leser und an Tim.
Lieber Tim,
Wieder ein sehr interessanter Beitrag! Der körperlichen Abhängigkeit ist nur zuzustimmen. Was das Soziale angeht, muss ich an die Aussage des Soziologen Alfred Schütz denken: „Denn in der natürlichen Welteinstellung ist unser Sein von vornherein ein Sein mit anderen und solange Menschen von Müttern geboren und nicht in der Retorte hergestellt werden, wird die Erfahrung vom alter ego der Erfahrung vom eigenen Ich genetisch-konstitotionell vorausgehen“. Und da wir in diese biologische und soziale „Abhängigkeit“ hineingeboren und eingebettet werden, denke ich, dass es sich bei der Reifung des Menschen (ich denke hier an die „Unabhängigkeit“ von den Eltern) die Abhängigkeit zu anderen Menschen nicht abschalten lässt. Die Kommentare haben mich durchaus zum nachdenken angeregt, ob „Un-/Abhängigkeit“ vielleicht das falsche Wort zur Beschreibung dieser Thematik ist. Denn man kann durchaus biologisch (über-)leben, auch ohne soziale Kontakte, wobei es die Art der Lebensführung einschränken würde – also ist man da wohl nicht abhängig. Ich bin der Meinung, dass dieses Thema Ansichtssache und – je nach Definition – Diskussionsstoff ist. Aber, wie bereits erwähnt, ein sehr interessanter und eindringlicher Beitrag!
Liebe Grüße,
René Klampfer