Teile diesen Beitrag "Entspannen, um noch mehr leisten zu können? (Gastbeitrag von Joe Schäfer)"
Betrachten wir die Entwicklung der Industriegesellschaften westlicher Prägung innerhalb der letzten 30 Jahre, so ist neben einer deutlichen Zunahme des allgemeinen Wohlstandes eine gleichermaßen spürbare Zunahme seelischer Befindlichkeiten zu verzeichnen.
Offenbar hat Zeit der wissenschaftlichen Aufklärung den Menschen nicht nur körperlich schwere Arbeit und einige Ängste genommen, sondern gleichermaßen Stress, einen sehr lauten, hektischen Alltag und neue Sorgen ungeahnten Ausmaßes verschafft. Neben den Bequemlichkeiten und Verheißungen einer konsumorientierten Industriegesellschaft hinterließ diese Epoche nicht nur den Scherbenhaufen einer ruinierten Umwelt, sondern schuf gleichermaßen in Bezug auf die Sinngebung unserer Existenz eine gähnende Leere, in welcher das Individuum in einer nie zuvor da gewesenen Weise zu vereinsamen droht. Es scheint, dass wir uns in einer Phase befinden, in der unsere aristotelistisch-wissenschaftliche Denkweise, bezüglich konstruktiver und praktikabler Antworten auf die brennendsten Fragen einer gesellschaftlichen Orientierung außerhalb materiellen Wachstums und vielleicht gar einer zukünftigen Ethik für die postindustrielle Gesellschaft, mit ihrem Latein offenbar am Ende ist.
Noch in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts haben wir über die US-amerikanische Gesellschaft geschmunzelt, in welcher der Besuch beim Psychotherapeuten zur Tagesordnung gehörte und fragten uns in den Achtzigern, zuweilen noch etwas verschämt, ob sich unsere Gesellschaft „zu Tode feiere“.
Machen wir uns nichts vor: Die Erscheinungen aus Übersee haben uns längst eingeholt. Störungen wie Migräne, Verspannungen, Burnout-Syndrom, Depressionen, Hyperaktivität, um nur einige wenige zu nennen, sind zu Volkskrankheiten geworden. Insbesondere verursachen Depressionen und Burnout-Syndrom hohe Kosten in der Arbeitswelt und sind gerade wegen der damit verbundenen Ausfallzeiten zu einer erheblichen wirtschaftlichen Belastung geworden. Mysteriöse Krankheitsbilder mit nicht, oder nur sehr schwer qualifizierbaren Ursachen, deren Betroffene oftmals Monate wenn nicht Jahre lang von einem Spezialisten zum anderen reisen, sind keine Seltenheit mehr.
Was also soll der Mensch tun, der einen Ausweg aus einer solch abstrakt und unpersönlich gewordenen Lebenssituation sucht, der entweder in einer Tretmühle aus beruflicher Überforderung, Ignoranz und Bürokratie zusammen zu brechen droht, oder als eine Art „personifizierter Müll“ überflüssigen „Menschenmaterials“ auf der Halde unserer „Sozialstrukturen“ gestrandet ist?
Neben den ewig wiederholten Postulaten nach Rückkehr zu „tradierten Werten“, tauchen zunehmend eine ganze Reihe alter Riten, bzw. deren Rudimente in neuem Licht auf und finden begeisterten Zuspruch. Oftmals etablieren sie sich, zeitgemäß verpackt, in zum Teil unsäglicher Mischung, als spirituelles Fastfood im Supermarkt des „Endzeitflüchtlings“, der die „Instant-Lösung“ für sein seelisches Dilemma sucht.
