Ob Dir die Welt oder das Leben nicht etwas schuldet, fragst Du, oder gehst vielleicht fest davon aus, so wie ich lange Zeit davon ausging. Nach all dem, was Du durchgemacht hast. Nach all den Jahren, in denen Du geschwitzt, geblutet und geweint hast, da sollte Dir doch nun Mal ein bisschen Glück zufließen.
Die Welt schuldet Dir …
Dir Welt schuldet Dir, wie jedem von uns, nur diese sechs Buchstaben (ich habe zweimal nachgezählt – sechs sollte stimmen):
N I C H T S.
Da können wir noch so sehr am Bierautomaten randalieren, weil’s trotz aller Plackerei im Beruf scheiße läuft und das Konto leer ist wie der Vergnügungspark in Tchernobyl, oder unser letzter Kuss trotz aller Fitnessstudio-Mitgliedschaften und getunter Profile in den Partnerbörsen ungefähr im Kindergartenalter gewesen sein muss.
Da können wir noch sehr still protestieren, wenn alle Bierautomaten besetzt oder wir einfach zu faul sind, ihn zu betätigen. Vorm Fernseher hängen oder im Internet, oder uns in Tagträumen verlieren, bis wir endlich entschädigt werden. Stunden totschlagen, Tage, Jahre, ein Leben, als wäre es nichts. Nur um am Ende enttäuscht einsehen zu müssen, wie viel Zeit wir verschwendet haben, indem wir glaubten, die Dinge müssten sich nach uns richten.
Glaubst auch Du, tief in Deinem Inneren, dass die Welt Dir was schuldig sei?
Ich denke, Mark Twain hatte sehr recht, als er sagte:
„Lauf nicht herum und sage, die Welt sei Dir was schuldig. Die Welt schuldet Dir garnichts. Sie war zuerst da.“
Eine neue Sichtweise
Du hast doch nicht darum gebeten, geboren zu werden, magst Du einwenden. Stimmt. Oder vielleicht auch nicht, vielleicht hat es Deine Seele so gewollt, wer weiß das schon.
So oder so:
Das zeitlich beschränkte Leben selbst ist das Geschenk.
Wie ich unter „Warum Dankbarkeit fast nie funktioniert“ schrieb, könntest Du dankbar sein für:
- Dein Leben – einfach nur dafür, am Leben zu sein
- Die Zeit, die Dir mit dem Leben geschenkt wurde
- Deine Gefühle und Gedanken
- Deine Fähigkeit, die Welt bewusst wahrzunehmen und Entscheidungen zu treffen (im Extremfall sogar darüber, ob Du weiterleben möchtest oder nicht)
- Die Menschen im Allgemeinen, die Dir einen Spiegel vorhalten und das beste Übungsfeld sind, um Dich weiterzuentwickeln
- Deine Ideen und dafür, dass Du sie in der Welt austesten kannst
- Deine Niederlagen und Siege – ohne das eine wäre das andere nichts
- Zurückliegende Erfahrungen und Erinnerungen, die Dir nicht mehr genommen werden können
- Die Natur, die Jahreszeiten und die Vielfalt der Lebewesen
- …
Ist das nicht eine ganze Menge, viel mehr als ein Mercedes und ein Strandhaus und aller Ruhm der Welt zusammen?
Neben all diesen Dingen, für die wir dankbar sein können, finde ich es sehr befreiend und bereichernd, dass die Welt uns nichts schuldet:
- So brauchen wir auch auf nichts warten. Niemand außer uns hat in der Hand, was wir tun, was wir erreichen, wohin wir gehen und mit wem wir unsere Zeit verbringen – zum Beispiel, um gemeinsam etwas Großes auf die Beine zu stellen.
- Unsere Erwartungen, dass das Leben so und so zu sein hat, lösen sich auf. Und damit auch ein Stück Leid, das entsteht, wenn solche Erwartungen enttäuscht werden.
- Unsere Anstrengungen tragen nicht mit Garantie Früchte, wir sind also von festen Ergebnissen befreit und dadurch angehalten, schon die Anstrengungen selbst zu genießen.
- Wenn unsere Mühen belohnt werden oder uns Zufallsglück zuteil wird (wir haben kein Recht drauf), oder uns ein Mensch respektiert und liebt (macht er aus freien Stücken) oder hilft (muss er nicht), dann können wir darüber umso erfreuter sein. Ist das Leben, die Welt gut zu uns, dann tut sie das aus freien Stücken – nichts davon ist selbstverständlich.
Schuldest Du der Welt etwas?
Wenn das Leben ein Geschenk ist, schulden wir der Welt erst mal nichts, und auch sonst niemandem.
