Es folgt ein Gastbeitrag von Thomas Geus.
“Wo die Angst ist, da geht es lang.”
Günter Ammon (1918 – 1995), dem der Begründer der dynamischen Psychotherapie, wird dieser Satz zugeschrieben. Auf den ersten Blick keine „frohe“ Botschaft.
Aber was heißt das nun für mein Leben? Soll ich mich immer – natürlich mutig und tapfer – allem zuwenden, was mir Angst macht? Ich kann ja nun schon einige Lebensjahre mein Eigen nennen und bin auch schon einige Male durch die Angst gegangen – manchmal habe ich mich auch davor gedrückt.
Doch wenn ich „Geh´ dort hin, wo die Angst ist“ als inneren Kompass für mich annehme, wie kann dann die Richtungsbezeichnung der Pole lauten?
Ein gut verständliches kognitives Orientierungsmodell bildet aus meiner Sicht die Persönlichkeitstheorie des Psychoanalytikers Fritz Riemann (1902 – 1979), die umfassend in seinem Buch „Grundformen der Angst“ beschrieben ist.
Polarität ist ein Grundzug des Lebens. Es pulsiert zwischen gegensätzlichen Polen:
- Das Streben nach Nähe und das Streben nach Distanz
- Das Streben nach Dauer und das Streben nach Wechsel
Die vier Grundstrebungen, die für die meisten Menschen – in unterschiedlicher Intensität – mehr oder weniger zutreffen, stellen für Riemann charakteristische und prägende Entwicklungsherausforderungen (nämlich „Grundformen der Angst“) jedes Menschen dar, die jeder auf seine Weise bewältigt.
Das Streben/Bedürfnis nach menschlicher Nähe, Bindung und Zugehörigkeit
„Die Herausforderung, dass wir uns der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauend öffnen, uns einlassen sollen mit dem Nicht-Ich, dem Fremden … mit Hingabe an das Leben. Damit ist aber verbunden alle Angst, unser Ich zu verlieren, abhängig zu werden … Riskieren wir das nicht, bleiben wir isolierte Einzelwesen ohne Bindung, ohne Zugehörigkeit zu etwas über uns Hinausreichendem, letztlich ohne Geborgenheit …“ (S. 13/14)
Das Streben/Bedürfnis nach Distanz, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit
„Die Herausforderung, ein einmaliges Individuum zu werden, unser Eigensein bejahend und gegen andere abgrenzend … Damit ist aber alle Angst gegeben, die uns droht, wenn wir uns von anderen unterscheiden und dadurch aus der Geborgenheit des Dazugehörens und der Gemeinsamkeit herausfallen, was Einsamkeit und Isolierung bedeuten würde …“ (S. 13)
Das Streben/Bedürfnis nach Dauer, Sicherheit und Stabilität
„Die dritte Herausforderung ist, dass wir die Dauer anstreben sollen. Wir sollen uns auf dieser Welt gleichsam häuslich niederlassen und einrichten, als ob die Welt stabil wäre und die Zukunft voraussehbar … mit dem gleichzeitigen Wissen, dass unser Leben jeden Augenblick zu Ende sein kann … mit dieser Forderung sind alle Ängste gegeben, die mit dem Wissen um die Vergänglichkeit, um unsere Abhängigkeit und um die irrationale Unberechenbarkeit unseres Daseins zusammenhängen: Die Ängste vor dem Wagnis des Neuen, vor dem Planen des Ungewissen, davor, sich dem ewigen Fließen des Lebens zu überlassen, das nie stillsteht …“ (S. 14)
Das Streben/Bedürfnis nach Wechsel, Veränderung und Lebendigkeit
„Die vierte Herausforderung besteht darin, dass wir immer bereit sein sollen, uns zu wandeln, Veränderungen und Entwicklungen zu bejahen, Vertrautes aufzugeben, Traditionen und Gewohnheiten hinter uns zu lassen, uns immer wieder vom gerade Erreichten zu lösen und Abschied zu nehmen, alles nur als Durchgang zu erleben. Mit dieser Forderung … ist nun die Angst verbunden, durch Ordnungen, Notwendigkeiten, Regeln und Gesetze, durch den Sog der Vergangenheit und Gewohnheit festgelegt, festgehalten zu werden, eingeengt, begrenzt zu werden in unseren Möglichkeiten und unserem Freiheitsdrang … es droht hier … die Angst vor dem Tod als Erstarrung und Endgültigkeit …“ (S. 15)
In welche Richtung zeigt Deine Kompassnadel?
P.S.: Siehe auch Warte nicht, bis Deine Angst verschwunden ist
Text von und herzlichen Dank an: Thomas Geus … ist Diplomkaufmann und Geschäftsführer der mtt consulting network GmbH in München und arbeitet als Führungs- und Prozess-Trainer, Coach und Team-Entwickler.Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf den weichen Faktoren der Führung, in der Begleitung von Übergängen und der Entwicklung von kundenspezifischen Trainings-Konzepten. Ausgebildet in Transaktionsanalyse und Coaching. www.mtt.de |
Photo (oben): Sasha Laguna
Meine Kompassnadel zeigt in alle 4 Richtungen. Und ich behaupte, dass mein wahres Selbst damit nicht das geringste Problem hat, für das sind das auch keine Widersprüche, sondern Einheiten. Ein Problem damit hat, wenn, dann mein Verstand, dem Vieles gesagt worden ist, wo das wahre Selbst immer nur verständnislos den Kopf geschüttelt hat.
Ein 5-Sterne-Beitrag (es geht doch nur bis 5 Sterne, oder?). Vielen Dank. Es hilft mir, mich zu verstehen und macht mir gleichzeitig die Ängste bewusst, die mich immer begleiten.
Hallo Harald,
danke für die Sterne!
Thomas
Super Buch – super Inhalt. Kann ich nur bestätigen. Danke für die Erinnerung!
Das Thema Angst ist eh, in meinen Augen, ein sehr spannendes Thema, welches noch etwas vernachlässigt wird. Vorallem bei der Umsetzung, sprich: der Angstüberwindung.
Depressionen sollen aus Angst vor der Selbstwertung entstehen. Tippe bei mir eher auf fehlendes Selbstmitgefühl. Und das ist erlernbar. Bin morgen auf einer NLP-Party. Vielleicht später dazu mehr…..
In ,, Grundformen der Angst“ beschreibt Rieman klinische Bilder, also krankheitswertiges oder neudeutsch gestörtes. Ein fataler Fehler, sehr fatal dies als für die breite Masse, also die Norm, den gesunden Teil der Menschheit, Lebenslagenplaster zu verkaufen. Wo die Angst ist, da gehts lang!- gilt nicht!!! für gesunde Menschen. Für diese gilt, wo die Angst ist, da ist Vorsicht angesagt. Wo kommen wir den hin, wenn klinische Bilder derart verallgemeinert werden… der Autor hat einen guten Aufsatz geschrieben, aber bedauerlicherweise das Thema verfehlt. Vollumfanglich verfehlt.