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Text von: Romy Hausmann

Genie und Wahnsinn, die alte Leier. Wer Kunst machen will, braucht Probleme. Eine geschmeidige Drogensucht wie Amy Winehouse. Ein ordentliches Alkoholproblem wie Stephen King. Eine bipolare Störung wie Ernest Hemingway. Oder wenigstens die Bereitschaft, auf ein Ohr zu verzichten, wie Vincent van Gogh. All das scheint schwer von Vorteil, wenn man etwas „Großes“ schaffen will.

Kreativität funktioniert nun mal nicht ohne Dämonen.

Künstler und Kreativ-Schaffende sind krank.

Heißt es. Liest man immer wieder. Scheint nachgewiesen, hundertmal.

Erst kürzlich ergab eine Studie des King’s College in London, dass Kreativität und psychische Probleme wie bipolare Störungen und Schizophrenie genetisch verwandt sind. Die Forscher fanden heraus: Je wahrscheinlicher eine Person schizophren wird oder eine bipolare Störung entwickelt, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass diese Person kreativ tätig ist.

Wenn ich so etwas höre oder lese, muss ich mich immer ein bisschen zusammenreißen, nicht gleich nach Symptomen zu googlen. Mich nicht sofort angesprochen – und vor allem krank – zu fühlen. Ich bin keine große Künstlerin. Aber ich gehöre zu denen, die kreativ tätig sind, jeden Tag.

Manchmal knipse ich mitten in der Nacht das Licht an, um nach einem Musen-Quickie einen spontanen Einfall in das kleine Buch zu notieren, das immer auf dem Nachttisch bereitliegt. Manchmal vergesse ich im „Flow“, wie man diesen Kreativitäts-Rausch gerne nennt, den Müll raus zu bringen oder die Wäsche zu machen. Ich vergesse zu essen, wenn mein Gehirn erst mal auf Hochtouren gekommen ist und meine Finger nur so fliegen über die Tastatur. Ich gehöre zu denen, über die man sagt „Sie (oder er) ist grade nicht ansprechbar. Ist in ihrer (seiner) eigenen Welt.“

Bin ich bereits krank?

Immerhin habe ich noch beide Ohren, trinke lieber Milch als Schnaps und habe in meinem Leben höchstens dreimal an einem Joint gezogen. Aber: Ich liebe meine eigene Welt und würde sie gegen nichts eintauschen. Ich bin gerne dort, so oft es geht. Es ist schön da und auch nicht gerade einsam. Viele von uns leben dort. Blogger und Autoren, Musiker, Maler, Bildhauer, Schauspieler. Leute, die von ihrer Kreativität leben, sie zum Beruf gemacht haben. Aber auch Leute, die einem ganz „normalen“ (eher unkreativen) Brot-Job nachgehen und diesen Raum, diese eigene Welt, als Ausgleich nutzen und regelrecht brauchen. Die sich nach zehn Stunden im Büro in die Garage verziehen, um an einem Song zu basteln. Die sich nach einer Nachtschicht in der Fabrik an den Rechner setzen, anstatt zu schlafen, um an ihrem Fantasy-Roman zu schreiben. Die – dürften sie das nicht – ihren Alltag kaum bezwingen könnten, weil er so furchtbar starr ist und an Regeln gebunden. Weil es diese Regeln, dieses feste, drückende Korsett in dieser schönen, anderen Welt nicht gibt. Weil dort Freiheit herrscht.

Gehören wir alle in Therapie?

Genau diese Sehnsucht nach Freiheit allerdings kann – angeblich – zu schwerwiegenden psychischen Störungen führen. Selbst wenn Du als Kreativ-Schaffende/r nicht mit Depressionen oder abgeschnittenem Ohr aufwarten kannst, leidest Du vielleicht wenigstens an „ODD“, „Oppositionellem Trotzverhalten“. In der neuen Auflage des „Diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen“ (kurz DSM-5), dem psychiatrischen Klassifikationssystem, das Psychiater in den USA und in Europa seit 1952 zur Diagnostik benutzen, wird die „ODD-Störung“ seit 2013 als offizielle Krankheit geführt.

Vereinfacht gesagt umfasst „ODD“ einiges – von der Verweigerung von Konformität und Regeltum (genau das, was das Ausleben von künstlerischem Schaffen oft ausmacht), über das ständige kritische Hinterfragen einer Politik bis hin zur kindlichen Trotzphase, wie wir sie bei Kindern im Alter von ca. drei bis sieben Jahren bisher für „normal“ gehalten haben. Wirft der kleine Klaus sich eben im Supermarkt mal auf den Gang und brüllt nach einem Ü-Ei – na und? „Trotzphase“, erklärt seine Mutter schulterzuckend den Umstehenden und alle nicken verständnisvoll.