Sonst wäre es kein Geschenk, sondern ein Vertrag, und ich kann mich nicht daran erinnern, damals als Spermium irgendwas unterschrieben zu haben.
Aber sind wir’s nicht uns selbst schuldig, das Geschenk auszukosten?
Was fängst Du mit diesem Geschenk an – kostet Du es aus oder trittst Du es mit Füßen, indem Du täglich acht Stunden in einem öden Job zu Staub wirst und auch am Feierabend kaum noch Spaß hast, weil Du lieber „Bauer sucht Frau“ (Spoiler: er findet keine) schaust und den hunderttausendsten Mord an einer Studentin in „CSI Darmstadt“ (Spoiler: es war der eifersüchtige Kommilitone)?
Das Leben auszukosten heißt für mich auch, das Beste zu geben, das mir möglich ist. Will ich etwas haben, – Freunde, Disziplin, Geld, Essen, Klamotten, Gesundheit, eine Wohnung, innere Ruhe – dann muss ich zuerst etwas dafür tun. Und vielleicht wird manches, was ich tue, so zum Geschenk für die Welt.
Was denkst Du darüber: schuldet uns die Welt etwas, oder andersrum?
P.S.: Wenn Du das Geschenk des Lebens noch etwas mehr auskosten möchtest, könnte Dir das hier helfen: 10 einfache Wege zu mehr Achtsamkeit und weniger Stress im Alltag.
Photo: Hartwig HKD
Schön geschrieben, Tim. Ich würde auch sagen, dass vieles auch gar nicht stimmig ist, was wir glauben zu wollen oder wollen sollten. Dann stehen wir uns selbst im Weg.
Und dann gibt es noch vieles, was uns im Weg steht, zum einen um überhaupt zu erkennen, was wir eigentlich wollen (was ja ziemlich tief vergraben sein kann). Zum anderen um uns als jemand zu identifizieren, der das hat und ganz natürlich in Besitz nimmt.
Besonders hart sehe ich die Glaubenssätze wirken, wonach der Preis hoch ist und erst genug Schweiß geflossen sein muss. Solange ich dies fühle, gehe ich wohl nicht leicht in Resonanz mit dem was ich glaube zu wollen. Die Welt hält alles bereit, hat aber keine Bringschuld, denke ich.
Hi Richard,
danke!
In diesem Fall weiß ich genau, was Du mit der Stimmigkeit meinst … mit dem Glauben, die Welt würde einem etwas schulden, rennt man einfach permanent gegen eine Wand. So kann es sich gar nicht „wie im Fluss“ anfühlen.
Eine andere Sache ist für mich (noch immer) die der Disziplin – da ist der Preis oft Schweiß und auch Verzicht auf die kurzfristig angenehmere Alternative, die sich vielleicht im Augenblick besser anfühlt („hach schön, einfach nur noch rumliegen!“).
Da beginnt die Holschuld des Menschen, und manchmal ist der Weg zum Ziel eben lang und manchmal auch äußerst steil.
LG
Tim
Auch eine Bergtour ist steil und mit Schweiß verbunden. Auch eine gewisse Disziplin brauchst du, um den Gipfel zu erreichen. Trotzdem sollte es sich nicht wie Unlust anfühlen, die du stundenlang verbissen überwindest. Freude, Zufriedenheit und Wertschätzung sollten die Begleiter und Antrieb sein, trotz Schweiß und einem steilen Weg.
Ich glaube, so langsam verstehe ich, was Du meinst. Danke, dass Du mich da noch nicht aufgegeben hast … ich weiß ja selbst, dass wir das Thema schon ziemlich oft hatten 🙂
Als Lektorin muss ich sagen – bitte nicht „garnichts“ schreiben, das ist ganz ganz falsch… (Eselsbrücke: „Gar nicht schreibt man gar nicht zusammen“). Ansonsten stimmt das so – die Welt schuldet einem NICHTS :-).
Hi Lektorin Daniela,
danke, das werd ich mir merken!
LG
Tim
Wenn uns die Welt nichts schuldet und wir der Welt nichts schulden, dann werden wir auch nicht gebraucht. Doch vielleicht gäbe gerade das uns (wieder) Sinn.
Zwischen all den Zeilen fürchte ich eine Haltung: „Du bist nur etwas wert, wenn du etwas leistest“. Ob die Welt uns etwas schuldet mal hin oder her – dass der Mensch qua Geburt wertvoll ist und Rechte hat, das war doch mal ein Ideal in dieser Welt. Wo ist es hin?