Es nimmt also nicht wunder, dass ein zunehmendes öffentliches Interesse an so genannten „alternativen“ Heilmethoden zu verzeichnen ist. Die Einsicht, dass wesentlich mehr pathologische Erscheinungen auf psychosomatische Ursachen zurückzuführen sind, als dies über lange Zeit hinweg angenommen wurde, findet auch in konservativ orientierten Kreisen der Schulmedizin immer mehr Anhänger. Die Pharmaindustrie interessiert sich zunehmend öffentlich für die altehrwürdige Homöopathie, die jahrzehntelang ein belächeltes Schattendasein fristete, auch wenn sie zunächst in ihrer „Apothekenumschau“ deren Wirkung auf den „Placebo-Effekt“ zurückführte. Immer wieder finden sich Artikel über ganzheitliche Heilmethoden und seit den letzten Jahren widmet das Blatt solchen Themen mit„Natur“ sogar eine eigene Rubrik. Mediziner lassen sich in Techniken zur therapeutischen Anwendung von Hypnose ausbilden und setzen diese mit Erfolg ein. Die gesetzlichen Kassen akzeptieren die Akupunktur inzwischen bei spezifischen Krankheitsbildern als reguläre Heilmethode und Yoga, Tai-Chi oder Qigong werden von Ärzten als präventive Maßnahmen zunehmend empfohlen.
Der allgemeine Ruf nach Entspannung ist immer lauter geworden, Relax-Angebote verschiedenster Couleur erleben einen zunehmenden Boom. Die Angebote an Aktiv- Alternativ- Erlebnis- und Gesundheitsurlaub steigen wie deren Nachfrage ungebrochen. Freizeitoasen, Fitnesscenter, Erlebnisbäder und Wellness-Tempel sind wie die Pilze aus dem, Boden geschossen. Wir stopfen uns mit Vitaminen – gelegentlich auch Amphetaminen – zu (nach neuesten Erhebungen ist der Cocain-Konsum 2007 in Europa „deutlich gestiegen“ <Dlf am 22.11.07>), überall werden Programme und Rezepte angeboten um dauerhaft belastbarer, schön und fit zu bleiben …
… allein unsere Befindlichkeiten jedoch, sind geblieben.
Die Tatsache, dass seelische und körperliche Befindlichkeiten eben nicht voneinander zu trennen sind, sondern vielmehr ein Ganzes bilden ist dem Volksmund durchaus geläufig. So bereiten uns gewisse Entwicklungen in Europa immer wieder Kopfschmerzen, während uns das so plötzlich distanzierte Verhalten des alten Freundes eher Bauchschmerzen verursacht, dessen Frau in letzter Zeit so häufig von Migräne-Anfällen geplagt wird, und zwar immer dann, wenn sie mit ihrer depressiven Tochter telefoniert hat. Dieser wiederum gehen die Auseinandersetzungen mit ihrem Mann schon sehr lange an die Nieren. Letztlich kann sie ja verstehen, dass dem die ständigen Nörgeleien seines Chefs über die Leber laufen, so dass ihm schon allein dessen Anblick Sodbrennen bereitete, wenn er nicht ohnehin alles längst zum kotzen fände…
Angesichts solcher Befindlichkeiten folgen wir einem zunehmenden Trend und betreiben geradezu exzessiv „Entspannung“, mit dem Ziel, uns für einen völlig widernatürlichen Alltagsstress fit zu machen und diesen nicht nur zu überleben, sonder zunehmend und systematisch noch stressiger zu gestalten. Hierzu schreibt die schweizer Psychologin und Buchautorin Julia Onken in ihrem Buch „Herrin im eigenen Haus“ ganz richtig, dass Depressionen keineswegs pathologisch, sondern vielmehr die völlig normale Reaktion einer noch gesunden Seele auf eine unerträgliche Situation seien. Wie aber reagieren wir gewöhnlich auf solche „Störungen“ ?
Die depressive Tochter lässt sich Psychopharmaka verschreiben, besucht eine Selbsthilfegruppe, geht sich im Fitness-Studio ablenken und holt sich anschließend in einer Wellness-Einrichtung das notwendigste Minimum an persönlicher Zuwendung – und all das nur dafür, dass sie in einer dauerhaft grotesken, ja völlig unzumutbaren Alltagssituation weiterhin „normal tickt“… ?!
