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Von Werbung in die Unzufriedenheit getrieben. Vom Chef zu Höchstleistungen gepeitscht, in erfundenen Großraumbüro-Jobs, die nichts bedeuten, Zahlen und Wörter produzieren von früh bis spät. Vom Leben … nicht mehr so viel übrig, am Wochenende vielleicht mal in den Zoo und sich fragen, wer da eigentlich das ärmere Schwein ist, die sibirische Beutelratte in ihrem Käfig oder man selbst.

Ich hatte mal einen Bio-Lehrer, der uns statt auf die nächste Klausur lieber aufs Leben vorbereiten wollte (er flog später von der Schule wegen rechter Parolen, man hat ihn dann angeblich im Kaufland Dosenobst-Regale einräumen sehen). Sein liebster Ausspruch:

„Kannste nicht, haste nichts, biste nichts.“

Ist ja nichts Neues, wenn ich davon schreibe, dass genau diese Sicht aufs Leben die Welt krank macht, die Natur, die Gesellschaft, die Einzelnen. Immer mehr konsumieren, und dafür immer mehr leisten müssen treibt uns in den Wahnsinn. Es gibt aber ein Buch vom Sozialpsychologen Erich Fromm von 1976, das heute noch genauso interessant und wertvoll ist wie vor 40 Jahren, und daraus möchte ich heute ein bisschen zitieren: „Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“.

Haben und Sein – Die zwei Arten zu leben

Zwei Lebensweisen gibt es für Fromm:

„Mit den Begriffen Sein oder Haben meine ich zwei grundsätzliche Existenzweisen, zwei verschiedene Arten der Orientierung sich selbst und der Welt gegenüber, zwei verschiedene Arten der Charakterstruktur, deren jeweilige Dominanz die Totalität dessen bestimmt, was ein Mensch denkt, fühlt und handelt.

In der Existenzweise des Habens ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens, eine Beziehung, in der ich jedermann und alles, mich selbst eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will.

Bei der Existenzweise des Seins müssen wir zwei Formen des Seins unterscheiden. Die eine ist das Gegenteil von Haben. Sie bedeutet Lebendigkeit und authentische Beziehung zur Welt. Die andere Form des Seins ist das Gegenteil von Schein und meint die wahre Natur , die wahre Wirklichkeit einer Person im Gegensatz zu trügerischem Schein.“

Beim Haben geht’s um mehr als nur Materielles. Oder anders gesagt: ALLES wird zu Material, das wir erwerben und beherrschen wollen. Neben dem Benz auch „die Bitches“, und den Applaus anderer Leute. Wir wollen die Größten sein, die Könige sein, ein bisschen so, wie’s der Rapper Kollegah übertrieben (gut) ausdrückt:

„Jetzt ist der Straßenboss hier,
ey, wenn mir mal jemand meine Visage poliert,
dann an der Statue von mir.“

Auch das, was man nicht anfassen kann, wollen wir so in unsere Kontrolle bringen. Den geistigen Besitz. Aus Ideen werden Meinungen, also Mein-ungen. Etwas, das wir uns nicht so einfach wegnehmen lassen wollen durch so etwas Gefährliches wie Argumente:

„Beim Haben kennt jeder die Ansicht des anderen mehr oder weniger genau. Beide identifizieren sich mit ihrer Meinung. Es kommt ihnen darauf an, bessere, das heißt treffendere Argumente zur Verteidigung ihres eigenen Standpunktes vorzubringen. Keiner denkt daran, seine Meinung zu ändern, oder erwartet, dass der Gegner dies tut. Sie fürchten sich davor, von ihrer Meinung zu lassen, da diese zu ihren Besitztümern zählt, und ihre Aufgabe somit ihren Verlust darstellen würde.

Der Seins-Mensch kann sich voll auf den anderen und dessen Ideen einstellen. Er gebiert neue Ideen, weil er nichts festzuhalten trachtet. Er wirkt im Gespräch lebendig, weil er sich selbst nicht durch ängstliches Pochen auf das, was er hat, erstickt. Seine Lebendigkeit ist ansteckend, und der andere kann dadurch häufig seine Egozentrik überwinden. Die Unterhaltung hört auf, ein Austausch von Waren (Informationen, Wissen, Status) zu sein, und wird zu einem Dialog, bei dem es keine Rolle mehr spielt, wer Recht hat.“

Unterm Strich geht’s beim Haben ums Festhalten. Wir krallen uns an alles. Wir verleiben uns gewissermaßen ein, was wir konsumieren, werden abhängig davon, bis der Besitz uns besitzt. Droht der Verlust, sind wir anscheinend im Kern davon betroffen.

Denn:

„Wenn Haben die Basis meines Identitätsgefühls ist, weil „ich bin, was ich habe“, dann muss mein Wunsch zu haben zum Verlangen führen, viel, mehr, am meisten zu haben. Mit anderen Worten, Habgier ist die natürliche Folge der Habenorientierung. Was auch immer diese Gier entfacht – der Mensch, der von ihr befallen ist, wird nie genug haben, er wird niemals zufrieden sein.