Hi Toc,
die Befürchtung, die Du hast, kann ich nicht sicher und vollständig ausräumen – manchmal gibt es in mir noch immer das Gefühl, etwas leisten zu müssen, um etwas wert zu sein … allerdings hab ich dieses Gefühl nicht wahrgenommen, als ich den Text schrieb.
Bei der anderen Sache bin ich bei Dir: natürlich hat der Mensch Wert und Rechte mit seiner Geburt.
Nur: die Rechte hat er anderen Menschen gegenüber (oder Staaten), nicht der Welt gegenüber.
Meinst Du nicht?
LG
Tim
Na das hängt vielleicht auch ein bisschen davon ab, was „die Welt“ ist. Intuitiv ist das doch meistens eher das, was wir eher „die Gesellschaft“ nennen würden. Eben die Menschen um uns im weiteren Sinne und halt nicht der Löwe in Afrika oder der rollende Stein in einem Gebirgsbach.
Sieht man die Welt als Universum, dann wird’s sowieso lustig, wir wissen ja nix über die Welt. So gesehen sind wir dann nur ein Furz im Weltall, ein Moment zwischen zwei Ewigkeiten (Spam: Album/EP mit verwandtem Titel ist in Arbeit)… das Einzige was uns vor dem Absturz in die Nichtigkeit bewahrt, sind andere Menschen.
Die Welt schuldet mir nichts – da gebe ich dir Recht.
Diese Einsicht nimmt von einer Sekunde auf die andere einen enormen Druck von mir- ich weiß nicht, warum. Vielleicht weil wir nichts erwarten dürfen, nichts voraussetzen dürfen, und uns dadurch alles ein bisschen mehr, ein bisschen besonders vorkommt?
Mal eine ganz unqualifizierte Frage zum Schluss: Wen muss ich fragen um die Rechte an der „CSI Darmstadt“ Idee zu erwerben? 😉 Habe großes Interesse an dem Konzept und würde als ersten Tatort die Biogasanlage in Darmstadt-Wixhausen vorschlagen (gibt’s wirklich!).
Hi Arizona,
die Biogas-Anlage in Darmstadt ist sicher ein Thema, das vielen Ortsansässigen schon lange stinkt. Ich denke, damit eroberst Du die Herzen.
Mit den Rechten kann ich Dir leider nicht weiterhelfen. Vielleicht könntest Du einfach mal bei der Polizei anrufen und nachfragen.
LG
Tim
Hi Tim,
„Wenn das Leben ein Geschenk ist, schulden wir der Welt erst mal nichts, und auch sonst niemandem.“ – da stimme ich dir voll und ganz zu
„Sonst wäre es kein Geschenk, sondern ein Vertrag, und ich kann mich nicht daran erinnern, damals als Spermium irgendwas unterschrieben zu haben.“ — hier musste ich stutzen – bist du nur aus einem Spermium entstanden? Vielleicht hat ja deine andere „Hälfte“ was unterschrieben ;D
LG und schönes Wochenende
Hi Birgit,
ha, guter Punkt, da muss ich gerade schmunzeln. Gefühlt entstehen Jungs für mich wohl aus Spermien und Mädchen aus Eizellen … Bio 5 aufm Zeugnis sag ich da nur! 🙂
LG
Tim
Dass die Welt mir nichts schuldet – ja, das ist schon ganz „in mir“ angekommen. Dass aber auch ich der Welt und anderen nichts schulde, ist etwas, das ich noch verinnerlichen muss und nur der Gedanke daran, diese Idee zu akzeptieren, fühlt sich wie ein Befreiungsschlag an. Danke für den Artikel!
Liebe Grüße,
Petra
Schön, Petra – Danke, das freut mich wirklich sehr!
Die Welt im Satz von Mark Twain ist wohl das was passiert, was ich als getrennt von mir wahrnehme. Je nach Weltsicht ist es etwas, das zufällig passiert, oder was passieren sollte, weil die Welt die Zufälle in einem gerechten Sinn verteilen sollte, jedenfalls ist es etwas, das unabhängig von meinem Beitrag passiert. Dass wir das so sehen liegt am Zustand der Menschheit. In unserem Bewusstsein sind wir meist getrennt und sehen nur das mess- und greifbare.
Doch ist eben in Wirklichkeit (z.B. feinstofflich) nichts getrennt, auch wenn unsere Wissenschaft dies nur sehr zögerlich als Denkmodelle annehmen kann. Und die Welt folgt einfach Gesetzen und reagiert auf Ursachen. Die Welt antwortet mir auf das, was ich aussende und auf das was ich mit meinen Gedanken schöpfe. Manchmal nennen wir dies dann Gerechtigkeit, manchmal Synchronizität, manchmal das Erhören von Gebeten, manchmal den Erfolg nach dem Schweiß.