Wer ist hier eigentlich krank ? Werden an dieser Stelle nicht alle Ansätze einer tatsächlich hilfreichen Entspannung ad absurdum geführt? Es genügt eben nicht, die wechselnden Hilferufe unseres Körpers als Symptome einer Krankheiten zu bekämpfen, anstatt ihnen in ihrer ganzheitlichen Bedeutung nachzugehen. Wer aber mag schon heute tatsächlich einem Patienten oder gar dessen Arbeitgeber erklären, dass dessen „Hexenschuss“ lediglich ein vergleichsweise harmloser Hinweis des Körpers auf eine notwendige Ruhephase sei, die auf andere Weise vom „Inhaber der biologischen Einheit“ bisher leider nicht zu bekommen war und deshalb am besten einfach nur abgewartet und eine Zeit lang ertragen werden muss..
Vermutlich werden wir noch eine ganze Zeit brauchen, um uns von herkömmlichen mechanistischen Denkstrukturen zu lösen. Vielleicht wird es noch länger dauern, bis wir beginnen, die tatsächlichen Ursachen anscheinend körperlicher Symptome in unseren Alltagsmustern zu erkennen. Im Einzelfall jedoch lohnt es sich ganz bestimmt, einen Schritt aus dem täglichen Karussell zu wagen, tatsächlich zu entspannen – und sich die „unabdingbaren Notwendigkeiten“ unseres Alltags aus solcher Distanz einmal gelassen anzusehen.
Die Betrachtung der Wege fernöstlicher Philosophie zu solcher Gelassenheit und die Möglichkeiten der hierauf basierenden Anwendungen und Methoden würden den Rahmen dieses Aufsatzes bei weitem überschreiten und sollen daher an dieser Stelle zu einem anderen Zeitpunkt besprochen werden.
Text von: Joe Schäfer, www.chi-institut.com – herzlichen Dank!
Photo: Adrian Boliston
Und was soll man machen? Job kündigen, damit man Zeit und Ruhe hat? Wer nicht arbeitet hat auch kein Geld. Neben der Arbeit ist da ja auch noch der Haushalt und die Familie.
Mir ist der Sinn des Artikels schon bewusst… aber wo liegt die Lösung beim Einzelnen? Keine stressigen Jobs mehr annehmen, oder wie? Und welcher Job ist heute nicht stressig? Das ganze Leben ist einfach sehr dicht und anspruchsvoll geworden. Und wenn jeder nur seiner Erfüllung nachgeht, wer macht dann die lästigen und mühsamen Jobs, die aber auch in unserer Gesellschaft gebraucht werden?
Die Produktivität der modernern Industriegesellschaften ist hoch gut, dass THEORETISCH gesehen niemand Vollzeit arbeiten muss, um ein ausreichendes Einkommen für ein angenehmes Leben inkl. Hobbies etc. zu erzielen.
In der Praxis funktioniert das m.E. aus 3 Gründen nicht:
1. Es gibt eine Einkommensschere, die immer weiter auseinandergeht, das heisst, die Produktivitätsanstiege kommen nur bei denen an die viel verdienen und nicht bei den Geringverdienern wie z.B. dem Hermes-Paketboten
2. Gehört man zu denen, die ein hohes Einkommen erzielt, dass hoch genug ist, um auch bei Teilzeit ausreichend Geld zu verdienen, bestehr häufig nicht die Möglichkeit auf Teilzeit umzusteigen (je höher das Einkommen, desto schlechter sind in der Regel die Chancen)
3. Während der Status des einzelnen in der Elterngeneration vorallem über den Konsum/Eigentum („sich etwas aufbauen“ + Statussymbole, wie Auto) definiert wurde, wird er in der aktuellen (Akademiker-)Generation vorallem durch die Selbstverwirklichung im Beruf definiert („nicht nur Geld verdienen, sondern was cooles machen“)
Was tun, wenn man sich dem entziehen will?
Wenn man es hinbekommt: Selbstständigkeit a la Timothy Ferris („4 Stunden-Woche“).
Liebe Lisa,
an erster Stelle sollte man sich fragen, wofür man das Geld, das man sich in einem stressigen Job erarbeitet, überhaupt ausgibt.
Gerne nämlich für Dinge, die uns ebensowenig guttun, gerne für Dinge, die wir nur nutzen, um uns abzulenken von unserer Psyche, die uns gerne mitteilen würde, was schief läuft.