Gehört jetzt also jeder kleine Klaus auf die psychiatrische Couch?

Sollten Künstler sich am besten nur noch in der Gestaltungs-Therapie unter Aufsicht austoben?

Und was ist mit denen, die für Liebe, Frieden und gegen unmenschliche Systeme mit Plakaten auf die Straße gehen und demonstrieren?

Ist das alles grundsätzlich krank und gehört gerechtfertigt in ein psychiatrisches Handbuch?

Kritik an DMS-5

Kritiker wie der pensionierte amerikanische Psychiater und Autor Allen Frances merken an, dass die Anzahl der im DSM-5 aufgeführten Krankheiten und Störungen mit jeder Neuauflage von anfangs 106 (DSM-1) bis heute auf 374 (DSM-5) angestiegen ist. Frances sagt: „Wir hatten schon bei DSM-4 eine diagnostische Inflation psychischer Krankheiten. Mit DSM-5 haben wir eine Hyper-Inflation. DSM-5 wird Millionen neuer Patienten schaffen, die man wahrscheinlich besser sich selbst überlassen würde.“

Laut Frances bestehe die Gefahr, dass aus jeder „Phase“ plötzlich eine ausgewachsene Krankheit gemacht wird. Zum Beispiel: „Nach nur zwei Wochen Interessenlosigkeit und fehlender Energie wird nach DSM-5 eine Depression diagnostiziert. Das sind aber alles typische Phänomene für Trauer. Solche Erfahrungen machen die meisten Leute irgendwann einmal. Ich machte sie, als meine Frau starb. Trauer ist eine absolut normale Ausdrucksform. Sie ist der Preis dafür, jemanden zu lieben. Wir dürfen Trauer nicht zu einem medizinischen Problem machen und dafür eine Pille verschreiben.“

Die University of Massachusetts Boston unterstützt die Kritiker mit einer Studie, in der sie herausfand, dass 69 Prozent der Autoren des DSM-5 Verbindungen zur Pharmaindustrie hatten. Genauer: Bei der Arbeitsgruppe zu affektiven Störungen waren es 83 Prozent und bei den Verantwortlichen für den Bereich Schlafstörungen volle 100 Prozent.

Du ahnst schon, in welche Richtung Kritiker wie Allen Frances da rudern: „Pharmakonzerne brauchen psychische Krankheiten als Mittel, um Pillen zu verkaufen, und sie erfinden Krankheiten. In den USA werden 80 Prozent der Medikamente von Hausärzten verschrieben. Der Grund dafür liegt darin, dass Ärzte von den Versicherungen nur bezahlt werden, wenn sie dem Patienten eine Diagnose stellen. Also stellen sie eine Diagnose und verschreiben Medikamente. Man vergisst dabei, dass man eine psychiatrische Diagnose gar nicht in sieben Minuten abgeben kann, und es zweitens als Patient sehr schwierig ist, eine psychiatrische Diagnose wieder loszuwerden.“

Von Künstlern, trotzigen Kindern und freien Denkern

In meiner Küche hängt ein Schild, ein Geschenk von einem lieben Menschen, der weiß, dass ich nicht ansprechbar bin, wenn ich „in meiner Welt“ bin. Darauf steht: „Ein bisschen verrückt ist völlig normal“. Immer wenn mein Blick darauf fällt, muss ich lächeln. Unsere Phasen, alle davon, die wilden kreativen, unsere Trotz-Phasen (oder die unserer Kinder), die Phasen, in denen wir uns gegen irgendwas oder irgendwen freistrampeln müssen, sind ein Ausdruck unserer tiefsten menschlichen Natur. Wir sind gut so wie wir sind. Wir müssen an unsere Grenzen geraten, im positiven wie im negativen Sinn, um wachsen zu können und unser größtes Meisterwerk zu schaffen: ein authentisches Selbst.

Wenn Du Hilfe brauchst, geh zu einem Arzt. Lass Dir helfen. Das rät auch Frances Allen mit allem Nachdruck. Und er sagt – trotz aller Kritik: „Medikamente können für viele Menschen hilfreich sein. Aber die Menschen müssen lernen, den Ärzten Fragen zu stellen. Die Leute sollten eine Diagnose nicht passiv akzeptieren. Sie sollten wissen, wieso ihnen diese Pillen verschrieben wurden.“

Mehr unter 5 Gründe, anders zu sein und unter Du kannst es nie allen recht machen (also pfeif drauf).

Photo: Young and special / Shutterstock