Wenn (nun) jeder mehr (haben) möchte, muss jeder die aggressiven Absichten seines Nachbarn fürchten, ihm wegzunehmen, was er hat; um solchen Angriffen vorzubeugen, muss man selbst stärker und präventiv aggressiv werden. Da die Produktion, so groß sie auch sein mag, niemals mit unbegrenzten Wünschen Schritt halten kann, muss zwischen den Individuen im Kampf um den größten Anteil Konkurrenz und Antagonismus herrschen. Und selbst wenn ein Stadium absoluten Überflusses erreicht werden könnte, würde der Kampf weitergehen.“

Ein endloser Gewaltakt:

„In der Existenzweise des Habens findet der Mensch sein Glück in der Überlegenheit gegenüber anderen, in seinem Machtbewußtsein und in letzter Konsequenz in seiner Fähigkeit, zu erobern, zu rauben und zu töten. In der Existenzweise des Seins liegt es im Lieben, Teilen, Geben.“

Beim Sein lassen wir’s fließen. Wir genießen, was da ist. Und wenn es wieder weg ist? Auch gut, dann genießen wir eben das, was danach kommt und da ist. Wir können uns an den Dingen erfreuen, ohne sie „haben“ zu müssen. Sei es ein Auto, der Anblick von Natur oder Kunst, seien es Spiritualität oder Ideen, oder die Liebe eines Menschen. Das ist wahres Glück. So können wir ankommen.

Wenn das Sein doch die deutlich angenehmere Variante ist, unser Leben zu verbringen, warum sind wir dann so oft im Haben gefangen?

Große, kranke Kinder in großen Autos

Fromm bringt dazu Sigmund Freud ins Spiel:

„Worauf es ankommt ist Freuds Auffassung, dass das Vorherrschen der Besitzorientierung – bei Freud kennzeichnend für die Periode vor dem Erreichen der vollständigen Reife sei und als pathologisch angesehen werden müsse, wenn es im späteren Leben dominierend bleibt. Mit anderen Worten, für Freud ist der ausschließlich mit Haben und Besitz beschäftigte Mensch psychisch krank und neurotisch, daraus folgt, dass eine Gesellschaft, in der die anale Charakterstruktur überwiegt, krank zu nennen ist.“

Anale Charakterstruktur … kein Wunder also, dass uns die Jagd nach Besitz manchmal wie ziemliche Arschlöcher verhalten lässt.

Im Haben sind wir nicht erwachsen geworden. Klar, schließlich werden wir doch schon als Kinder in die gesellschaftlichen Zwänge gequetscht, müssen in der Schule, im Ballett, in der Mini-Miss-Wahl performen und lernen, dass „Erfolg“ angeblich bedeutet, Abschlüsse, Zeug, Wissen und Geld anzuhäufen.

Mehr „Sein“, weniger „Haben“

Glücklicherweise gibt es einen Ausweg, einen Weg vom Haben zum Sein.

Leben im Sein heißt für Fromm, dass die Menschen:

  1. Produzieren, was sie wirklich brauchen – nicht, was der Wirtschaft dient
  2. Die Natur nicht mehr ausbeuten, sondern mit ihr kooperieren
  3. Den Kampf gegeneinander durch Solidarität ersetzen
  4. Die wichtigsten Ziele der Gesellschaft immer im Auge behalten: menschliches Wohlsein und die Verringerung menschlichen Leids
  5. Statt maximalem Konsum vernünftigen Konsum wählen
  6. Am gemeinschaftlichen Leben aktiv teilnehmen

Bedeutet das, dass wir ab heute radikal umdenken, alles verkaufen, nein, Sorry, verschenken, und nur noch essen, was sich in unseren Fußnägeln verfängt?

Daran glaube ich weniger, an so einen globalen Big Bang. Ich glaube eher an die kleinen, täglichen Schritte, die jeder von uns in seinem Leben gehen kann.

Übrigens kann man auch als Seins-Mensch durchaus Dinge besitzen, nur haben sie dann keine identitätsstiftende Bedeutung mehr für uns, mit kompletter Entsagung wäre ebenfalls nichts gewonnen:

„Die Askese mit ihrem ständigen Kreisen um Verzicht und Entsagen ist möglicherweise nur die Kehrseite eines heftigen Verlangens nach Besitz und Konsum.“

Was können wir tun?

Zum Beispiel können wir im Alltag regelmäßig anhalten – gerade, wenn wir sehr gestresst sind – tief durchatmen und uns fragen:

In welchem Modus bin ich gerade unterwegs – Haben oder Sein?

Der Motor des „Habens“ ist schließlich die Gier, die uns wie in Trance ackern lässt bis zum Umfallen. Schon ein paar Körner Bewusstsein im Getriebe können die Maschine stoppen, zumindest vorrübergehend, und uns so Luft verschaffen und daran erinnern, was wirklich wichtig ist.

Wenn wir gerade mal wieder dem Haben auf den Leim gegangen sind, können wir uns erinnern an die Möwe aus der folgenden Geschichte eines mir unbekannten Autors:

Die Möwe Möchthild hatte sich einen prächtigen Fisch aus dem Meer geholt. Mit ihm im Schnabel hob sie sich in die Lüfte. Die anderen Möwen sahen sie und diesen Leckerbissen. Die Gier packte sie. So verfolgten die anderen Möwen Möchthild, wollten ihr den Fisch abjagen und griffen sie an. Wieder und wieder hackten sie mit ihren spitzen Schnäbeln auf die arme Möchthild ein, bis sie den Fisch einfach irgendwann losließ. Sämtliche Verfolger stürzten sich auf den herabfallenden Fisch und kämpften erbittert um die Beute. Möchthild hingegen stieg immer höher und ließ sich vom Wind tragen. Wie ruhig es doch plötzlich war, wie friedlich!

Guten Flug und bis zum nächsten Mal.

Siehe auch Die Vorteile von Minimalismus: 7 Gründe Dein Leben zu vereinfachen und Warum Du viel freier bist als Du glaubst.

Photo: Loresti