Es gilt, ein ganzheitliches Konzept der Nachhaltigkeit zu entwerfen. Wenn das jeder für sich täte, dann würden stressige Jobs bald an Arbeitskräftemangel zugrunde gehen. Wir müssen uns von dem Streben nach Geldwohlstand lösen und stattdessen Zeitwohlstand anstreben.
Schöne Bücher in diesen Zusammenhang sind: „Die erschöpfte Gesellschaft – warum Deutschland neu träumen muss“ und „Selbst denken – Anleitung zum Widerstand“.
Hallo Jan,
hm, wofür gebe ich mein stressig erarbeitet Geld aus? Miete, Bahnfahrkarte, Nahrungsmittel und Kleidung. Wenn dann noch ein paar Euros übrig sind dann ein gutes Buch, ein Schwimmbadbesuch, Museum etc. Nicht jeder stressige Job ist super gut bezahlt, ich würde sogar eher sagen viele stressige Jobs werden sehr schlecht bezahlt, z.B. als Paketfahrer bei einem Subunternehmen.
Ich stimme zu, Zeit sollte wertvoller sein als Geld – was was, wenn man schon am Existenzminimum herumkrebst und noch kleine Kinder hat? Dann hat man den Luxus nicht zu sagen: ich arbeite noch weniger. Vielleicht können reiche Manager das eher sagen – wobei ich aber da immer wieder höre, es gibt keine Teilzeitstellen.
Ja, im Privatleben kann man Hobby-Stress reduzieren, in dem man seine Hobbies streicht. Die kosten meisten auch Geld, das nicht da ist. Vielleicht wäre eher soetwas wie ein Grundeinkommen interessant – dann wäre es einigen möglich, zu leben wie man möchte und eben nicht nur von früh bis spät zu ackern, egal ob es Freude macht oder nicht, aber weil das Geld eben rein kommen muss. Ich wäre definitiv für weniger arbeiten und mehr leben.
Was, wenn man die Arbeit auf alle Menschen umlegen würde – alle Arbeitslosen wären weg und die Arbeitszeit der anderen wäre reduziert. Lästige Arbeiten könnte man stundenweise aufteilen. Aber was hilft es, das sind nur Ideen und der Alltag geht weiter, da interessiert sich niemand für persönliches Glück, für Berufung. Das Leben ist kein esoterischer Ponyhof sondern hart! Leider.
Die Ideen für ein bedingungsloses Grundeinkommen sind da, und rein rechnerisch würde sich das sogar leicht ausgehen, aber aus einem uns unbekannten Grund wollen die Altpolitiker nichts davon hören. Hoffentlich sind die Jungen, die nachkommen stark genug und lassen sich nicht unterkriegen, die Änderung wird kommen, nur halt vermutlich nicht mehr für uns.
Und es gibt Hobbys, die kein Geld kosten, zumindest hab ich für eine Wanderung noch nie Eintritt zahlen müssen, und den Kindern machts normal auch Spaß 🙂
Wenn man schon an der Arbeitssituation nichts ändern kann, dann wenigstens im Privaten. Ich hab meinen Freizeitstress gemindert einfach indem ich gelernt habe nein zu sagen. Das mag manchmal schwierig sein, weil es um Geburtstage oder Familienkram geht, aber da geht mein eigenes Wohl vor. Die wenige freie Zeit, die ich habe und nicht mit schlafen zubringe, möchte ich so gestalten wie es mir Spaß macht, selbst wenn ich bei 30 Grad und Sonnenschein sage, ach neee heut bleib ich auf der Couch, oder umgekehrt bei strömendem Regen und Nebel auf einen Berg klettere. Einfach so, weil ich es gerade so möchte…und dann klappts auch mit dem entspannt sein 🙂
Mal ehrlich, wie viel Stress macht uns der ständige Sturm der Gedanken im Kopf? Und wieviele der Gedanken führen nur zu Ängsten, aus denen heraus wir uns selber mehr Stress machen, als zuträglich ist? Momente der Entspannung, in denen Eingebungen und Impulse erscheinen können sehr effektiv sein. Und auch bei Routinearbeiten kann man sich dem Fluss hingeben … Ja, wenn nur nicht ständig der Denker in uns der Antreiber und Meister wäre.